Ökumene aus der Mitte
Erfahrungen auf dem Weg
Nun, wie geht solches Wie? Wie sieht meine eigene Erfahrung damit aus? In der Gemeinschaft mit meinen Brüdern und Freunden spielt eine besondere Rolle das täglich gemeinsam gelebte Wort der Schrift. Dieses Wort ist uns eine Brücke, um unseren Alltag Schritt um Schritt in die Praxis des Himmelreiches hinüberzubuchstabieren und um die Botschaft des Himmelreiches in unseren Alltag hineinzubuchstabieren. Über diese Brücke wird eine tiefere, auch menschliche Nähe zueinander möglich. Das Amtliche, das Institutionelle, das Sakramentale gewinnt durchs gelebte Wort hindurch neue Unmittelbarkeit. Aus der Vitrine des Unberührbaren herausgeholt, zeigt es gerade, wie kostbar und unentbehrlich, aber auch wie „normal“ es ist. Durchs gelebte Wort hindurch bricht ein Verstehen auf zwischen unterschiedlichen Standpunkten, zeigen sich Verwandtschaften zwi- [5] schen unterschiedlichen Charismen und Berufungen – und nicht zuletzt gelingt das Zueinander über die Grenzen der eigenen Kirche hinweg. Wer sich im Wort Gottes begegnet, der bringt nicht Interessen und Positionen mit, sondern in sich selber ein Stück gelebtes Himmelreich.
Das Wort ist freilich keine neutrale Objektivität zwischen uns. Es ist die innere Dynamik dieses Wortes: wo wir es miteinander, wo wir es aufeinanderzu leben, zieht es uns hinein ins Neue Gebot, in die Logik des fleischgewordenen Wortes, das sich ganz sagt, indem es sich ganz gibt. Wer das Wort mit anderen lebt, der liebt die anderen, der lebt für die anderen. Und er wird nicht umhinkommen, sich selbst je für den anderen zu geben. Begegnung wird frei und offen, sie wird aber auch hart. Denn sie kostet jedesmal mich etwas, letztlich mich selbst.
Hier treten freilich auch die Unterschiede, die Spannungen, die Fragen wieder auf. Gerade sie werden, richtiger: gerade das Kreuz wird zum Ort, an dem Gemeinschaft sich ereignet, an dem Einheit sich bereitet, an dem das Wie sich bewährt. Daß wir auf Erden wie im Himmel leben dürfen, dies ist uns im Kreuz Christi geschenkt. An ihm hat ja auch der Sohn seine radikale Einheit mit dem Vater radikal gelebt.
Aber was heißt das: Kreuz als Ort, an dem das Wie sich bewährt, Kreuz als Stelle, an welcher Einheit geboren wird? Mir ist es oftmals widerfahren: Ich entdeckte, ich muß bereit sein, mich dem anderen auszuliefern, muß bereit sein, ihn anzunehmen, auch wenn ich ihn nicht und er mich nicht verstehen kann. Und das Nicht-Verstehen, die bleibende Fremde und Ferne wurden gerade zum Anlaß, den anderen in mir zu haben, ihn nicht wegzuschieben und abzuschieben, sondern seine Fragen, sein Anderssein mit mir gehen zu lassen, es auszutragen in mir, mich auszutragen in ihm. Zumindest eine tiefere Freundschaft, zuhöchst eine wahre Einheit war jedesmal die Frucht.
In seinem Wort, in seiner Liebe, unter seinem Kreuz sich begegnen: heißt das nicht, in seinem Namen versammelt sein? Wie von selbst ist bei meinem Versuch, das göttliche Wie mit anderen zu leben, das Wort Mt 18,20 in die Mitte gerückt – oder nicht eigentlich das Wort, sondern vielmehr der, den es verheißt. Die Frage in jeder Begegnung aus dem Glauben heißt von daher für mich: Kann Jesus selber da sein, kann er selber in unserer Mitte sein? Ein großer katholischer Kirchenlehrer, der heilige Bonaventura, ein Franziskaner der zweiten Generation, hat es so formuliert: „Wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind, da ist die Kirche.“ Ich bin erst kürzlich darauf gestoßen, daß das Wort Mt 18,20 bei den Kirchenvätern – in etwa auch bei den Ordensgründern – viel vitaler im Bewußtsein steht als in späteren Jahrhunderten der Kirchengeschichte. Gerade das II. Vatikanische Konzil und Papst Paul VI. haben in der katholischen Kirche dieses Wort wieder ans Licht gehoben. Genauer besehen, ist Mt 18,20 freilich keine isolierte Schriftstelle, sondern Stelle eines Durchbruchs, an welcher deutlich wird, was Thema, Voraussetzung und Lebensraum des ganzen Neuen Testamentes ist: der lebendige, der gegenwärtige, der in die Mitte der Glaubenden und Liebenden tretende Herr.
[6] Wie im Himmel so auf Erden: erreicht dies hier, in der Gegenwart des Herrn in unserer Mitte, nicht seine Spitze? Ist nicht das Endgültige im Vorläufigen schon da? Noch einmal: Das Vorläufige hört nicht auf, vorläufig zu sein. Es wäre Schwärmertum, die Klippen und Barrieren der Endlichkeit und der Schuld hinwegzuerklären. Aber es wäre Kleinglaube, es nicht wahrzuhaben: Der in unserer Mitte lebende Herr, er ist jetzt schon der Allmächtige, der den Weg von der Vorläufigkeit zur Endgültigkeit vermag und mit uns geht und Kirche auf diesem Weg zugleich behütet und verwandelt.