Unterscheidungen

Erfahrungen des Denkens mit Gott*

Um zu den allgemeinen Konturen unseres Gedankens zurückzukehren: Gott ist sich gebende Ursprünglichkeit des Unbedingten, und in dieser Gabe seiner selbst ist er die unbedingte Einheit und Gleichheit von Ursprung und Gestalt. Wenn so aber Gott als Gott nur dort aufgeht, wo er als sich gebend aufgeht, so ist davon auch die Weise bestimmt, wie allein Gott als Gott erkannt werden kann. Das Sich-Geben der Freiheit geht nur der Freiheit auf, die sich eröffnet, die annimmt, die antwortet. Nur jener, der sich der Gabe gibt, erkennt die Gabe und empfängt sie. Ansonsten gleitet die Gabe ab ins Mißverständnis, wird sie ein endliches Ding und nicht die Durchgabe des Ursprungs als eines solchen. Die Pre- [48] digt des Meisters Eckhart „Intravit Jesus in quoddam castellum"1 spricht von der Dankbarkeit, in welcher die Seele Gott seinen einzigen Sohn aus sich selbst zurückgibt. Hier ist ein grundlegendes Modell dafür gegeben, wie im Grunde immer und allein Gott als Gott aufgeht: indem er mein Gott, unser Gott ist, indem sein Sich-Geben die Freiheit meines Mich-Gebens, unseres Sich-Gebens entbindet, aus dem er als Gott verherrlicht wird.

Es ist so von erkenntnistheoretischer Stringenz, daß die Weise, wie Gott als Gott aufgeht, in einer anderen Grundweise der Erkenntnis angesiedelt ist als die Erkenntnis des zwingend Notwendigen oder auch des ästhetisch im Mitspielen zu Erschwingenden. Jeder Wahrheit entspricht die ihr eigene Weise der Bewährung. Die Wahrheit der sich gebenden Freiheit läßt sich nicht registrieren, sie läßt sich auch nicht in der Distanz des genießenden Anschauens verstehen, sie läßt sich nur von der Freiheit mittun. Darauf hat in seiner „Messianischen Erkenntnistheorie“ Franz Rosenzweig2, darauf hat, in anderer und doch verwandter Grundstellung des Denkens, auch bereits Pascal mit dem hingewiesen, was er über das Herz und über die drei Ordnungen sagte.3 Die Wahrheit Gottes ist so nicht in dem Sinn zwingend, wie logische Notwendigkeit zwingend ist. Und doch kann das Denken ihr nicht ausweichen und kann es andererseits sich durchaus Rechenschaft darüber geben, daß diese Wahrheit, gerade sie, ihm Wahrheit sei. Denn wenn auch das Sich-Geben der Freiheit nie ernötigt werden kann, so kann die Offenheit des Denkens zu allem, was sich zeigt, doch nicht daran vorbeigehen, daß es sich gebende Freiheit gibt. Wenn aber sich gebende Freiheit zu den Phänomenen gehört, die das Denken verfremdet, wenn es sie nur auf außer ihr liegende Bedingungen reduziert, dann ist soviel dem Denken deutlich: Unbedingtheit ist wahrhaft unbedingt nur und gerade als sich gebende Freiheit. Wie die „Reaktion“ der Existenz auf den Angang des Unbedingten gerade darin geschieht, daß sie als Freiheit sich von ihm engagieren läßt, so vermag sie auch zu erkennen: das, was sie unbedingt angeht und anfordert, ist eben unbedingt sich gebende Freiheit.

[49] Heißt das aber nicht, Gott sei als Gott nur durch Offenbarung seiner selbst zu erkennen, nicht aber der „natürlichen Vernunft“ zugänglich? Der erste Teil der Frage kann bejaht, der zweite muß korrigiert werden. Wenn Gott sich nicht gäbe, so wäre er nicht als Gott für den Menschen da. Es ist indessen eine „Möglichkeit“ göttlichen Sich-Gebens, bereits in der Gegebenheit des Denkens und in der Gegebenheit des Daseins sich der menschlichen Vernunft vernehmlich zu machen. Das Denken versuchte immer wieder vom Denken und von dem, was ist, aus zum Unbedingten vorzustoßen. Und wenn Thomas das in solchem Weg des Denkens erreichte Unbedingte mit dem gleichsetzt, was die Religion Gott nennt, so braucht das keineswegs ein ungerechtfertigter Überschritt in eine andere Dimension zu sein.

Werfen wir noch einen kurzen Blick auf die beiden Grundgestalten abendländischen Denkens, in denen sich vor allem der Versuch verdichtet hat, Gott durch das Denken als solches zu erreichen. Gemeint sind der sogenannte ontologische Gottesbeweis und die fünf Wege des Thomas, ohne daß hier freilich auf die immanenten Differenzen in der geschichtlichen Entwicklung des ontologischen Arguments oder auf die eigentümliche Differenzierung des Gedankens der „Kontingenz“ in den verschiedenen thomasischen Wegen eingegangen werden könnte. Die Kritik, die der ontologische Weg von Anfang an und die die thomasischen Wege zumal durch Kant und nicht zuletzt bei ihm dadurch gefunden haben, daß er sie auf das ontologische Argument zurückführte, soll ebenfalls nicht einzeln aufgearbeitet werden. Solche Kritik legt aber, mit Anlaß, den Finger darauf, daß das ontologische Argument in sich selbst einen Überschritt in eine andere Ordnung vornimmt: Vom Begriff des vollkommensten Seienden aus wird geschlossen, daß es zu diesem Begriff gehöre, daß das vollkommenste Wesen auch existiert, und daß es also existiere – das heißt aber ein im Gedanken mitgesetztes Existieren als Existenz außerhalb des bloßen Gedankens setzen. Dies ist die Problematik des ontologischen Beweisgangs. In den thomasischen Wegen oder, um es in verkürzender Allgemeinheit zu sagen, im Kontingenzbeweis wird von der Existenz des Bedingten, das als [50] solches sich nicht selber trägt, auf die Existenz des Unbedingten geschlossen. Somit aber, dies wird eingewandt, enthält der Gedanke seine eigene Voraussetzung in sich: der Begriff des Bedingten ist vom Unbedingten her konzipiert, wenigstens wenn Bedingtheit nicht als bloßer Verweis auf Bedingungen verstanden wird, die von derselben Art wie das Bedingte sind, somit aber nicht über die Kette des in dieser Weise Bedingten hinausführen. Demnach wären jedoch die klassischen Wege des Denkens zu Gott nicht nur ungeeignet, zur Göttlichkeit Gottes, sie wären auch ungeeignet, zur Wirklichkeit des Unbedingten als solchen zu führen.

Daß in der Tat Gottesbeweise sich so verstehen lassen, wie die Kritik sie verstanden und destruiert hat, muß gesehen werden. Es kann aber hinzugesehen werden, daß sie von ihrem Ursprung sich in solchem Verständnis nicht erschöpfen. Gerade dann aber führen sie weiter als bis zum Unbedingten, weiter als bis zu einem bloßen ungöttlichen „Gott der Philosophen“. Dieser wäre die oberste Bedingung der Sicherstellung der menschlichen Erkenntnis oder (bzw. und) der Existenz des vorfindlichen Seienden. Als solcher Garant, der eine Lücke sichern wollenden Denkens schließt, wäre freilich der „göttliche“ Gott verkannt, wäre Gott nicht einmal mehr rein jenes Unbedingte, auf welches das Sich-Fragen des Denkens je hinfragt und dem dieses Unbedingte je wieder entgeht, um es so wiederum neu in Gang zu bringen.

Wie aber könnten die klassischen Wege des Denkens anders als bloß von ihrer formalen Struktur her, wie könnten sie auf die Göttlichkeit Gottes zu in der Redlichkeit sich selbst durchsichtigen Denkens verstanden werden? Sie könnten es, indem ihr Ansatz als Ansatz bei der Unselbstverständlichkeit eines dem Denken Gegebenen aufgedeckt würde, in welchem sich nicht nur etwas und nicht nur das Denken dem Denken gibt, sondern eben: unbedingte Ursprünglichkeit.

Ein Grund, der im ontologischen Argument tragend anwesend ist, wird bei Bonaventura besonders deutlich. Sein oft variierter Gedanke läßt sich etwa auf folgende Formel verkürzen: Wer sagt, Gott ist nicht, der sagt, Gott ist, denn das Sein (das in solchem Sagen [51] doch bemüht wird) kann nicht nicht sein.4 Unnötig, hier auf das auszuschließende Mißverständnis einer Verwechslung formalen Seins mit dem unbedingten Sein einzugehen. Denken fragt nach dem, was ist, und als solches Fragen ist es Denken. In diesem Fragen nach dem, was ist, aber ist es gerade bei dem, was vorgibt, nicht nur gedacht zu sein. Davon ist es angegangen. Mehr noch, es ist angegangen von der Frage, ob das Denken nur Denken oder ob es Sein bei dem ist, was nicht nur Denken ist. Und dies wird ihm in solcher Frage deutlich: Wie immer es ist, ob es das Ist nur denkt oder ob das Ist das Denken übertrifft, es ist wie es ist! Damit aber entdeckt das Denken, daß es in der Tat über sich hinaus ist, es entdeckt sich in der Verantwortung und Maßgabe dessen, daß der Unterschied von Sein und Nichtsein ihm gewährt ist. In ihm kommt die Gewähr von Sein in seinem Unterschied von Nichtsein, die Gewähr der Identität des Seins mit sich, somit aber die Gewähr der Identität des Denkens mit sich in der Entsprechung zu seinem Anderen, dem Sein, bei ihm an. Diese Gewähr ist keine bloß formale Voraussetzung, wenn auch das Denken in seiner Formalität nur bis zu dieser formalen Voraussetzung gelangt. In ihr findet sich aber das Denken nicht nur „verurteilt“, eben Denken zu sein, formale Spiele zu vollführen; es findet sich begabt und beansprucht, der Gewähr des Unterschieds von Sein und Nichtsein denkend zu antworten, dies ist die vielbemühte „Redlichkeit“ des Denkens. Es ist, im Aufbruch aus sich selbst, sich gegeben, indem ihm die Gewähr des Unterschieds von Sein und Nicht gegeben ist. Auf der Gewähr dieses Unterschieds steht das Denken – und steht es gerade auch dann, wenn es an der Gewähr dieses Unterschieds „zweifelt"; denn auch solcher Zweifel rührt nur daher, daß das Denken sich gehalten findet, nur soviel zu denken als ihm – gewährt ist. Das ontologische Argument, in der genannten Formel des Bonaventura, aber auch in seiner Grundform bei Anselm,5 artikuliert, in formaler Verfremdung, diese Gegebenheit des Seins im Denken. Nicht das Argument, sondern das Denken selbst ist der ihm angelastete Überstieg in die andere Ordnung. Denken ist, sich selbst voraus und so gerade in seiner Ursprünglichkeit, Zeugnis des sich gebenden unbe- [52] dingten Ursprungs, der sich gebenden unbedingten Gewähr der Scheidung von Sein und Nicht.

Dasselbe ist freilich dem Denken auch gegeben, indem ihm etwas, was immer es sei, gegeben ist. Die Gegebenheit dessen, daß es das Denken mit dem, was ist, zu tun hat, ist Gegebenheit der Gewähr des Unterschieds von Sein und Nichtsein, jener Gewähr, die nicht ein Seiendes, aber auch keine Abstraktion von Seiendem, kein Allgemeinbegriff und erst recht kein nichtendes Nichts ist, sondern unbedingte, darin, daß etwas ist und Denken ist, anwesende, „wirkliche“ Gewähr. Daß solche Gewähr über die Ordnung des „Seienden“ und des „Denkbaren“ hinausführt, daß – vom zuvor ausgeführten Gedanken her artikuliert – die Nennung des Gebers von der Gabe her, des Unbedingten vom Bedingten, vom Sein, vom Denken her verfremdend und ungemäß ist, liegt auf der Hand. Ebenso aber liegt auf der Hand: die Kritik der Gottesbeweise, die fußt auf dem Versagen der in ihnen bemühten Begrifflichkeit beim Versuch, über die Ordnung hinauszugehen, der sie angemessen ist, vermag nichts gegen die Erfahrung des Denkens, für welche die „Beweisgänge“ nur notwendig verfremdende Wegzeichen setzen.

Man könnte die aufgedeckten Verhältnisse in etwa so charakterisieren: Es ist richtig, daß der „Kontingenzbeweis“ sich auf den ontologischen zurückführt; denn die Erfahrung des Denkens mit dem, was ist, führt sich zurück auf die Erfahrung des Denkens mit sich selbst. Da diese Erfahrung des Denkens mit sich selbst aber Erfahrung mit dem Sein und darin Erfahrung mit dem ist, was das Sein und seinen im Denken gelichteten Unterschied von Nichtsein gewährt, führt sich der ontologische Beweisgang nochmals zurück auf das Grundelement, das der Kontingenzbeweis aufnimmt: auf Gegebenheit. Nicht transzendentale Analyse, sondern der Umschlag dieser Analyse in die Gegebenheit des Denkens und darin der unbedingten Gewähr ans Denken ist Weg des Denkens über sich hinaus, Weg zum Unbedingten. Sich gebendes, in Anspruch nehmendes Unbedingtes – das aber gibt uns die Berechtigung, von Gott zu sprechen. Gott bleibt dem Denken freilich nur als Gott gegenwärtig, wenn es die Ursprünglichkeit solcher Gewähr nicht zum [53] Prinzip macht, das es als erstes Element in ein System einbaut, in welchem es, das Denken, von sich aus alles ableitet und vermag: Hier wäre Gott wiederum der bloße Philosophengott, der Gott im Rücken. Gott ist nur Gott als Gott des Antlitzes, als Gott, auf dessen Ruf und Gabe die sich lassende Zuwendung antwortet. Die Unterscheidung Gottes bleibt die Unterscheidung der Religion von den anderen Weisen menschlichen Verhältnisses zum Unbedingten; diese Unterscheidung spielt aber gleichwohl in der Offenheit auch menschlichen Gestaltens und philosophisch vermittelnden Denkens zur Religion und zum göttlichen Gott.


  1. Vgl. Meister Eckharts Predigten, hg. und übers. v. Josef Quint, 1. Bd., Predigt 2, Stuttgart 1958, 24-45. ↩︎

  2. Vgl. Rosenzweig, Franz: Das neue Denken, in: Kleinere Schriften, Berlin 1937, 394-396. ↩︎

  3. Vgl. Pascal, Blaise: Pensées, ed. Brunschvicg, bes. Frgm. 277-284, 793. ↩︎

  4. Vgl. bes. Bonaventura, Collationes in Hexaemeron, X, 11, und auch De mysterio Trinitatis, I, 1, 29. ↩︎

  5. Vgl. Anselm von Canterbury, Proslogion, cap. 2. ↩︎