Trinität und Zeit

Erlösung der Zeit

Es führte zu weit, in diesem knappen Abriß die Entsprechungen und Differenzen aufzuzeigen, welche zwischen dem am Phänomen erhobenen Bild von Zeit und dem Glaubensverständnis von Zeit als Unheils- und Heilszeit walten. Es muß genügen, einige Fingerzeige zu geben: Die Konkurrenzsituation, die Situation des Wettlaufs, des Vergleichs zwischen Gott und Mensch verdirbt die paradiesische Gleichzeitigkeit zwischen Gott und Mensch und zwischen Mensch und Mensch. Im Bruch wird Zeit als Verlaufszeit empfindlich, gewinnt sie dramatische Gestalt. Um es nochmals einzublenden: die Fabel von Igel und Hase ist eine spezifisch „nachparadiesische“ Erzählung!

In der Not der Zeit, in welcher der Mensch seine Ohnmacht gegen Gott und im Bruch des Verhältnisses mit Gott auch das des Verhältnisses zum Mitmenschen erfährt, bleibt Zeit nichtsdestoweniger als solche ein Hoffnungszeichen, das dem Menschen aufgerichtet wird. Das Zwischen der Verlaufszeit bringt nicht nur die Last des „immer wieder“ und des „noch“, vielmehr werden „immer wieder“ und „noch“ zur Chance von Bewährung, von Ausschau nach einem Rettenden und Auslangen nach einer Huld, welche die Vollstreckung des Gerichts aufhält. In diese Notgeschichte und nicht heile Geschichte kann immer neu der Bund einbrechen. Die Verheißung, der Weg des Vergehens wird zum gemeinsamen Wandern mit Gott, zur gemeinsamen Geschichte unter der Verheißung Gottes. Kennzeichnend, daß es immer neu und eigentlich an allen Stellen – ungeachtet aller einmaligen, personalen Anforderung, ja gerade in ihr – Geschichte des Mitseins ist, mitmenschliche Geschichte, in welcher die Geschichte mit Gott sich anbahnt und vollbringt. Zwischenzeit wird heilsgeschichtlich zur Wegzeit, zur Wegzeit miteinander und mit Gott – auf Gott hin.

[357] Ihr universales Maß, aber noch weit entscheidender: ihre universale Gleichzeitigkeit, erreicht diese Geschichte freilich im Kommen Jesu. Hier wird Herrschaft Gottes nicht nur angesagt, sondern hier reicht sie herein in die Zeitlichkeit und verwandelt sie von innen her. Zeit wird erfüllte Zeit (vgl. Mk 1,15; Gal 4,4). Und dies zuletzt und zutiefst nicht dadurch, daß die Verfassung der Zeitlichkeit, ihr Zerspanntsein in sich, ausgeschaltet oder Zeit in die Paradieseszeit zurückgedreht würde, sondern dadurch, daß derjenige, der Ursprung und Quelle der Zeit ist, sie selber mitlebt: Gott sendet seinen Sohn in die Zeit, in die Daseinsweise verfallender Zeitlichkeit („Fleisch“) und lebt in ihr die göttliche Gleichzeitigkeit der Liebe mit uns. Dies erreicht seine Spitze in der Paradoxie des Kreuzestodes, im Teilen der äußersten Ohnmacht unserer eigenen Zeitverfallenheit – und gerade hier bricht die radikale Verwandlung der Zeit doppelt durch: Tod wird Erlösungstod und er wird Weg zur Verherrlichung, zur österlichen doxa.

In der Menschwerdung des Sohnes wird nicht nur die Zeitstruktur unserer Verlaufs- und Verfallszeit von Gott in seinem Sohn „angeeignet“ und angenommen, sondern diese Aneignung und Annahme ist zugleich Übernahme aller menschlichen Schicksale, aller vom Menschen gelebten Zeit. Jesus kommuniziert unsere Zeit, macht sie in seiner Lebens- und Sterbenszeit gleichzeitig mit sich und sich gleichzeitig mit ihr. Dadurch entsteht für unsere Zeit eine neue Chance: wir können in unserer Zeit durch seinen Geist kommunizieren mit ihm, können sein Leben in unserem Leben mitleben. Wir sind hineingetauft in seinen Tod und seine Auferstehung, ausgerüstet mit seinem Geist, so daß wir mit ihm und in ihm zum Vater „Abba“ sagen können.

Den Geist empfangen, aus dem Geist leben, der Jesus zur gehorsamen und liebenden Hingabe im Auftrag des Vaters für die Welt treibt und der den hingegebenen Herrn verherrlicht, dies ist der Schlüssel für die neue Zeit der Erlösten, für die erlöste Zeit. Die Grundstruktur dieser erlösten Zeit heißt: nicht mehr aus dem Fleisch leben, sondern aus dem Geist (vgl. Röm 8,1–12). Aus dem Fleisch leben, das bedeutet: leben aus der Selbstbehauptung, leben aus dem Festhalten des Ich an sich selbst, aus der Konkurrenz zu Gott als dem einzigen Ursprung und Ziel. Gerade im Versuch solcher radikalen Autonomie geschieht indessen Selbstentfremdung, Verfall an die Vergehenszeit und ihre Übermacht. Aus dem Geist leben heißt: Herkunft und Zukunft nicht von sich her haben wollen, sondern mit Jesus vom Vater auf den Vater zu leben, sich aus der Hand gebend aber gerade die Freiheit des Sohnes gewinnen, den Mächten und Gewalten, die stärker sind als wir, entrinnen (vgl. Röm 8,12–17).

Wir können formulieren: Wer sich dem Geist öffnet, der hat nur noch [358] eine Herkunft, den Sohn, der alles, was gewesen ist und je gewesen sein wird, angenommen, liebend ausgelitten und in seinem Tod verwandelt hat. Es heißt weiter: nur eine Zukunft haben, den Vater, der den Sohn und in ihm uns annimmt und verherrlicht. Es heißt schließlich: nur eine Gegenwart haben, den Geist, der uns in das ewige Gespräch des Vaters und des Sohnes mit hineinnimmt. Dieser Geist aber läßt uns im Sohn auch die anderen, alle finden, für die der Sohn sich hingab, die Gegenwart wird zum universalen Zwischen, das uns freisetzt zur Gemeinschaft, freisetzt in die Welt. Unsere Herkunft der Sohn, das schließt in ihm freilich den Vater auf, der ihn sandte, und schließt den Geist ein, durch den der Sohn in uns lebt und wir in ihm leben. Die Zukunft der Vater, das schließt freilich den Sohn mit ein, der schon jetzt in der Herrlichkeit des Vaters lebt und ist, wie wir und was wir sein werden; und diese Zukunft des Vaters ist uns offen in jenem Geist, der über alle erfahrbare Gegenwart in uns hinausseufzt auf diese je größere Zukunft der alles Begreifen übersteigenden Herrlichkeit, welche der Sohn uns verleiht (vgl. Röm 8,18–30). Die Gegenwart der Geist, das heißt: alles ist im Geist uns gegenwärtig, weil der ganze, die Welt aus sich entlassende und in sich bergende Dialog des Vaters und des Sohnes im Geist gegenwärtig ist.

Tragen wir die durch den Geist geschehende Verwandlung unserer Zeit ein in den dreifachen Charakter der Zeit als Zwischenzeit. Wir sind nicht ausgenommen aus der Geschichte und damit aus der Zeit des Vergehens und Verfalls, aus der Erfahrung des Kreuzes (vgl. Röm 8,18–28). Aber das je vergehende Zwischen ist umfangen eben von der Herkunft aus dem Sohn, der alles schon durchlitten und so erlöst hat, und von der Zukunft im Vater, der seinen Sohn schon verherrlicht hat und der sich selbst im verherrlichten Antlitz seines Sohnes als der Kommende uns zukehrt. Die Dynamik, die Überraschung, Leiden und Leidenschaft der Vergehenszeit werden keineswegs verringert, aber in der Gegenwart des Geistes werden die Zeitekstasen zum Sakrament der die Zeit vollendenden Zuwendung des dreifaltigen Gottes.

Darin ist in der Zeit jenes Verhältnis gegenwärtig, das die Zeit als ganze kennzeichnet: Sie ist Liebesgabe Gottes an sein Geschöpf und im Geist durch Christus dargebrachte Opfergabe an den Vater, sie selber ist, als Werktag und Sonntag, als unser eigenes Leben „lebendiges und heiliges Opfer ..., das Gott gefällt“, „der wahre und angemessene Gottesdienst“ (Röm 12,1).

Schließlich ist die im neuen Jetzt des Geistes eröffnete Zeit Zwischenzeit zwischen uns. Juden und Griechen, Menschen, die von Herkunft, Kultur und religiöser Tradition getrennt sind, finden „im einen Geist Zugang zum Vater“ (Eph 2,18), werden ein Leib aus dem einen Geist.

[359] Der Herr, der für uns Mensch geworden und gestorben ist und der jetzt beim Vater lebt, wird gegenwärtig in unserer Mitte und vermittelt uns in eine neue, brüderliche Gegenwart zueinander (vgl. Mt 18,20).

Die neue Zeit, die der Geist erschließt, ist indessen nicht Getto, in welchem wir vor der „Weltzeit draußen“ uns schützen könnten. Wir sind hineingehalten mitten in die Schmerzen des Vergehens, in die Gemeinschaft mit dem Todesschicksal Jesu, in das Seufzen und Stöhnen der Kreatur auf ihre Vollendung hin. Doch solche Erfahrung des „Noch nicht“ steht nicht im Gegensatz zur anderen des „Jetzt“. Beides gehört zusammen, steigert sich. Das in der Hoffnung erfahrene Jetzt hat den Charakter der Verheißung, der Leidenschaft auf das je größere und nie einzuholende Maß der uns noch verborgenen Herrlichkeit. Dies erhöht die Spannung, vertieft das Leiden und Mitleiden, aber tröstet und verwandelt es zugleich. Die neue, trinitarisch geprägte Gegenwart verschärft und vertieft die Zeitlichkeit unserer Zeit, indem sie diese hineinhebt in die communio mit dem Leben Gottes, mit seiner Ewigkeit.