Glauben – wie geht das?
Erschließung der Eschatologie: drei Grunderfahrungen
Als wir für die Botschaft von der anbrechenden Gottesherrschaft einen Hintergrund in unserer eigenen Erfahrung suchten, kamen wir auf unser Verhältnis zur Zeit zu sprechen. Wir nahmen Zeit einfach so, wie wir sie im Rhythmus unseres Lebens vorfinden. Wir fragten jedoch nicht nach den Voraussetzungen, weshalb wir Zeit so und nicht anders erleben. Vom Gesamt der christlichen Botschaft her müssen wir sagen: Menschliche Zeiterfahrung ist Erfahrung aufgrund des konkreten heilsgeschichtlichen Zustandes des Men- [192] schen, ist Erfahrung des gefallenen Menschen mit seiner noch unerlösten Zeit, zumindest mit seiner Zeit, deren Erlösung noch nicht offenbar und vollendet ist.
Um die Letzten Dinge und ihre Bedeutung für unseren Weg des Glaubens zu verstehen, kehren wir nochmals in diese Zeiterfahrung zurück. Wir versuchen zum einen, unsere Zeiterfahrung als die Selbsterfahrung des gefallenen Menschen zu interpretieren; wir blicken zum anderen auf die schärfste Zuspitzung unserer Endlichkeitserfahrung: auf die Todeserfahrung. Sodann bemühen wir uns, die spezifisch christliche Perspektive zu gewinnen: Verwandlung unserer Erfahrung durch Jesus Christus und den Glauben an ihn.
Die Zeit des gefallenen Menschen
Es sind zwei „harmlos“ erscheinende Feststellungen: Die Zeit geht immer weiter, kennt keinen Halt – die Zeit geht nur tropfenweise weiter, wir haben nicht in der Hand, daß sie weitergeht und müssen sie Augenblick für Augenblick entgegennehmen. Beide Feststellungen hängen unmittelbar mit der Verfassung unseres endlichen Daseins zusammen. Wir haben unser Dasein uns nicht selber gegeben, es geht aus einem anderen Ursprung als nur aus uns her weiter. Wir können uns keinen Augenblick selber geben, sondern sind auf jene Quelle der Zukunft angewiesen, die nicht wir selber sind.
An den genannten Tatbeständen hängt aber eine eigentümliche menschliche Not: die Not des Streß und die Not der Angst. Daß es immer weitergeht, wir nie rasten, nie aussteigen können, sondern unseren Vorrat an Zeit ständig verbrauchen und verringern, zugleich keine „Konsumverweigerung“ der Zeit vermögen, daß wir für jeden Augenblick uns zur Verantwortung gerufen wissen, weil an jedem Augenblick für uns hängt, wie es weitergeht: dies ist die eine Belastung unserer Zeitsituation – der Streß. Und die andere: daß wir eben nie wissen können, wie es weitergeht und ob es weitergeht, daß alle Sicherungen und Planungen Rechnungen sind, die ohne den großen Wirt aller Zeit gemacht werden – die Angst.
In „glücklichen“ Augenblicken vergessen wir beides. Die Zeit [193] vergeht wie im Fluge und scheint zugleich stehenzubleiben. Es scheint ein Verweilen in der Zeit zu geben, das sich nicht ums Nachher zu kümmern braucht und das dieses Nachher nicht unter Druck zu leisten braucht. Doch sobald der Gedanke an die Endlichkeit solchen Glückes einbricht, sobald die Möglichkeit am Horizont erscheint, es könne auch anders werden, kehrt die genannte Not wieder: Wir müssen mitschwimmen und weiterschwimmen in einem Strom, dessen Quelle wir nicht regulieren können, sind drinnen in einem Gefälle und in einer Schnelligkeit, die über uns kommen und uns mitreißen – wir können nur leben von den Tropfen, die aus einer Quelle uns zurinnen, aus der nie mehr als je dieser eine Tropfen uns sicher ist. Warum gibt sie nicht mehr auf einmal? Wird sie und wielange wird sie dieses „Einmal“ uns überhaupt geben?
Diese „Zeitnot“ des Menschen hat mit seinem Verhältnis zur Quelle aller Zeit, zu Gott, zu tun; damit daß es dem Menschen zur Last, geworden ist, der Zweite und nicht der Erste zu sein, damit, daß er nicht jenes unmittelbare und ungebrochene Vertrauen zu Gott hat. Sicher, der Mensch kann auch unabhängig vom Glauben an Jesus Christus geschöpfliche Bescheidung üben, er kann demütig es annehmen, daß er nur der Zweite ist. Er kann sich ergeben und vertrauen, daß das, was als Geschick über ihn kommt, nicht Unrecht ist, das ihm angetan wird, ja daß dahinter eine fügende und sinnverleihende Hand waltet. Aber gibt es nicht so etwas wie eine negative Vorentscheidung, in welcher der Mensch innesteht und der er eine solche positive Haltung je erst abringen muß? Eine negative Vorentscheidung, die nicht er in einem persönlichen Handeln getroffen hat, sondern die sein persönliches Geschick umspannt? Ist er nicht hineingeboren in die Angst vor dem Weitermüssen und in die andere, daß es einmal nicht mehr weitergeht? Deutet nicht manches, vielleicht Verborgenes und doch Wichtiges darauf hin, daß so etwas wie ein Bruch durch die menschliche Zeit und ihre Geschichte hindurchscheint? Zittert nicht doch ein von unserer Freiheit nicht einfach wegzuarbeitendes Nein des Menschen zu seiner Gottbildlichkeit nach? Ein Nein, in dem der Mensch sich davor zurückzog, aufs Du des lebendigen Gottes und aufs Du des Nächsten hin sein [194] eignes Ich und seine Erfüllung zu suchen? Wirkt nicht jenes mißverstandene „Seinwollen wie Gott“ in dem nach, was uns nunmehr in Streß und Angst der Zeit hineintreibt?
Unsere endliche Freiheit ist doppeldeutig. Wir können ihre Endlichkeit anerkennen und uns gerade dadurch über sie erheben zu unserer Gottebenbildlichkeit. So können wir die „Unerträglichkeit“ menschlichen Daseins zumindest abfangen, können uns sozusagen verbünden mit dem, was wir von unserem Ursprung her sind. Oder aber wir können ein Nein sagen zu dieser unserer Endlichkeit, ein Nein zu jener Gottbildlichkeit, die uns prägt, im vermeintlichen, mißverstandenen Seinwollen wie Gott. Hier steigert sich die Unerträglichkeit des Daseins.
Der Prozeß der Entscheidung ist nie abgeschlossen, sie muß je neu getroffen werden, vom Christen wie vom Nichtchristen. Wenn wir aber hineinschauen in die Geschichte insgesamt, in die Weise, wie der Mensch sich vorfindet in seiner Zeit, dann vermeinen wir eine Übermacht, zumindest einen Überhang des negativen Vorentscheides wahrzunehmen. Dem steht freilich eine andere Übermacht entgegen. Die Zeit, die in ihrem unaufhaltsamen und doch nur je augenblicksweisen Weitergehen uns bedrängt, ist und bleibt nicht nur der Rhythmus des Vergehens, sondern auch der Rhythmus einer elementaren Hoffnung. Nicht wir können diese Hoffnung einlösen, aber es gibt so etwas wie den Vorblick auf das, was uns hoffen heißt. In der Zeitlichkeit unserer Zeit, so wie wir sie erfahren, scheinen Gericht und Gnade – in einem vorläufigen, noch recht allgemeinen Sinn – sich gegenseitig zu durchdringen.
In der Sprache und nach der Auskunft christlichen Glaubens: Der Mensch ist ein gefallener Mensch, und der Sündenfall des Anfangs wirkt nach, indem die Menschheit je unter dem Gesetz der Erbsünde bleibt. Dieses Gesetz der Erbsünde ist zwar in Jesus Christus überwunden, aber nicht einfachhin außer Kraft gesetzt. Sofern der Mensch nur vom Menschen kommt und stammt, sofern er nur aus der inneren Kraft der Geschichte heraus in sie hineinwächst, steht er unter dem Gesetz der Erbsünde. Allein der neue Anfang, das Geborenwerden von oben, die Umkehrung in jenen neuen Beginn, den [195] Gott in seiner Herrschaft und Gnade schenkt, entreißt ihn diesem Gesetz.
Und so bleibt der Mensch eben auch seiner Endlichkeit als einer realen Macht verhaftet. Er erfährt seine eigene Unfähigkeit, dem Weitergehen der Zeit zu entkommen. Auch wer sich selbst abschneidet vom Weitergang der Zeit, wer sich die Zukunft selber nimmt, wer sich das Leben nimmt, entrinnt nicht der Zukunft, er tut den entscheidenden Schritt des Weiter ja gerade doch. Er erfährt zugleich seine Ohnmacht, sich selbst die Zukunft zu geben, ja des Weitergehens der Zukunft überhaupt gewiß zu sein. Auch der Glaubende, auch der in der Taufe von oben Geborene bleibt in dieser Geschichte des Vergehens, in diesem Leben zum Tode hin. Sicher, das neue Leben wirkt in ihm, er lebt aus dem Leben Gottes – er lebt aus ihm aber sein sterbliches und sterbendes Leben. Und wie er, mit jedem anderen zusammen, die Annahme seiner Zeitlichkeit jeden Augenblick noch einmal vollbringen muß, so auch seinen Glauben, so auch sein Ja zum neuen Anfang von oben. Heil und Glaube sind nichts „Automatisches“, sie sind der immer neue Anspruch an unsere Freiheit. Die Hilfe: Wir haben diesen Anspruch zu erfüllen in der je bleibenden Gemeinschaft des uns nahen Herrn, der sich für uns entschieden hat.
Doch mit der Endlichkeit und dem Zuende-Gehen ist auch jenes Andere bleibend verbunden: Solange die Zeit nicht zuende ist, ist es nicht aus, und solange es nicht aus ist, greift die Zeit aus nach dem, der sie dem Ende entreißt, der sie gewährt und der ihr den Sabbat, die Ruhe gewähren kann, die nicht Stillstand, sondern Erfüllung ist. Als zeitliche Wesen, genauer als Wesen dieser Zeit unserer Vergänglichkeit und unseres Vergehens sind wir erlösungsbedürftige, aber auch erlösungsfähige Wesen.
Die Vorgabe des Falles, die Vorgabe der Zuversicht, die Herausforderung zur je neuen Entscheidung, Erlösungsfähigkeit und Erlösungsbedürftigkeit – dies umschreibt das Feld, in dem wir die Botschaft von den Letzten Dingen vernehmen und verstehen.
Vielleicht kann ein etwas drastisches Bild uns das Eigentümliche der Zeit des gefallenen Menschen vor Augen stellen. Auch im Para- [196] dies blieb der Mensch ein Wesen, das sich die Vollendung nicht geben, sondern sie nur von Gott empfangen konnte. Der auf sich selbst zurückgedrehte Mensch, der in sich selbst verliebte Mensch, der Mensch, welcher der Versuchung der endlichen Freiheit zur Selbstherrlichkeit erlegen ist, hatte Gott, das erfüllende Gegenüber, das Ziel und Woraufzu seines Lebens als „Stopschild“, als „rote Ampel“ mißverstanden. Der Drang und die Leidenschaft seines Ausgriffs, seines Lebenwollens, seines Sich-vollendenwollens wollten weiter. Er stellte sich die Ampel selbst auf grün, er überfuhr die rote Ampel. Und nun, in der durch seinen Fall verursachten anderen Zeit, in der nicht mehr paradiesischen Zeit, hat er die Folgen zu tragen. Alle Ampeln stehen ihm auf grün, er „kann“ immer weiter, aber er kann nie anhalten: der Streß des Weitermüssens.
Er muß immer weiter, aber er sieht nicht weiter. Er ist auf sich selbst gestellt. Im Weitermüssen, in der Unaufhaltsamkeit seines Mitmüssens mit dem Gang der Zeit ist er zugleich bedroht von der Angst, daß die Straße unversehens vor ihm abbricht, daß es nicht weitergeht. Er muß weitergehen – aber es muß nicht weitergehen: die gegenseitige Steigerung von Streß und Angst. Nur die umgekehrte, die erfüllte, die neue Zeit, die geschenkte Zeit der Gottesherrschaft, die Zeit des Gottes, der all seine Zeit dem Menschen schenkt und ihn lehrt, ihn befähigt, sich selbst und seine Zeit zu schenken: nur sie kann ihm Erlösung bringen.
Grunderfahrung des Todes
Nirgendwo spitzt sich die Erfahrung von Vergänglichkeit und Vergehen mehr zu als angesichts des Todes. Im Tod ist es handgreiflich, daß aus der Endlichkeit für den Menschen Ende wird. Es gibt für ihn „Letzte Dinge“. Schauen wir in dreifacher Perspektive auf die Grunderfahrung des Todes.
a) Tod von innen: Erschöpfung, Auslaufen. – Zunächst sehen wir: Der Tod kommt immer von innen. Der Mensch hat nur einen begrenzten Vorrat ihm übergebener Daseins- und Lebensmöglichkeiten. Diese erschöpfen sich, laufen aus. Sie sind einfach so, [197] daß es einmal nicht weitergeht. Dies ist auch dann der Fall, wenn der Mensch gewaltsam, durch Einwirkung von außen, stirbt. Er stirbt nur deswegen, weil sein Organismus, weil sein Leben, weil seine Selbstregeneration nicht weiterlaufen, zum Stillstand kommen. Die Einwirkung von außen, die seinen Tod hervorruft, bringt darin den inneren Lebensprozeß zu Ende. Er, der bislang je weiterging und sich erneuerte, hört nun auf. Der Mensch ist sterblich, das heißt: er, seine Kraft, seine Lebensmöglichkeiten sind auf Dauer schwächer und geringer als das, was sie in Anspruch nimmt, was auf sie zukommt. Der Mensch vermag nicht von sich, von innen, von dem her, was er an Kräften in sich trägt oder sich assimiliert, eine Zukunft ohne Grenze und Ende. Sein Leben ist, aus der inneren Dynamik, aus der es nie ausrinnen kann, die Spannung aufs je Mehr und je Weiter, aber nicht die Kraft zum je Mehr und je Weiter; der wollende, fragende Ausgriff des Lebens geht weiter als seine innere Kraft.
Was könnte diese innere Not, was könnte dieses Mißverhältnis wenden? Nur die Kraft des göttlichen Ursprungs, die sich dem Menschen mitteilt, nur Gottes Leben im sterblichen Leben des Menschen.
b) Tod von außen: Übermächtigung. – Mit demselben Recht, mit dem wir sagten, daß der Tod je von innen kommt, müssen wir aber auch das andere sagen: Der Tod kommt je von außen. Immer ist er Abbruch, immer ist er Schnitt, auch dann, wenn er durch den allmählich sich dem Ende zuneigenden Prozeß des Lebens vorbereitet und greifbar nahegerückt ist. Sterben ist nicht ein Immer-schwächerwerden, nicht ein Immer-kränkerwerden. Er ist der Sprung vom Noch zum Nicht. Dieses Nicht ist der Abbruch, ist der Stoß, der das Leben trifft, der den Menschen trifft, der stirbt. Insofern liegt der Tod nicht in der Linie des Lebens, sondern er durchkreuzt sie. Sicher wirkt dieser Tod voraus, nicht nur in der Angst und Sorge des Menschen, sondern in jenen Bedrohungen, Abschieden und „Abbrüchen“, die das ganze Leben durchziehen. Aber ist nicht doch ein qualitativer Sprung zwischen den vielen Toden, die wir im Vorhinein sterben, und jenem einen Tod, der einmal und für immer [198] kommt? Daß man den Tod personifiziert hat, daß man ihn den Schnitter Tod genannt hat, das hat man im Ernst wohl immer als bloße Allegorie verstanden. Aber solche Allegorie verkörpert doch die Wucht der zerstörerischen, einbrechenden, fremden, von außen allgewaltig wirkenden Macht des Todes.
c) Tod als Trennung. – Eine weitere elementare Dimension des Todes: er bedeutet Trennung. Dies im doppelten Sinn. Einmal trennt er mich unmittelbar aus meiner Welt heraus. Er ist Abschied. Ich kann meine Bindungen und Verbindungen im Tod nicht mitnehmen, und meine Bindungen und Verbindungen können mich aus dem Tod nicht herausnehmen. Der Tod ist nur einmal. Aber auch ich bin nur einmal. Und ich bin ganz in diesem Einmal. Es ist der Ernstfall schlechthin, daß ich sterben muß, mit allem, was zu mir gehört, in diesen Tod eintreten muß.
Aber da ist auch noch jene andere Seite: Tod ist Trennung, die durch mein Innerstes hindurchfährt. Sagen wir es so klassisch und altmodisch: er ist Trennung von Seele und Leib. Lange war das die leitende Aussage über den Tod. Man hat sie in letzter Zeit oft als Verharmlosung verstanden. Nur Trennung? Kann ich den Tod vernachlässigen, weil mein „besseres Selbst“ ja doch unzerstörbar ist? Bin ich nicht ganz und elementar, einfach durch die Tatsache des Todes, in Frage gestellt? Eine Trennung von Seele und Leib, die uns dazu berechtigte, den Tod nicht „ganz so schlimm“ zu betrachten, wäre in der Tat ein Mißverständnis der unendlichen Wucht des Sterbens. Aber es könnte ja auch das Gegenteil der Fall sein. Es könnte ja auch der Fall sein, daß ein Sterben, in welchem der Aspekt der Trennung sehr ernstgenommen wird, ein noch ernsteres Sterben wäre.
Erinnern wir uns an jenes schlaue Gedankenspiel des Epikur, das nicht sticht: Der Tod ist gar nicht; denn wenn ich bin, ist der Tod nicht, und wenn der Tod ist, bin ich nicht, also ist der Tod nicht. Solange ich lebe, ist der Tod nicht da – warum mich also aufregen seinetwegen? Und wenn er da ist, dann bin ich ja nicht mehr da – warum dann noch mich aufregen, wenn ich es überhaupt nicht mehr kann?
[199] Eines jedenfalls ist klar: Wenn der Mensch im Tod nicht nur verschwindet, wenn im Tod so etwas wie Trennung von Leib und Seele geschieht, dann ist die Nichtigkeit dieses Gedankenspiels nachgerade gefährlich. Sicher, dies ist kein Beweis für die Unsterblichkeit der Seele. Der innerste Grund, weshalb die angeführte antike Denkfigur nur eine verschleierte Ausflucht ist, liegt auf der Hand: Der Mensch als Wesen, das weitersieht, das aufs Ganze sieht, hat mit seiner Angst und Hoffnung, mit seiner Verantwortung und seinem Interesse schon je über den Tod hinausgesehen – und gerade deswegen trifft ihn der Tod, trifft er ihn total. Der Mensch ist Wesen, das aufs Ganze schaut und das deswegen von seinem Ende ganz betroffen ist.
Doch weil der Mensch das Wesen des Ganzen ist, weil er schon je über alle seine Grenzen hinaus gegangen ist, ist etwas in ihm, macht ihn etwas zu ihm selbst, was größer ist als sein Ende. Er ist größer als er selbst – und dieses Größersein wird in ihm zur endlichen, konkreten Gestalt. Er ist die Spannung zwischen unendlicher Größe, sagen wir es ruhig: zwischen Unendlichkeit und Endlichkeit. Und um dessentwillen ist er nicht weniger, sondern mehr endlich; denn er allein ermißt unter den Wesen dieser Welt seine Endlichkeit. In diese Spannung hinein, die der Mensch ist, aber trifft trennend der Tod. Im Ende, welches die Gestaltwerdung, das Werk, den Raum, den „Leib“ des Menschen vernichtet, bleibt gerade dieses: die Verantwortung des Menschen für seine Gestalt, für sein Leben, für das, was in seinem Leib zur Gestalt geworden ist. Unsterblichkeit der Seele heißt nicht, daß der Mensch dem Kerker des Leibes entrinnen und in die Sphäre des besseren Selbst entschweben könnte, sondern daß er als der total Getroffene und Betroffene in seinem Sterben stehenbleibt, im Gegenüber stehenbleibt zu dem, der ihm Sinn und Leben und Menschsein gegeben hat. Der Tod wird so zum absoluten Ernstfall jener Zeitlichkeit, die wir angeschaut haben: weiter müssen, nicht weiter können. Darin aber ist er zugleich verantwortliches und doch hoffendes Angewiesensein auf den, der die Quelle des Lebens und der Zukunft ist.
Tod als Trennung von Seele und Leib, das ist Marke für das noch [200] schwerere Gewicht des Todes. In ihm kommt eine ganze Verantwortlichkeit auf mich zu, eine Verantwortlichkeit fürs Ganze. Tod als Trennung von Seele und Leib, das ist Marke aber auch der Hoffnung, die zugleich mit meiner Verantwortung über den Tod hinausgreift, die hinlangt zu dem entzogenen Anderen.
Allerdings wird auch ein anderes deutlich: Unsterblichkeit der Seele, auch wenn sie erlöst wird in ein Mitleben mit Gott, ist noch nicht die Erlösung des ganzen Menschen. Auferweckung des ganzen Menschen, Auferstehung des Fleisches gehört dazu. Dort, wo ich ganz Welt werde, dort wo ich ganz Übersetzung bin in diesen Stoff, dort wo in dieser Welt ich selbst Gestalt werde und durch mich das Unendliche Gestalt wird, dort erst, in meinem Leib bin ich ganz zu mir eingeholt. Und so wäre eine bloß individuelle Unsterblichkeit der Seele aufgrund meines individuellen Todes nicht jene ganze Erlösung, auf die ich angelegt bin – selbst wenn mir in meiner persönlichen Gottesschau nichts fehlt und ich die Fülle dessen, was erfüllt, genieße. Das Erfüllende wäre da, aber ich, der zu Erfüllende wäre nicht ganz da, wäre nicht als jener da, als der ich jetzt lebe, als der ich jetzt geschaffen und gerufen bin.
So also geht der Tod: Der Tod ist die Erschöpfung der eigenen Kraft – der Tod ist das Fremde, das in mich einbricht und mich mir nimmt – der Tod ist der Stoß, der mich in meiner Mitte trifft und mich in meiner Mitte trennt. Der Tod ist der absolute Ernstfall meiner Endlichkeit. Und dies gerade, weil er der absolute Ernstfall meiner Unendlichkeit ist. Meine Freiheit greift aus nach dem Unendlichen, meine Verantwortung ist unendlich. Aber ich erfahre, daß meine Kraft und mein Vermögen nur endlich sind, ich erfahre, daß ich ausgeliefert bin an das, was stärker ist als ich, ich erfahre, daß ich nicht aus mir selber ganz und in mir selber eins mit mir bin. Doch derselbe unendliche Ausgriff meiner Freiheit, der mich erst dazu befähigt, meine Endlichkeit zu ermessen und an meinem Ende unendlich zu leiden, ist auch das Organ meiner Hoffnung, die über das Ende hinaus fragt, ohne über das Ende hinaus aus sich selbst etwas zu vermögen.
Die Frage über mein Ende hinaus bleibt doppelte Angst: Angst [201] einmal deshalb, weil ich jenseits des Todes überhaupt nichts mehr, nicht einmal mehr diesen einen Augenblick, der mir je gegeben ist, selber vermag. Angst zum anderen deshalb, weil im Tod die Verantwortung meiner Freiheit für sich selbst, die unendliche Verantwortung für mein endliches Dasein nicht ausgelöscht, sondern wie in einem Brennpunkt zusammengefaßt ist. Wenn ich über meinen Tod hinausschaue, wieso soll ich da nicht in meinem Tod für mich selber einstehen müssen? Mit der Frage über mein Ende hinaus ist aber nicht nur die doppelte Angst, es ist damit auch die Hoffnung verbunden, jene naturale, ihrer selbst unsichere und doch mein Leben leitende und haltende Hoffnung, die sich auf den richtet, von dem her und auf den zu meine Freiheit allein frei ist. Kann nicht er diese Freiheit, kann nicht er ihren Ausgriff über das Ende hinaus auffangen, halten, kann nicht er die leere, ausgestreckte Hand meines Daseins erfüllen?
Es ist merkwürdig. Der Tod, der mich total bedroht, der Tod, der – christlich gesehen – die äußerste Konsequenz aus meiner Freiheit ist, die ich an mich selbst gerissen habe, um von mir aus ganz frei, so wie Gott, zu sein, dieser Tod, der meine Position gegen Gott dokumentiert und vollstreckt, ist der neue Berührungspunkt mit Gott. Er ist jener Punkt, an dem ich meine ursprüngliche Verfassung und Bestimmung wieder erreiche, in der ich meine geschöpfliche Freiheit von neuem erfahre: Freiheit als Freiheit von her und auf-zu.
Verwandlung durch Jesus Christus
Wer glaubt, der bleibt in seiner eigenen Endlichkeit, der bleibt sterblich, dem bleibt die Not des Sterbens. In der Sprache des 1. Korintherbriefes: Der Tod wird als letzter Feind dem auferweckten Herrn unter die Füße gelegt werden (vgl. 1 Kor 15,26). Solange die Geschichte dauert, herrscht also noch das Gesetz des Sterbens – und doch ist der Sieg des Todes gebrochen und hat der Tod seinen Stachel verloren, seit Jesus Christus auferstanden ist. Weil er auferstanden ist, in dem unser Leben, unser ewiges Leben verankert und zugesagt ist, deshalb ist schon jetzt der Tod verwandelt.
[202] Wie sieht diese Verwandlung des Todes aus? Grundgelegt ist sie darin, daß Jesus Christus, der Sohn Gottes, selbst unser sterbliches Fleisch annimmt, selbst sterblich wird wie wir. Er nimmt seinen Tod und damit unseren Tod an. Der neue Adam setzt den Anfang der neuen Menschheit nicht neben die „alte“ Menschheit, sondern heilt und wendet ihr Geschick von innen, indem er es, indem er den Tod annimmt und austrägt. Dieser Tod ist gehorsamer Tod, Tod in die Hände des Vaters hinein und Tod für uns, um unseres Heiles willen. Das Verstummen des Todes wird also zum Für-Wort. In seinem für uns angenommenen und getragenen Tod, im Votum des Sohnes für den Willen des Vaters gerade auch dort, wo dieser Wille fremd und unbegreiflich erscheint, ist menschliche Freiheit grundsätzlich wiederhergestellt und eingesetzt. Wir erhalten die „Letzten Dinge“ zurück, die uns frei machen, den Vater, zu dem wir Zugang haben in Jesus Christus, und den Nächsten, mit dem wir versöhnt sind in der einen, allen geltenden Liebe des Herrn. Die doppelte Scheidewand, die uns von Gott trennt und die uns voneinander trennt, ist eingerissen im Tod Christi (vgl. Eph 2,14–18).
Wir schauen im Sterben Jesu und in dem neuen, erweckten Leben, in das es sich österlich verwandelt, Gottes doppelte Zielrichtung und des Menschen doppelte Zielrichtung an: Gott ist dreifaltiges Sich-Verschenken, Gott ist Offenheit über sich selbst hinaus, frei sein anderes sein zu lassen, zu lieben, sich ihm zu schenken – der Mensch ist Freiheit von Gott für Gott und darin Freiheit zu seinem Nächsten, zu seiner Welt.
Hier begegnet uns der tiefste Sinn, warum mit dem Tod Jesu und mit seiner Auferstehung die Epoche des Vergehens und der Endlichkeit und des Abschieds nicht zu Ende ist. In Jesu Tod und Auferstehung ist auch noch dieses Vergehen, dieses Sterben, dieser Abschied verwandelt in den Vollzug des zugleich göttlichen und menschlichen Lebens, in den Vollzug des Geschenks. Wir können die Schmerzen unserer Endlichkeit als Geschenk der Hingabe leben, können das, was uns beengt, und was uns die Freiheit zu nehmen scheint, in die Tat der größten Freiheit, können es in liebende Hingabe verwandeln durch den, der uns zuerst und der uns gerade so geliebt hat.