Erzählen von Klaus Hemmerle. Beitrag zu einer Austauschtagung

Erster Schritt - Klärung des hermeneutischen Standpunkts

Es besteht ein fundamentaler Unterschied zwischen dem Versuch, ein Bild von Klaus Hemmerle zu tradieren und dem Versuch, von Klaus Hemmerle zu erzählen. Abhängig davon, was ich versuche, nehme ich einen je anderen hermeneutischen Standpunkt ein.

Im ersten Fall behaupte ich einen kohärenten, singulären Fall von Geschichte, deren Name Klaus Hemmerle ist. Ein Bild zeichnet aus, einen Rahmen zu haben. Nur weil ein Bild einen Rahmen hat, kann es ausgestellt werden. Eines Bildes kann ich deshalb habhaft werden. Das heißt: sobald ich mir ein Bild von Klaus Hemmerle mache, unterstelle ich mir selbst damit, eine Wahrheit von Klaus Hemmerle gebildet zu haben. Der gefährlichste Ort des Bildes ist sein Rahmen, der eine Totalität des Wissens ermöglicht, wenn der Rahmen als Grenze des Bildes sich selbst verbirgt: „Ich weiß etwas über Klaus Hemmerle“, ist dann so eine Äußerung, die quasi zur Geste wird und die universale Gültigkeit dieses hermeneutischen Standpunkts in Anspruch nimmt, der die Rahmung des eigenen Bildes nicht mitbedenkt.

Im zweiten Fall behaupte ich einen Spezialfall meines eigenen Selbst- und Weltverhältnisses, wenn ich von Klaus Hemmerle zu erzählen versuche. Das gelingt nicht, ohne sich ein Bild zu machen. Aber das Bild ist bloß ein Durchgangsstadium, ein Element, das dem Erzählen zum Fortschreiten verhilft. Das Erzählen hat offene Enden. Ein Erzählen, das an sein Ende kommt, wird zur Erzählung und fügt sich zusammen zu einem Bild. Der zweite hermeneutische Standpunkt ist also nicht die Erzählung, sondern das Erzählen von Klaus Hemmerle, das sich fortlaufend vollzieht.

Mir ist dieser Unterschied wichtig, weil das Erzählen direkt auf einen konkreten Erzähler, auf eine konkrete Erzählerin verweist. Auf sie oder ihn kommt es an. Erzählen kann nur jemand. Indem jemand erzählt, wird sie oder er zur Autorin oder zum Autor einer freigegebenen Erzählung, an die andere Erzählerinnen sich erzählend anknüpfen können. Wer von Klaus Hemmerle erzählt, gibt nicht bloß etwas wieder, was sie oder er weiß, sondern sagt etwas über sich selbst. Ich erzähle meine Geschichte als eine Geschichte von mir mit Klaus Hemmerle und damit als eine, die mir selbst vorausgeht, weil ich mir im Erzählen selbst begegne und mich dem Diskurs unterwerfe, den ich nicht gemacht habe, aber zeuge: „noch bevor ich ein ‚Ich‘ erwerbe, bin ich ein Etwas, das berührt wurde“ – und immer wieder berührt werdend wird, was es ist.1 Ich werde, was ich empfange und bin, indem ich an Klaus Hemmerle anknüpfe; sonst könnte ich nicht erzählen. Das Erzählen kennt keine Äußerlichkeit und nur schwache Objektivität.

Der Unterschied zwischen beiden hermeneutischen Standpunkten liegt darin: Im ersten Fall zitiere ich Klaus Hemmerle, den ich wahr-sage. Im zweiten Fall finde ich mich selbst im Zitat einer Erzählung vor, mit der ich nicht selbst begonnen habe, aber die zu tun hat mit einer Wahrheit, die ich erzähle, solange ich sie wahr-nehme. Vom zweiten hermeneutischen Standpunkt her besehen, trägt eine kohärente Erzählung von Klaus Hemmerle sogar gewaltsame Züge. Und zwar aus zwei Gründen. Zum einen beschattet sie mich als eine Wirklichkeit, an der ich nicht eigentlich beteiligt werde. Sie schattet die Erzählung vom Erzähler ab; die kohärente Erzählung erzeugt ein Bild, das einen politischen Anspruch auf universale Gültigkeit meiner Aussagen erhebt. Zum anderen gibt die kohärente Erzählung der Nahtlosigkeit den Vorzug gegenüber einer weitaus weniger nahtlosen Wahrheit der Person, die sich nicht kohärent, ja nicht einmal textlich fassen lässt.2

Mein eigener Standpunkt lautet: Es gibt sie nicht, die Erzählung von Klaus Hemmerle. Wir können sie nicht schreiben, die Geschichte von Klaus Hemmerle. Und wenn es sie doch geben sollte, dann sollten wir sie lieber abschaffen.


  1. Butler, Judith: Kritik der ethischen Gewalt, Frankfurt a. M. [^5]2018, S. 95. ↩︎

  2. Vgl. ebd., S. 88. ↩︎