Eucharistie und Weltverantwortung

Eucharistie und Weltverantwortung

Wo die Liebe stärker ist, da wird Vergangenheit nicht verdrängt, sie wird aber auch nicht zum Übergewicht einer starren Tradition, die mir den Weg zum Nächsten und in die Zukunft versperrt. Wo die Liebe stärker ist, da wird Zu- [19] kunft nicht von der Angst vernebelt oder vom Triumphalismus des Planens vereinnahmt, sondern sie darf sich schenken und wir dürfen sie wagen. Wo die Liebe starker ist, da ist Gegenwart dieser eine Augenblick, den ich ganz ernst nehme, ernst nehme aber angesichts der Verantwortung für die Zukunft und angesichts eines Erbes, das ich annehmend zu verwandeln vermag. Wo die Liebe stärker ist, da wächst der Mut zum Nächsten und die Bereitschaft, das Ganze in den Blick zu nehmen. In der Liebe erhält also unser Handeln in Geschichte und Gesellschaft An teil an der neuen, eucharistischen Zeitlichkeit und Räumlichkeit. Die Liebe ist stärker, dieser Satz und das, was sich in der Eucharistie als Inhalt dieses Satzes auslegt in die vier genannten Dimensionen, ist zugleich der Auftrag, die Kraft und das Programm unseres Weltdienstes. Wo Anbetung, Gemeinschaft, Dienst und Verwandlung des Leidens geschehen, da geschieht Liebe, da geschieht das Zeugnis, das wir als Christen der Welt schulden: das Zeugnis dafür, daß die Liebe stärker ist als die Verhältnisse und der Tod, als die Interessen und die Angst, als bloß menschliche Ideale.

Ohne Anbetung gerät der Mensch entweder in jenen Nihilismus, dem nichts unbedingt und heilig gilt, oder in jenen Wahn der Selbstverherrlichung, die ihn und seinen Plan zur letzten Instanz der Welt erklärt. Achtung eines unverfügbar Vorgegebenen, Ja zu den eigenen Grenzen und zur eigenen Kreatürlichkeit sind Voraussetzungen für eine menschliche Welt. Zur Anbetung gehört es ebenso, daß ich einen anderen größer sein lasse als mich wie daß ich fähig bin, solche größere Größe zu erkennen, anzuerkennen und ihr in meiner Hingabe Raum zu geben. Der Mensch, der nicht anbetet, beraubt sich seiner eigenen Größe, weil er nichts größeres mehr kennt als sich. Die Würde des Menschen hängt an der Transzendenz, an der Anerkennung, daß [20] der Mensch größer ist als er selbst. Gegen eine bloße Verzweckung, gegen den Kult des bloß Machbaren und ür den Freiraum des Menschlichen steht letztlich nur die Anbetung. Auch schon die Frage nach einem Letzten und Höchsten ist nur ernste Frage, wenn sie potentielle Anbetung ist. Kann es von daher unerschütterliche Grundwerte, unzerstörbare Maßstäbe geben ohne den Horizont der Anbetung?

Gemeinschaft ist die Alternative zum Nebeneinander sich selbst genügender Individuen und auch zur kollektiven Einsamkeit. Einmal Alternative zum Nebeneinander sich selbst genügender Individuen. Wie leicht lassen wir uns von der Vorstellung beherrschen: Ich bin ich und du bist du, wir müssen darauf bedacht sein, ohne hinderliche Konflikte zu unserem je eigenen An teil zu gelangen. Dabei gilt es, parallele Interessen auszunutzen, förderliche Koalitionen zu schließen und im übrigen so reibungslos wie möglich aneinander vorbeizukommen. Begegnung findet nicht statt. Aus meinem Innersten und zu meinem Innersten führt keine Straße. Eine Schwemme von Kommunikation läßt uns ohne Communio, ohne Gemeinschaft. Zum andern Alternative zur kollektiven Einsamkeit. Der einzelne hat seine Rechte, seine Interessen im vorhinein abgetreten ans Kollektiv, sein Ich ist zentral geplant, wird zentral versorgt, wird zentral beseligt. Aber dieses Ich findet nicht mehr statt und darum auch kein Du und darum auch kein Wir, keine Gemeinschaft. Im Kollektiv ersticken die Gemeinschaft wie der einzelne. Die Atmosphäre, in der ich und du leben können, wächst nur, wo wir aufeinander zugehen, einander annehmen, einander freigeben, einander zuhören, aus gemeinsamer Verantwortung einander Wort und Antwort geben. Mein Wort allein gibt es gar nicht ohne dein Hören, ohne dein Wort, wie Papst Paul VI. es treffend ausdrückte: Jeder lebt das Leben des anderen mit, sonst können wir nicht le- [21] ben. Und unser Sprechen gibt es nicht ohne gemeinsames Hören auf Jesu Wort, von dem wir miteinander leben und das uns in die Verantwortung füreinander und fürs Ganze weist. Im Grund ist alle Gemeinschaft Mahlgemeinschaft, in der wir vom selben leben und einander An teil am selben gönnen. Damit ernst machen bedeutet nicht weniger Umkehr, als Anbetung sie erfordert.

Dienst ist gelebte Gottebenbildlichkeit im Blick auf die anderen, im Blick auf die Welt. Wir sind am meisten Gott gleich, wo wir sein universales Ja mittun, das allem und allen Sein und Leben gönnt. Dieses Gönnen ist freilich für uns als Geschöpfe nur wirksam, wenn wir uns selbst, unsere Kraft, unsere Mühe, unseren Einsatz einbringen für die anderen, für das Ganze. Die Worte Ja und Für gehen zumal uns Christen als jene Worte auf, in denen wir Gottes Liebe, Gottes Verhalten seiner Welt gegenüber ausdrücken können. Ja und Für, dieser Anspruch Gottes fordert von mir, daß ich keinen und nichts von meinem Denken ausschließe und es zumal jenen zuwende, die am Rand stehen, die der Hilfe am meisten bedürfen, denen Gott durch seine „Vorliebe“ einen besonderen Adel verliehen hat.

Verwandlung des Leides. Grenzen als Grenzen erfahren, an Grenzen leiden kann nur jener, der über die Grenzen hinausreicht. Wo immer Menschlichkeit tief verstanden wurde, sind die Sterbenden, die Leidenden, auch die Schuldigen in eine besondere Nahe zum Geheimnis des Heiles gerückt worden. Es ist legitim, ja unsere Pflicht, das Negative in unserer Welt anzugehen. Es ist Zeichen menschlicher Größe, daß der Mensch seine Grenzen immer weiter hinausschiebt. Es wäre aber naiver Selbstbetrug, dabei zu vergessen, daß immer Grenzen bleiben werden. Das vergessene Leid, die verdrängte Schuld, der überspielte Tod sind Fluchtversuche des Menschen vor sich selbst. Von Jesus Christus her haben [22] wir noch ein Größeres gelernt: Es ist Zeugnis seiner grenzenlosen Liebe, daß er sich unseren Grenzen unterworfen hat, es ist Zeugnis seines grenzenlosen Ja, daß er unser Nein von innen her ausgelitten und geheilt hat. Dem Christen ist alles Leid in der Welt das Sakrament des Leidens Christi, das ihn aufruft, im Leidenden ihn selbst zu sehen, ihm zu helfen, ihn zu trösten, sein Leid zu überwinden, es in Ehrfurcht mitzutragen, es durch Liebe in Liebe zu verwandeln. So wird die Grenze zur Einladung, sie zu überschreiten und dem Herrn zu begegnen, der sie zu uns hin überschritten hat.

Hier haben wir das spezifisch Christliche ausdrücklich ins Spiel gebracht. Auch Anbetung, Gemeinschaft, Dienst haben wir ab gelesen von der Eucharistie. Aber wir versuchen sie so zu lesen, daß darin die allgemein menschlichen Voraussetzungen der Eucharistie in den Vordergrund traten. Es muß das Interesse des Christen sein, nicht nur mit seinesgleichen, sondern mit allen, die Verantwortung für die Welt tragen, die Gestaltung einer menschlichen Welt voranzutreiben. Er lebt dabei aus dem, was ihm vom Innersten seines Glaubens zugesprochen wird. Die Hingabe Jesu an den Vater, die Gemeinschaft, die er in seinem Blut zwischen uns stiftet, der Dienst für das Leben der Welt, den er im Opfer seines Lebens vollendet, Verwandlung allen Leides durch sein stellvertretendes Mitleiden sind für die christliche Weltverantwortung die tragende Kraft und das verbindliche Maß. Dieses unterscheidend Christliche aber erschließt zugleich das verbindend Menschliche. Eucharistie wird uns zum Schlüssel, um in einen Raum vorzustoßen, der für die anderen nicht unbetretbar ist. Im Licht der Eucharistie lassen sich die Zeichen des Menschlichen nur um so deutlicher lesen.

In der inneren Logik des Christlichen ist es indessen nicht [23] nur ein Anhang an die eigentliche Wahrheit der Eucharistie, in ihr den Schlüssel für die Dimensionen der Weltverantwortung zu finden. Ein bloß kultisches Verständnis der Eucharistie, eine Beschränkung ihrer Wirklichkeit auf den Raum der heiligen Feier und der durch sie genährten persönlichen Heiligkeit widerspräche dem, was sich in ihr vollzieht und darstellt. Tod und Auferstehung Jesu Christi, Brot für das Leben der Welt, Leib und Blut hingegeben für die Vielen das stößt unmißverständlich die Kirchtür auf und weist auf Menschheit und Welt. Die neue Wirklichkeit darf von der Wirklichkeit unseres Alltags nicht isoliert werden. Eucharistie ist also mehr als nur sie selbst, mehr als nur ihr sakramentales Geschehen. In der Eucharistie, in der wir ein Leib werden mit dem Herrn, empfangen wir sein universales Für mit, werden wir hineingenommen in seine Sendung für die Welt.

Und es wäre nochmals zuwenig, in der Eucharistie nur die spirituellen Motive und die ethischen Imperative für unser persönliches Engagement zu suchen. In der Eucharistie beansprucht der Herr ein Stuck dieser unserer erfahrbaren Welt, damit es wirksames Zeichen seiner Gegenwart und damit der neuen Schöpfung werde. Ist es nicht an uns, aus dem Stück Welt, das wir in Händen tragen, ein für die Welt, für alle sichtbares Zeichen des Heiles zu gestalten, auf das wir hoffen? Sollen wir nicht in aller Ohnmacht und Vorläufigkeit erfahrbar machen, daß die Liebe stärker ist als die Verhältnisse und der Tod, als bloß menschliche Interessen und Ideale? Sicher können wir aus den Dimensionen der Eucharistie keinen Raster von Prinzipien machen, deren Komponenten die verläßliche Lösung für jede Frage konkreter christlicher Weltverantwortung ergeben. Aber angesichts eines jeden Problems die Frage zu stellen, wie sie sich verändert im Lichte des neuen, eucharistischen Wirklichkeits- [24] verständnisses, das könnte unsere Verantwortung und unsere Fantasie, unsere Erkenntnis und unsere Bereitschaft selbst neu werden lassen. Wir werden jedenfalls von einem eucharistischen Ansatz aus nicht mehr unser eigenes Interesse zum einzigen und ersten Maßstab des Handelns machen können, um nur nachträglich den Kompromiß der Egoismen zu suchen. Wir werden nicht mehr die Krisen und Schwierigkeiten notdürftig überkleistern, statt sie von innen her gemeinsam zu bestehen. Wir werden nicht mehr an die unverfügbaren Maßstäbe und Werte ein paar Konzessionen machen, sondern Lösungen suchen, die in der Überzeugung gründen, daß dort, wo das Göttliche wächst, auch das Menschliche wächst. Wir werden andere Politik machen, anders Wirtschaft und Kultur mitgestalten.

Dies alles wird freilich nur in dem Ausmaß gelingen, als wir nicht nur anhand der Wahrheit von der Eucharistie über Probleme nachdenken, sondern lebendig Eucharistie feiern, ja Eucharistie sind. Wir müssen an uns erfahren, daß Liebe mehr vermag, um eine gesellschaftliche Ordnung zu verwirklichen, in welcher Liebe stärker ist als Verhaltnisse und Interessen. Solche gemeinsame Feier der Eucharistie, solches Sehenlernen im Licht der Eucharistie, solche Zuwendung zur Mitte des Glaubens und zum Horizont der Welt, das könnte ein Stück mehr Ereignis werden an Fronleichnam 1980 in Berlin.