Der Begriff des Heils

Ewiges Heil?

Eng mit der Frage nach dem „persönlichen“ hängt die nach dem „ewigen“ Heil zusammen. Heil scheint nicht anders verstanden werden zu können als derart, daß „mit dem Tod nicht alles aus ist“. Ein Menschenleben, das mit der [215] Zufälligkeit seines Zugrundegehens irgendwann weggesogen wäre ins Nichts, das darin aufginge, bestenfalls Material für die weitertreibende biologische oder auch geistige Entwicklung der Weltsubstanz oder der Menschheitsgeschichte zu sein, wäre – so sagte und dachte man lange – das Leben nicht wert. Ist es nur die Nervosität der Anstrengung, die mit dem Hier und Jetzt fertig werden muß, daß dieser Gedanke bei so vielen nicht mehr verfängt? Liegt es nur an der Mächtigkeit einer vom Tun und Planen des Menschen allein bestimmten Betrachtungsweise von Wirklichkeit, wenn an der Grenze des Sichtbaren, des Objektivierbaren, das Gegenstand von Experiment und Berechnung werden kann, das Interesse des Menschen aufhört, ja wenn hier Wirklichkeit selbst für ihn ihre absolute Grenze zu finden scheint? Genügt es, die Grenze des Todes einfach nur immer weiter hinauszuschieben oder sie durch Schmerzlosigkeit und Versicherung zu domestizieren? Hat das „und dann?“ in der Tat seine Macht für den einzelnen Menschen in der Vorhabe seines Lebens und Sterbens eingebüßt?

Für das Absinken des Interesses am „ewigen“ Heil gibt es vor allem drei Gründe.

Der erste: Die Sorge um das, was später kommt, artikuliert sich in einer Welt, die vom Konzept ihrer eigenen Machbarkeit lebt und dieses Konzept in der Notwendigkeit bestätigt findet, daß die ganze Menschheit gemeinsam ihre unteilbare, eine Zukunft in die Hand nimmt. Sorge wird naturgemäß Sorge um die Zukunft der menschheitlichen Geschichte. Zeit, Geschichte, Zukunft drängen sich so total ins Bewußtsein des Menschen hinein, daß sie und beinahe nur sie den „eschatologischen“ Horizont menschlichen Verstehens und Erwartens bestimmen. Dieser erste Grund hat indessen kein unbedingtes Recht und keine grenzenlose Macht; denn Zeit allein im Sinn der machbaren, der Verlaufszeit fängt den Menschen für die Dauer nicht auf. Ein Zeichen hierfür ist gerade die sich heute so stark und vielfältig wieder meldende Bewegung der „Auswanderung“ aus der Zeit des Machens und Vermögens in die „Zeitlosigkeit“, in den Traum, den Rausch, die Erfahrung des Abseitigen.

Ein zweiter Grund reicht tiefer. Die Zukunft, die zum Menschen gehört und an der er die Ohnmacht erfährt, sie nicht aus sich selbst zu vermögen: diese Zukunft ist nicht nachher, sondern jetzt. Gerade im totalen Anspruch des Machens und Funktionierens erfährt der Mensch Unfreiheit, massive und unentrinnbare Sinnlosigkeit. Die Ambivalenz des Funktionierens, die Unsicherbarkeit dessen, was in ihm zustandekommt, zugleich die Langeweile dessen, daß das in ihm Zustandekommende anderseits schon vorgefertigt, daß es ohne Chance ist, etwas Neues zu sein: dies lähmt die Spannung des Menschen so tief, daß er nicht ein Nachher als Trost und Ausgleich, sondern daß er nur ein Jetzt sucht, das ihn frei leben, frei er selbst sein läßt. Das Leben wird nicht mehr als so kostbar angesehen, daß es nicht zu Ende sein „darf“; seine Mühsal macht es aber auch nicht mehr zum leeren Kelch, der sich vom Später füllen [216] ließe. Wenn es einen Sinn haben soll zu leben, dann muß das schon jetzt sein; und Leben überhaupt zeigt kaum mehr eine Struktur, die Erfüllung erwarten läßt. Nicht ein im Nachhinein erfülltes oder korrigiertes, sondern nur ein radikal anderes Leben hätte Sinn. Dieses andere Leben erscheint aber nicht mehr in der Relation des Nachher; es könnte höchstens gegenwärtige Alternative sein.

Hoffnung ist in dieser Perspektive für den Menschen nur Hoffnung, wenn sie sich auf dieses, das jetzige Leben richten darf, und wenn sie zugleich doch ganz anderes Leben, neues Leben und nicht bloßes Weiterleben nach dem Tod erhoffen darf. Doch: ist Ewigkeit überhaupt ein Nachher – oder ist ewiges Leben nicht vielmehr dieses Leben, aber ein ewiges und so ein radikal anderes, neues Mal?

Der dritte Grund, der den Einspruch gegen „ewiges“ Heil nährt: Im ewigen Heil vermutet man „nur privates“ Heil, Heil als meine eigene, der Vergänglichkeit und damit der Geschichte enthobene, von den anderen und dem, was in der Welt noch wird, absehende Identität mit mir. „Wiedersehen im Jenseits“, communio sanctorum erscheinen in solcher Sicht als eine bloße Zugabe dazu, daß „ich“ im Himmel bin. So aber kann der Mensch sich selbst nicht mehr verstehen, weil er seine Haftung im gemeinsamen Werk der Welt zu ernst nimmt, als daß er aus ihm in ein ewiges Alibi hinüberwechseln dürfte. Gerade weil menschliches Leben sich nicht in sich schließt, sondern über sich hinaus ist, hat der Mensch heute nicht eigentlich eine Sehnsucht nach ewigem Leben, sondern nach dem Eingehen seines Lebens in das übergreifende Miteinander der Geschichte.

Die Gegenfrage liegt indessen nah: Was ist ein Miteinander im puren Nacheinander, das seine Partner je nur verschlingt ins Gewesen, das fürs Kommende nur Voraussetzung, Startbasis, Rohstoff oder „Humus“ ist? Lebt nicht im Menschen einfach dies: Offenheit auf eine totale Kommunikation hin, die als solche nicht neben und außer der Geschichte steht, die aber Geschichte nicht darin aufgehen läßt, daß jeweils nur der unabsehbare Nu eines einzigen Augenblicks ist? Die Aporie menschlicher Sehnsucht ist es, in der Geschichte bleiben, in ihr über sich hinauswachsen zu wollen, Geschichte aber nicht als den Raum dieses Bleibens zu erfahren und zu vermögen.

Wiederum stehen die Zeichen des menschlichen Daseins hin auf die große Gunst, die es dem Menschen gönnt, sich ganz der Geschichte zu gönnen, einer Geschichte, die aber mehr ist als der Prozeß der beständigen Flucht vor sich selbst in Niemandsland des je wieder flüchtigen Noch-Nicht, weil sie sich selbst und weil in ihr die Menschen einander gegönnt sind. Eine zweite Dimension von Ewigkeit taucht hier auf: Ewigkeit nicht nur als das unendlich andere Mal des gegenwärtigen Einmal, sondern zugleich auch als das alles Vielmal geschichtlicher Zersplitterung in die eine große communio sammelnde Einmal unzerstörbarer, Geschichte und Menschheit sich gönnenden Gunst. [217]