Wovon Hemmerles Gedichte erzählen

Feigenbaum im März

Wie ein Fremdling im Frühlingsgarten
der graue Kreisel
aus übereinander ragenden
sich rückwärts neigenden,
nach oben blickenden
Oranten.

Am letzten Tag
entquillt den aufgehobenen Händen
erstes Blattknospengrün.

„Feigenbaum im März“ hat Klaus Hemmerle an das Ende seiner Gedichtsammlung platziert. Das ist plausibel. Scheint doch eine Begebenheit des letzten Tages, des letzten Urlaubstages erzählt zu werden: dass am Tag oder Vortag der Abreise auch der Feigenbaum, der Spätling, noch sein erstes Grün zeigt.

Dann erschiene aber das Motiv des Gebetes: von „Oranten“, von „aufgehobenen Händen“ ist die Rede – dieses Motiv erschiene wie aufgepfropft zu sein und müsste Hemmerle als einem Theologen und Bischof nachgesehen werden, der um die biblische Bedeutung des Feigenbaums weiß. – Die Frage ist allerdings, ob hier wirklich durch den Zugriff der Frömmigkeit der Feigenbaum zum Beter wird.

Da ist zunächst der noch blattlose Feigenbaum, und dieser steht da unter den knospenden Gewächsen, wie ein menschlicher Beter, der allein und unerhört dasteht. Da sind sodann die zum Gebet erhobenen menschlichen Hände, und ihnen entsprießt – „am letzten Tag“ – gleich einem Feigenbaum knospendes Grün. Beides aber ist durch die strophische Gliederung voneinander getrennt. Eine platte Identifizierung findet nicht statt.

Hemmerles „Sardische Notizen“ sind fraglos fromm, aber deshalb nicht schon eine Sammlung „frommer Gedichte“. Religiöse Motive und biblische Metaphorik sind in den Gedichten zwar allgegenwärtig, aber nicht als solche wichtig. Wo sie sich in den Vordergrund drängen, was m. E. vorkommt, da ist auch das Ergebnis entsprechend.

Doch im Kern ist die Frömmigkeit der „Sardischen Notizen“ eine Erfahrung der Kreatürlichkeit, und zwar einer Kreatürlichkeit, in der die Grenzen der Gattungen zwischen Menschen, Tieren und Pflanzen durchlässig werden. Die Gedichte leben von einer Vertrautheit von allem mit allem – weil alles gut ist, weil aber auch alles verbunden ist in der Solidarität eines Mit-leidens.

So werden die Grenzen zwischen Kultur und Natur fließend. Es ergeben sich Symmetrien und Spiegelungen, ja Spiele – und diese sind durchaus franziskushaft und überspringen dann auch unbefangen Grenzziehungen zwischen poetischer und religiöser Sprache.

Urlaube haben einen letzten Tag – Welt, Zeit, Leben auch.1


  1. Vgl. zu den Textteilen 2 und 4: Feiter, Reinhard: Lerne am Herd die Würde des Gastes. Materialien und Überlegungen zum Italienbild Klaus Hemmerles (1929–1994), in: Geschichtsverein für das Bistum Aachen (Hg.): Vom Rhein zum Tiber. Das Italienbild historischer Persönlichkeiten aus dem Bistumsgebiet (Geschichte im Bistum Aachen, Beihefte 5), Neustadt/Aisch 2007, 121–150, sowie Feiter, Reinhard: Gedichte sind Spuren. Ein Beitrag zur Ausstellung „Bilder sind Wege“ zum Gedenken an Bischof Klaus Hemmerle, Clara-Fey-Gymnasium, Schleiden, 9. September 1999, in: Katholisches Bildungswerk der Region Eifel (Hg.): „Bilder sind Wege“. Eine Dokumentation, Schleiden 2000, 34–61. ↩︎