Fragen nach Gott
Fragen an die Frage nach Gott
2.1 Wenn wir von der Gottesfrage sprechen, so unterlaufen uns dabei gängigerweise zwei Voraussetzungen: Einmal scheint klar zu sein, was das ist: Gott; zum andern scheint es das allein Fragliche zu sein, ob dieser Gott auch existiere. Gott, das gilt uns als ein mehr oder minder genau fixierter „objektiver“ Denkinhalt, und wenn klar ist, daß diesem Denkinhalt eine Wirklichkeit entspricht, daß von ihm das Wörtchen „ist“ prädiziert werden kann, dann ist die Sache in Ordnung. Gott wird zur Hypothese, die sich ausweisen, die durch entsprechende Gründe als verantwortbare These erhärtet werden muß.
Doch gerade die so verstandene Gottesfrage, die Frage danach, ob der metaphysische Gegenstand Gott auch existiere, ist weithin verblaßt. Woran liegt das? Wenn ich nach einem Menschen nichts mehr frage, wenn er für mein eigenes Leben uninteressant wird, [15] wenn er nicht mehr hineinreicht in die Bezüge, die meine Existenz bestimmen, dann frage ich bald nicht mehr nach ihm. Seine Kontur entschwindet mir, das Wissen, daß es ihn gibt, tritt an den Rand. Ich stelle von mir aus, von innen her, nicht mehr die Frage, ob dieser Mensch lebt oder gestorben ist. Daran wird deutlich: die Frage nach der Existenz Gottes ist in dem Sinne sekundär, daß sie verschwinden kann, wenn nicht eine andere Frage sie trägt und in Gang setzt; die Frage nach dem, was Gott für mich bedeutet. Wer nichts mehr nach Gott fragt, der verlernt die Frage, ob es ihn gibt. Nur wenn in meinem Leben dies oder jenes, nein, wenn im Grunde alles anders ist, sofern es diesen Gott gibt oder nicht gibt, gewinnt die Frage nach Gott ihre Brisanz. Der Gott, der nur noch durch keine anderen Gründe ersetzbarer Letztgrund in meiner Welterklärung wäre, ließe mich auf die Dauer eher danach fragen, wie ich die Welt einfacher ohne ihn erklären kann, als danach, ob er nicht vielleicht doch existiert.
2.2 Näher besehen, ist freilich die Frage, ob etwas ist, die Frage nach der Existenz von etwas, immer eine sekundäre Frage. Ich kann diese Frage nur stellen, weil sich mir bereits ein Anlaß ergeben hat, der innerhalb meiner Erfahrung liegt und danach verlangt, „identifiziert“ zu werden. Die Frage nach dem Ob ist die Frage nach der Gleichung zwischen einem Erfahrungsanlaß und einer Erfahrungshypothese, zwischen einer vorfindlichen Gegebenheit und einem Deutungsangebot für sie.
Doch stimmt das überhaupt? Ist der gezeichnete Sachverhalt nicht vielmehr jener der Was-Frage? Wenn mir etwas begegnet, und ich suche es zu deuten, zu verstehen, dann findet das seinen Ausdruck in der Frage: Was ist das? Die Ob-Frage hingegen geht den umgekehrten Weg: Ein Deutungsangebot, ein Entwurf oder Modell, was sein kann, liegt in mir vor, und ich suche dieses Angebot oder Modell an Erfahrbarem zu verifizieren. Gleichwohl führt die Richtung vom Deutungsangebot auf die ihm zugeordnete, zu deutende Wirklichkeit in die eben genannte zurück. Ein Deutungsangebot, ein Entwurf dessen, was sein kann, geht, auf welche Weise auch immer, von einer Begegnung mit dem, was [16] ist, aus. Testen wir diese – in solcher Form freilich vergröbert gefaßte – Hypothese einmal an drei fundamentalen Fällen durch: Der eine Grenzfall der Ob-Frage lautet: Ist da etwas? Doch nur deshalb kann ich fragen, ob da etwas ist, weil mir „etwas“ Anlaß gegeben hat, zumindest eine Affektion oder Projektion, jedenfalls aber solches, das in sich nicht nichts ist und in seinem Vorkommen mehr ist als bloße Inhaltlichkeit. Die Ob-Frage holt also auch in diesem Fall etwas, das ist, als ihren Anlaß auf dem Weg über das fundamentale Deutungsangebot des „etwas“ bzw. des „ist“ zu sich selber ein.
Zweiter Fall: Gängigerweise haben Ob-Fragen die direkte Form: Gibt es ... ? Zum Beispiel: Gibt es noch Tatzenbären? Gab es die Konstantinische Schenkung? Gibt es Fliegende Untertassen? Die Struktur ist, auf ihre wesentlichen Elemente reduziert, jeweils die gleiche: Ein Deutungsangebot, ein Entwurf dessen, was sein kann, wird daraufhin überprüft, ob es in Gleichung zu bringen ist mit etwas, das in der Ordnung des Erfahrbaren ist. Dieses Deutungsangebot selbst aber ist gewonnen aufgrund einer Erfahrung von etwas, das ist, hervorgerufen durch eine Begegnung mit etwas, das ist, wenn freilich auch nicht deren Produkt allein. Entweder ist dieses Deutungsangebot bereits grundsätzlich an der Erfahrung bewährt, und fraglich ist nur die Kontinuität, die faktische Reproduzierbarkeit dieser Erfahrung („Tatzenbären“); oder etwas ist begegnet, von dem nicht ausgemacht ist, was es ist, und der Entwurf der Möglichkeit dessen, was es ist, muß an der Erfahrung, die den Anlaß zum Deutungsangebot gab, gegengelesen werden („Fliegende Untertassen“); oder ein Deutungsangebot, das vorgibt, an einem Wirklichen ausgewiesen zu sein, wird einer Bestätigung bzw. Falsifizierung dieses Anspruchs unterworfen („Konstantinische Schenkung“).
Erregend freilich wird die Ob-Frage erst in einem dritten Fall, sozusagen dem anderen Grenzfall, der nur formal mit bisherigen Beispielen parallel läuft. Drei Varianten mögen diesen Grenzfall erläutern: Es steht zur Frage, ob du lebst, ob es Freiheit _gibt, ob _Gott existiert. Die Frage, ob du lebst, liegt formal in der Nähe [17] der Frage, ob es noch Tatzenbären gibt: dich gab es einmal, Tatzenbären gab es einmal. Aber im „Falle“ des Du ist die Existenz nicht eine Zugabe zu einem ihr gegenüber neutralen Wesen, sondern die Bedingung dieses Wesens; du als du bist mehr als ein Exemplar des Artwesens Mensch, dein eigenes „Wesen“ bildet sich erst im Vollzug deines Existierens heraus. Wenn ich an dich denke, dann kann ich von deiner Existenz gar nicht absehen, ohne die du ja nicht du wärest. Die Ob-Frage rückt als solche in die Wesensfrage ein.
Die Frage, ob es Freiheit gibt, läßt sich formal in etwa mit der Frage nach der Existenz der Fliegenden Untertassen vergleichen. Aber auch hier deckt sich bei näherem Zusehen wiederum ein fundamentaler Unterschied auf: Freiheit ist eine Grundweise von Existenz, Existenz, die von sich her in ihr Wesen aufgeht, Existenz, die ein Verhältnis zu ihrem Wesen hat, darin aber auch das Wesen dessen, der frei ist, bestimmt: es ist Wesen des Freien, ihn ins Verhältnis zu seinem Wesen und damit zu sich selbst zu setzen. Wiederum gehört also Existenz in den Begriff, in das Was von Freiheit hinzu, und gerade dadurch wird die Ob-Frage einerseits bedrängend, andererseits sekundär – das Wesen von Freiheit könnte gar nicht konzipiert werden ohne die Erfahrung von Freiheit, eine Erfahrung freilich, der eine andere Weise von Kontrollierbarkeit und Experimentierbarkeit zugehört als der Empirie des Gegenständlichen. Man könnte in einer freilich durch viele Differenzierungen zu vermittelnden Analogie von einem „ontologischen Freiheitsbeweis“ sprechen: Wer Freiheit zu begreifen vermag, erweist dadurch, daß es sie gibt.
Was das Ausgeführte für die Frage nach Gott bedeutet, liegt auf der Hand. Gewiß ist Gott von seinem Wesen und von seiner Existenz her nicht in eine Reihe mit dem endlichen Du oder mit der Freiheit zu stellen. Doch ist er, schon vor einer metaphysischen Reflexion, als jener im Blick, zu dem, wenn es ihn gibt, wesenhaft gehört, daß es ihn gibt. Wie auch immer Gott verstanden wird, zu ihm gehört etwas wie Macht, wie Vermögen; die Göttlichkeit Gottes schließt sein Verhältnis zur vorfindlichen Wirklichkeit mit ein, der sie entzogen, die aber gerade nicht ihr entzogen ist; Gott [18] ist, wenn er Gott ist, anders als das andere wirklich, gerade dadurch aber nicht weniger wirklich.
Wie beim Du, wie bei der Freiheit, so – ja noch mehr als dort – steht bei Gott Existenz zum Wesen in einem anderen Verhältnis als bei den Gegenständen der Empirie; und dadurch erhält auch die Ob-Frage eine andere Stellung: Sie wird wesentlich, wesentlich aber gerade von der Frage nach dem Was, nach dem Wesen her. In der schon gestreiften Denkfigur des ontologischen Gottesbeweises[5] kommt dies zur Geltung. Die Kritik am ontologischen Gottesbeweis von Gaunilo über Thomas bis Kant macht allerdings offenbar, wie wenig die Ob-Frage durch die bloße Was-Frage ersetzt werden kann. Ob Gott ist, das wird erst recht bedrängend, weil es zu seinem Wesen gehört zu sein – die Feststellung, daß es zu seinem Wesen gehört zu existieren, vermittelt im Binnenfeld einer logischen Analyse indessen noch keine Gewißheit, daß es ihn gibt.
Aber ist das Feld, in dem der Zusammenhang von Wesen und Existenz Gottes von Belang dafür wird, daß es Gott gibt, nicht anderswo zu suchen als in einer „neutralen“ theoretischen Untersuchung? Warum wird denn die Frage, ob es Gott gibt – und auch die Frage, ob es dich gibt und ob es Freiheit gibt – so gewichtig? Deswegen weil alles anders ist und weil es auch mit mir anders ist, wenn du bist, wenn ich frei bin, wenn Gott ist. Das, worum es hier jeweils geht, betrifft mich selbst, setzt andere Vorzeichen vor die Welt und das Dasein im ganzen. Es gibt eine weitere Denkfigur, die eher noch brüchiger erscheint als der bloß formal verstandene ontologische Gottesbeweis und die vielleicht doch noch deutlicher als er die wesenhaften Zusammenhänge zwischen Ob- und Was-Frage im Falle Gottes herausstellt: Pascals Argument von der Wette.[6] Eine verkürzende Darstellung soll den in unserem Kontext springenden Punkt deutlich machen: Pascal spricht mit einem, der an Gott zweifelt und der, weil er sich keine logische [19] Gewißheit über seine Existenz verschaffen kann, die Frage nach ihm auf sich beruhen lassen will. Pascal legt ihm dar, daß er, auch wenn er sich keine theoretische Gewißheit über die Existenz Gottes verschaffen kann, dennoch mit unabweislicher Wahrscheinlichkeit sich richtiger verhält, wenn er handelt, als ob es Gott gäbe, als wenn er handelt, als gäbe es ihn nicht. Der Zweifler will sich auf dieses Spiel nicht einlassen, doch Pascal sagt ihm, er könne nicht nicht mitspielen, er sei schon im Boot. Der weitere Verlauf des Gesprächs zeigt, daß sich Pascal nicht mit einer Wahrscheinlichkeitsrechnung für Gott und erst recht nicht mit einer Klugheitsberechnung zugunsten des Menschen, die Gott als Hypothese einsetzt, begnügen will. Es geht ihm vielmehr darum, den Partner in das Spiel einer lebendigen Beziehung, in ein lebendiges Gegenüber zum „möglichen“ Gott zu bringen, weil dort gerade Gott seine Wirklichkeit eröffnen, weil Gott allein und gerade in der Begegnung als der aufgehen kann, der er ist und der ist. Was für unseren Zusammenhang dabei entscheidend ins Gewicht fällt, ist ein Doppeltes. Zum einen: wenn die „Möglichkeit“ Gottes in den Blick tritt, so ist menschliches Dasein unweigerlich in eine Entscheidungssituation gestellt; wie immer ich mich verhalte, ich verhalte mich zu dieser Möglichkeit Gottes; um seinet- und um meinetwillen – und beides ist dasselbe – kann meine Frage nach Gott, kann die Fraglichkeit Gottes für mich nicht auf sich beruhen bleiben. Zum anderen: die Gottesfrage rückt nicht nur mein Dasein als solches in eine es im ganzen umfangende und bestimmende Beziehung zu dem möglicherweise wirklichen Gott, sondern sie fordert mich auch heraus, in diese Beziehung einzutreten, weil nur in ihr der wirkliche Gott sich mir als wirklich und als göttlich zu bewähren vermag.
So gelesen, vermag Pascals Argument von der Wette uns den Zirkel des Lebens aufzudecken, in dem wir Gott gegenüber je schon innestehen und der sich in allen fundamentalen Bereichen menschlichen Daseins je auf seine Weise wiederholt. Um einige Beispiele zu nennen: Auch mitmenschliche Beziehung läßt sich nicht von außen konstituieren, auch Freiheit kann nie das Resultat äußerer Bedingungen ihrer Möglichkeit sein, auch Verstehen [20]fängt nur mit sich selber an und setzt sich in seinem Anfang sich selbst voraus. Doch während der Blitz des Verstehens schon gezündet hat, wenn ich die Augen aufschlage, und während ich Freiheit schon praktiziere, indem ich nach ihr frage und sie suche, ist Gott als Gott nicht das Mitgesetzte meines Daseins, er muß mir als Gott, als das Positive und Unableitbare von sich her, nicht von mir her aufgehen.
Gewiß ist die Tatsache, daß es mich gibt, bereits mein Geöffnetsein in die Frage nach dem, was mich gibt, gewiß ist meine eigene Existenz schon jene Positivität, in der mein Gesetztsein und Gegenübersein zum unbedingt mich, meinen Grund und meinen Sinn mir Gebenden aufgeht. Und doch hat das Zögern eines Thomas von Aquin sein Recht, der die unbedingte Sinnhaftigkeit, nach der ich auslange, nur „sub quadam confusione“, nur in einer noch der Scheidung und Klärung bedürftigen Weise mit Gott gleichsetzt;[7] und sein Gedanke hat nochmals recht, wenn er das Ergebnis der Analyse kontingenten Seins, wenn er die Unabweislichkeit absoluter Voraussetzung in seinen „fünf Wegen“ erst abschließend, sozusagen nachträglich, mit dem identifiziert, was die religiöse Praxis als Gott kennt.[8]
Um auf die Frage, die uns leitet, unmittelbar zurückzulenken: Warum und in welchem Sinn ist im Falle Gottes die Ob-Frage sekundär? Ich muß schon angegangen sein von dem, um den es in dieser Frage geht, um die Ob-Frage gemäß stellen zu können – und wenn ich sie gemäß stellen kann, dann hat sie sich bereits von einer bloß theoretischen Prüfungsfrage zu einer anderen hin überholt: zur Frage, die meine hörende Offenheit, die meine Antwortbereitschaft an ein unbedingtes Gegenüber ist, das von sich her mich anspricht, das nicht ich in seiner Existenz zu beweisen brauche, sondern das nur von sich her mir sagen kann: Ich bin, der ich bin (Ex 3, 14).