Wovon Hemmerles Gedichte erzählen

Friedensgruß

Viel erkennen und wenig sehen – das ist die Erfahrung von Wahrnehmung, die in Klaus Hemmerles Gedichten bloßgestellt wird: Wie oft erkennt schon mein Blick, was ich noch nicht wirklich gesehen habe? Wie oft gehe ich achtlos an dem vorbei, was mir so viel zeigen könnte? Wie oft entlarvt mein unbeteiligtes Schweifen mich als Außenstehenden?

Klaus Hemmerles Gedichte führen in ein Innen hinein – das Innen der Sachen an sich. Wer sich auf sie einlässt, erkennt manchmal, dass er noch nicht wirklich gesehen hat, was sich im Kleinsten schon zeigt – den Hinweis auf die Botschaft, die sich je anders und neu artikuliert. Ich beginne mit einem Friedensgruß:

In den alten Straßen der Stadt
geben jeden Tag
die Häuser sich den Friedensgruß.
Sie strecken einander die Arme entgegen,
behängt mit frischen
Friedenszeichen aus Weißem
und Freudenzeichen aus Buntem,
und die hohen Haushäupter
neigen ihre Ornamentbänder
sich zu,
daß nur ein schmaler Streifen bleibt
für die Bläue des Himmels.

Doch um das Licht
für den schweren Ocker der Mauern
hab keine Sorge.
Aus dem Spiegel des Meeres
bricht Helle
von allen Enden und Seiten herein.

Was hätte ich ohne dieses Gedicht zu kennen in den Straßen Algheros gesehen, in denen auf zwischen den Häusern gespannten Wäscheleinen weiße und bunte Kleider zum Trocknen hängen?

Jedenfalls weist das Gedicht nicht auf das hin, was die funktionalste und oberflächlichste Beschreibung für die Szene wäre: Es trocknet Wäsche. Stattdessen erzählt es, was hier zu sehen ist: Da sind Verbindung und Zuneigung, Farbenfreude und Friedensweiß, Entgegenkommen und Nähe – und all das gratis und umsonst. Denn das Licht, das die Straße braucht, bahnt sich seinen Weg.

Wenn hier auch keine einzige eindeutig religiöse Vokabel auftaucht, ist es doch ein Bekenntnis und ein Zeugnis: Im Wahrnehmbaren wartet die Botschaft – wer für wahr nimmt, was er sieht, entdeckt die Zeichen.

„Zutagetreten von Tatsachen, die man nicht sieht (βλεπομένων).“ (Hebr 11,1) nennt der Hebräerbrief ‚Glauben‘. Hemmerle sieht, was man nicht sieht – ein anderes Sehen verwandelt seinen Blick zu gläubigem Blick, der mit dem gedichteten Wort jenes Sehen bezeugt.

Wie oft erkennt schon mein Blick, was ich noch nicht wirklich gesehen habe? – Ein zweites Gedicht mag in dieses ‚Sehen‘ weiter einführen.