Gott und das Denken nach Schellings Spätphilosophie
Gang der Frage
Nur aus der Weise des Denkens ist die Aussage des Gedankens zu verstehen, die Weise des Denkens aber ist nur aus der Aussage des Gedankens zu erheben. Dieser „hermeneutische Zirkel“ weist uns im [29] Zuge unserer Frage nach dem Denken in Schellings Spätphilosophie an deren Text und an seine Aussage. Wie sollen wir uns an ihnen orientieren, um eben des Verständnisses, der Bedeutung und der Weise des Denkens, das darin waltet, innezuwerden? Drei Ansatzpunkte legen sich nah:
Es finden sich unmittelbar zur erfragten Sache beim späten Schelling zwei Aussagereihen, die sich scheinbar widersprechen, die darin, je nach der Wertung der einen oder der anderen Reihe, zu entgegengesetzten Gesamturteilen über den Charakter der Spätphilosophie Schellings führen, die sich bei näherem Zusehen aber als miteinander verknüpft, ja als zwei Seiten einer einzigen Grundeinsicht erweisen. Die beiden Aussagereihen lassen sich, im Vorblick auf die zu erörtenden Texte, zusammenfassen in die beiden Sätze:
a) Das Denken fängt mit sich selbst an, erhebt sich aus seiner eigenen und alleinigen Ursprünglichkeit und leistet im Grunde nur dies, darin aber alles: sich mit sich selbst zu vermitteln.
b) Das Denken fängt mit dem schlechthin Anderen seiner selbst an, mit dem absoluten Prius unvordenklichen Seins, es ist auf dieses verwiesen, es geht ihm um dieses, nicht nur um sich, und es leistet aus sich selbst und allein gerade nicht, worum es ihm geht: die Erkenntnis der Wirklichkeit, d. h. letztlich der absoluten Wirklichkeit, des Absoluten als eines Wirklichen.
Die Grundeinsicht, in der sich diese beiden Aussagereihen verschränken, läßt sich bezeichnen als die der „medialen Ursprünglichkeit“ des Denkens: Denken kann nur denkend beginnen und muß alles, was ihm begegnet, zum Gedachten machen, es also in seine, des Denkens, Ursprünglichkeit einholen; es denkt aber, was es denkt, nur dann, wenn es dieses auf Sein zu denkt, und damit verweist das Denken über sich selbst hinaus und hinter sich zurück, es ist nicht aus sich seiner selbst mächtig, sondern vom Sein her als absoluter Voraussetzung und absolutem Worumwillen. Es ist mit sich gleich nur als mit sich ungleich, in sich nur als sich überschreitend. Es ist ursprünglich als medial, als Vermittlung des Seins mit aidi selbst und darin seiner mit sich selbst und des Seins und des Denkens miteinander.
Die Spätphilosophie Schellings hat drei Ebenen, auf denen sie [30] sich bewegt und die ihr die Ebenen der Philosophie überhaupt und im ganzen bedeuten: a) reines Denken, b) rein rationale oder negative Philosophie, c) positive Philosophie.
Diese drei Ebenen nehmen ihren Unterschied von der unterschiedlichen Stellung des Denkens, d. h. von der unterschiedlichen Beziehung des Denkens aufs Sein. Auf der ersten denkt das Denken unmittelbar seinen Inhalt, auf der zweiten entfaltet es ihn als die universale Möglichkeit seiner selbst und darin dessen, was sein kann, auf der dritten wird ihm diese seine Möglichkeit der begreifende Begriff der wirklichen Wirklichkeit, die es als Denken gerade nicht mehr aus sich ableiten kann, um die es ihm indessen letztlich einzig geht, und die es entgegenzunehmen und im Entgegennehmen begreifend in sich zu setzen vermag. Diese drei Ebenen des Denkens zeigen sich so als Programm des Selbstgeschehens des Denkens und darin zugleich als die geschehende Vermittlung der oben angedeuteten Grundeinsicht.
Die gesamte Spätphilosophie ist, zumindest ihrem Anspruch nach, gefügt aus drei und nur drei Grundbegriffen kraft dessen, was aus ihrer immanenten und gegenseitigen Bezüglichkeit erwächst. Sie tragen gängig den Namen der „Potenzen“. Die sogenannte Potenzenlehre erscheint weithin als der undurchdringlichste Punkt der Spätphilosophie. Gleichwohl ist er für diese als die Verklammerung des Ganzen und für unser Vorhaben deshalb, weil die Potenzen Schelling als die erschöpfenden Urbegriffe, d. h. Urleistungen und zugleich Urinhalte des Denkens gelten, von entscheidender Bedeutung.
Wenn das Denken darin besteht, sie zu setzen und das in ihnen Gesetzte und Gemeinte aus sich bzw. ihnen zu entwickeln, entscheidet sich in ihnen, was das Denken ist, ja sie „sind“ das Denken, seine Interpretation durch Schelling, und sind es von der ersten der Potenzen her, die zur Setzung der beiden anderen notwendig führt; diese erste Potenz ist „Urmöglichkeit“, und von ihr her sind die Potenzen im ganzen „Möglichkeit“1. Möglichkeit als der aus sich ohnmächtige und doch ihrem Gehalt nach mit ihr identische Hinblick auf Wirklichkeit, als das nur von ihr her, so aber wirklich sie [31] vermögende: dies ist das Wesen des Denkens im Verständnis des späten Schelling.
Diese drei skizzierten möglichen Ansatzpunkte erweisen sich bei näherem Zusehen als aufeinander bezogen, als von sich her ins selbe und aufeinander weisend. Sie ergänzen sich zu einem durchgängigen Weg, dem entlang Schellings Gedanke des Denkens sich mitdenken läßt. Die das Denken leitende Grundeinsicht, ihre Anwendung und Ausformung in den verschiedenen Grundweisen des Denkens und ihre Interpretation durch den auszumittelnden Inhalt dieses Denkens: dies sind von den genannten Ansatzpunkten her die Stationen des Weges, die ihn al eins und als geeignet ausweisen, Schellings Verständnis des Denkens dem Mitdenken aufzuschließen. Leitendes Selbstverständnis, Gestalt der Entfaltung und sich selbst entgehende, weil selbstverständliche Voraussetzung des Denkens bei Schelling vermögen sich dabei zu zeigen.
Noch auf ein weiteres weisen die genannten drei Ansatzpunkte: Indem das Denken in Schellings Spätphilosophie bedacht wird, wird nicht nur ihr Organon bedacht, sondern zugleich ihr Gang und ihr Inhalt. Die Ebenen der Spätphilosophie und die auf diesen Ebenen durchgespielten Grundbegriffe der Spätphilosophie und die in diesem Durchspielen sich vollbringende Beziehung des Denkens aufs Sein: dies ist die Spätphilosophie Schellings. Die Frage nach dem Denken in Schellings Spätphilosophie fragt so unversehens zugleich nach ihr selbst.
Darin scheint der hermeneutische Zirkel, in welchem die Weise des Denkens erst dessen Aussage, die Aussage aber ebenso erst die Weise des Denkens erschließt, auf eigentümliche Weise entwirrt. Daß die Selbstreflexion dieses Denkens an ihrem Ende unseren Mitvollzug dennoch in ihr verborgene Tiefen verweist, aus denen sie sich nährt: dies wird den Zirkel aufs neue ins Kreisen bringen.
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XIII 245. ↩︎