Das Verständnis vom Menschen aus dem Anspruch des Evangeliums

Gang durch die Geschichte

Gehen wir nun mit dieser klassischen Anthropologie einmal in einem sehr groben und großen Gang, der viele Einzelheiten ganz bewußt ausläßt, in die Geschichte des Abendlandes hinein. Wir haben sozusagen als Voraussetzung für das Ganze gesagt, daß der Mensch das Wesen sei, das nach sich selber fragen könne, das sich selber offene Wesen. Und wir können und müssen zunächst einmal diese Grundthese einholen in die eben bezeichnete klassische Anthropologie. Indem wir dies tun, wird uns vielleicht jene Ausgangssituation, jenes Besondere der Epoche deutlich, welche das Abendland vor allem geprägt hat, in jener Epoche, in welche auch das Wort des Evangeliums hineinstieß und sich zunächst verfaßte, in welcher es zunächst einmal Gestalt gewann und geschichtliche, politische Gestalt gewann. Die Fraglichkeit spiegelt sich darin, daß der Mensch hier offen ist als das Wesen einer radikalen Offenheit, als das Wesen des omnia, dessen, der eine Seele hat, die nicht auf Einzelnes festgelegt ist. Der Ausgriff des Menschen ist grundsätzlich unbegrenzt. Und ebenso ist der Mensch unbegrenzt nach vorne hin, indem er sich selber und damit sein Miteinandersein gestaltet. Er wird gestaltet von dem, was größer ist als alle endliche Gestalt. Und er geht gestaltend ein in ein Werk, das als solches unabschließbar ist und in welchem er sein Wesen zwar verwirklicht, an sein Wesen gebunden ist, aber doch sein Wesen je neu, in eine je neue Konkretion hinein entscheidet.

Der Mensch ist das, indem er alles ist, was unendlich mehr ist als er selbst. Und indem er mehr ist als er selbst, vollbringt er sich geschichtlich auf eine Weise, die zwar diesen Grundansatz seines Wesens bestätigt und einholt, aber es offen läßt, wie der Mensch dieses tut. Mit dem Menschen kann etwas passieren. Der Mensch ist jenes Wesen, dem etwas passieren und zustoßen kann. Der Mensch ist jenes Wesen, das sich verfehlen kann. Der Mensch ist jenes Wesen, das offen ist, sich selber zu gewinnen oder zu verlieren, weil er von dem her lebt, was größer ist als er selbst. Gerade diese Fraglichkeit des Menschen ist bedacht in den großen Entwürfen eines Thomas von Aquin etwa, über den Grund der Möglichkeit des Bösen. Die Problematik endlicher Freiheit, dieses, daß sie ganz und gar Freiheit ist und darin eine geradezu gefährdete, [9] ja tragisch gefährdete Offenheit zu je größerem als nur zu sich selber, dies ist kennzeichnend dafür, wie auch in dieser klassischen Anthropologie der Mensch als Wesen der Frage realisiert ist. Aber das Führende und Prägende in dieser klassischen Anthropologie war doch das Wort von der Gestaltung. Wir könnten auf unterschiedliche Weise die platonischen und aristotelischen Ströme des Gedankens durchkonjugieren, durchvariieren und sehen, daß in der Antike und in ihrem Reflex ins Mittelalter hinein wesenhaft der Gedanke des Bildes im Vordergrund stand. Der Mensch verstand sich als Bild, als Bild des je Größeren, in dem das je Größere gegenwärtig ist, von dem her es sich selber erst versteht. Urbild und Abbild, Treue des Abbildes zum Urbild, Orientierung am Urbild, Gehorsam dem Urbild gegenüber, Größe des Bildes und Angewiesenheit des Bildes aufs Urbild, dies ist das Kennzeichnende für diese antik-mittelalterliche Anthropologie. Der Mensch ist der Gebildete, in dem das Bild, das Gott selber ist, das Urbild, das Gott selber ist, sich einholt und er ist jener, der dieses Bild Gottes als sein eigenes Bedingen aufprägt, dem Mitsein aufprägt, der Polise aufprägt. Aber hier bricht bereits ein merkwürdiger zweiter Strom auf, und zwar aus der Mitte des Christlichen:

  1. Die Namen Augustin und Anselm mögen hier stellvertretend für viele andere stehen. Augustin und Anselm stehen ganz und gar auf ihre je sehr unterschiedliche Weise in dieser Tradition. Sie bewahren diese Tradition, aber ein neuer Akzent kommt in diese Tradition hinein. Der Mensch ist Wesen der Antwort, Wesen, das angegangen ist, das angerufen ist und das darin zur Antwort steht. Der Mensch ist neu das Wesen der Frage, indem er von einem Anruf in Frage gezogen wird. Dieses wirft den Menschen auf sein eigenes Zentrum, auf seine eigene Innerlichkeit zurück. Der Mensch erfährt sich tiefer als je zuvor zentriert in seinem Innen, dem Ego, der Quelle, dem Ursprung des eigenen Ich, der eigenen Verantwortlichkeit. Der Punkt, an dem ich selber Antwort zu geben habe, bricht auf. Der Mensch wird heilsgeschichtlich verstanden als einer, der sich verloren hat und der deswegen wieder in seine Situation der Antwort hineingestellt werden muß; restitue nos – erlöse uns, mache mich zu dem, was ich bin. Diese Leidenschaft, diese Sehnsucht, [10] im Augustinischen wie im Anselmischen, diese heilsgeschichtliche Zentrierung: ich, der ich meine Antwort verloren habe, gib mir die Kraft, wieder zu antworten, mach mich wieder zu Deinem Bild, antworte mir und mache mich zum Wesen der Antwort. Dies erfährt gerade bei Anselm eine merkwürdige Steigerung. Eines der kühnsten Worte bei ihm in seinem Proslogion ist die Bitte an Gott – restitue ergo te nobis, nicht mehr nur restitue nos, nicht mehr nur: mach mich wiederum, mach uns wiederum zu dem, was wir waren, sondern restituiere Dich uns. Und das heißt bei Anselm etwas Ungeheuerliches, etwas für den Menschen Entscheidendes: Du hast Dich mir – so paraphrasiere ich Anselm – Du hast Dich mir bereits im Glauben in einer Art Vorschuß gezeigt als der, der Du bist. Du hast mir bereits in einem Vorschuß gezeigt, wer ich bin. Aber Du willst doch von mir Antwort und deswegen muß ich nun von mir aus, aus meiner eigenen Innerlichkeit heraus, aus meiner eigenen Ursprünglichkeit heraus, aus meinem eigenen Ich heraus Dich einholen. Jetzt gib mir, daß ich von meinem Innen her, von meinem Denken, von meinem Verstehen her Dich finde, Dich einhole, daß ich den Weg, den Du zu mir hingemacht hast, von mir her zu gehen vermag, aus meiner Rationalität, aus meinem Denken heraus. Fides quaerens intellectum – der Glaube sucht den Intellekt, sucht das Verstehen, und zwar jenes Verstehen, das den Glauben steigert, das aber darin sogleich mich als einen anderen und zweiten und eigenen rationalen Ursprung ins Spiel bringt. Aus der inneren Dynamik, ganz Antwort geben zu wollen, bricht die Eigenständigkeit der Innerlichkeit, der Subjektivität, der Rationalität zum ersten Mal elementar bei Anselm von Canterbury am Anfang des 2. Jahrtausends auf. Damit aber ist das neue Thema der Innerlichkeit und der Subjektivität endgültig etabliert und setzt sich Stück um Stück gegen eine bloße Bildmetaphysik im Verlauf der abendländischen Geistesgeschichte durch, aus christlichem Impuls einen anderen christlichen Impuls überwachsend.

  2. Dieser Impuls wird dramatisch deutlich an einer anderen Stelle, wir vergessen es nur zu rasch, an welcher es noch einmal darum ging, die ganze Tradition einzuholen und zu rechtfertigen, und in welcher – im Versuch des Einholens – der ganzen christlichen [11] und antik-abendländisch-mittelalterlichen philosophischen Tradition Neues und unerhört Anderes aufbrach: bei René Descartes. Für ihn war es die selbstgestellte Aufgabe, sich gegen jenes, was gegen einen bloßen Nominalismus, was gegen eine bloße Auflösung aller Erkennbarkeit in Unerkennbarkeit stand, selber nun Rechenschaft zu geben. Nicht mehr von außen durch die Tradition, sondern von innen aus der eigenen Innerlichkeit, aus der eigenen Selbstursprünglichkeit sollte das, was bisher galt, neu zum Gelten gebracht werden. Und wie ist der Weg dazu? Ich verkürze, um nur auf einige Punkte hinzuweisen, die für die Anthropologie eben nun entscheidend werden, für das, als was der Mensch sich hier auf Erden empfindet, wie er hier zur Fraglichkeit aufbricht und die Fraglichkeit etwas anderes bedeutet. Der methodische Ansatz heißt nun Zweifeln, Fragen. Nur durch das Feuer der Frage hindurch bewährt sich, was nicht hinterfragbar ist, was nicht durch eine Frage zerstörbar ist. Der Mensch setzt sich dem aus, um sich selber in Frage zu stellen und das zu erproben, was nicht in Frage zu ziehen ist, was in aller Frage, in allem Zweifel das je schon Sichere, das je schon Vorausgesetzte sei. Und so stößt Descartes durch den Zweifel in jene reine Innerlichkeit, in jenes reine Ego in jenen reinen entwerfenden Punkt vor, aus dem nunmehr die neuzeitliche Philosophie entspringt.

Bei Descartes hat dieses Ego, dieses Fundament nur den Charakter des Vorläufigen, denn er tut in großartiger Analyse dar, wie eben die Sicherheit des Ich sich nicht selber trägt, sondern wie die Möglichkeit der Frage und des Zweifels und darin auch die Möglichkeit der Sicherheit des Ich je schon umfangen ist davon, daß dieses Innen des Menschen ihm von außen zugesagt ist. Er stößt im innersten Punkt des Ich auf eine großartige Weise zu dem durch, der das Ich allererst ermöglicht, gewährt und schenkt, zu dem, von dem aus alles Fragen und alles Denken erst möglich wird. Er gründet den Menschen so im radikal Anderen, in Gott.

  1. Aber eine verhängnisvolle, oder doch richtiger gesagt, folgenschwere doppelte Entscheidung ist getroffen, ein kostbarer doppelter Preis ist gezahlt. Der erste Preis: das Innen und Außen sind gespalten. Die Selbstverständlichkeit, in welcher der Leib dem Menschen gegeben ist, in welcher der Leib der Raum ist, in welchem das alles sich wiederholt und gestaltet und zeigt, ist ge- [12] spalten Die Einheit der Substanz, die Einheit der Wirklichkeitserfahrung fällt krass auseinander in die res extensa und den Geist, in die res cogitans; res cogitans das „Denkeding“ und res extensa – das „Ausdehnungsding“ brechen auseinander. Die beiden Welten, Innerlichkeit und Äußerlichkeit, treten in eine bislang in der Dimension des Gestaltens nie gekannte Konkurrenz. Diese Entscheidung ist äußerst folgenschwer, weil es nunmehr immer um den Kampf der Bestimmung des Äußeren vom Inneren oder des Inneren vom Äußeren heraus geht. Der Mensch hat nur noch die beiden Alternativen in letzter Konsequenz, entweder sein Äußeres als die Projektion des Inneren oder sein Inneres als eine bloße Projektion des Äußeren zu verstehen. Diese banal vereinfachten beiden Modelle sind die Modelle, in. denen neuzeitliche Anthropologie alsdann verläuft.

Der zweite Preis, der in diesem Kontext gezahlt wird, heißt das im Grunde einzige Thema der neuzeitlichen Philosophie, wenigstens der Philosophie bis übers Ende des deutschen Idealismus hinaus, heißt – so oder so gewendet, denn ich muß auch den Marxismus im Grunde mit einbeziehen –: Selbstvermittlung. Wie vermittelt sich das Subjekt mit sich selber, wie etabliert sich das Subjekt aus sich selber, wobei es nur verschiedene Spielarten dessen gibt, wer oder was das Subjekt ist, der Einzelne oder die Gesellschaft? Das sich Vermitteln des Subjektes, die Selbstbegründung und Selbstorganisation des Subjekts, wird das neue Thema. Dies sagt nunmehr für die Anthropologie, um dies noch einmal zusammenzufassen: auf der einen Seite bricht Äußeres und Inneres in jene Konkurrenz auseinander und alles dringt zugleich ein in den methodischen Zwang eines einzigen Ganges der Selbstvermittlung, so daß hier einfach die Frage heißt: entweder ist alles Äußere dasjenige, worüber der Mensch aus seiner eigenen Subjektivität verfügt, was er machen, manipulieren, bewerkstelligen kann, der Mensch ist das Wesen der Machbarkeit durch sich selber in letzter Konsequenz, oder er ist umgekehrt der rein sich äußerlich Zugefallene, der zu konstatieren hat, wer er ist, von äußeren Bedingungen her.

  1. In diesem Feld spielt nunmehr das Ganze, was wir in vielfältigen Schattierungen in der Geistesgeschichte von Leibnitz bis Feuerbach [13] und über Feuerbach hinaus bis Marx lesen können und müssen. Wer ist die Projektion von wem? Wer ist der Determinierende von wem? Auch das anthropologische Verständnis, auch das Menschenbild etwa der Psychoanalyse, gehört noch in diesen großen abendländischen Kontext irgendwo mit hinein, dieses Streben danach, den Menschen zu befreien von der Fremdbestimmung zur reinen Selbstbestimmung oder aber die Desillusionierung aller Selbstbestimmung und die Offenlegung einer bloßen Fremdbestimmung. Dies sind die beiden Theorien des Menschen, die es gibt, und auf die alles andere zurückgeführt wird. Das höchst Sonderbare hierbei aber ist dies: wir sehen eine merkwürdige Koinzidenz der beiden am meisten voneinander entfernten Menschenbilder: Auf der einen Seite sagt nicht selten derselbe Mensch, ich bin der rein Fremdbestimmte, ich kann nicht dafür, wie ich bin, ich bin das reine Produkt von Verhältnissen, ich bin das reine Produkt von soziologischen oder biologischen oder psychologischen Determinanten und ich erhebe das Postulat der reinen Selbstbestimmung, ich lasse mir von niemand anderem drein reden, ich bestimme nur mich selbst und ich erwarte und fordere und arbeite daran, daß der Mensch sich selber machen, sich selber manipulieren, sich selber bestimmen kann, daß er von nichts anderem als von seiner eigenen reinen Subjektivität her zu bestimmen ist. Diese These, rein bestimmt zu sein, und das Postulat und das gigantische Bemühen, alles den Menschen selber machen, entscheiden und bestimmen zu lassen, diese beiden gegenläufigen Theorien koinzidieren im praktischen Pathos des Menschen am Ende der Neuzeit auf eine merkwürdige Weise, und auf ähnliche Weise koin-zidiert die reine Verzweiflung, in welcher der Mensch sagt: es ist mir fraglich, wer ich bin, ich weiß nicht, wer ich bin, ich kann es picht wissen – vielleicht sogar, ich will es nicht wissen –, wer ich bin, ich weiß nicht was, fragt mich nicht, und das Postulat des Optimismus: ich möchte den Menschen machen, ich möchte den Menschen konstruieren, ich möchte der sein, und der Mensch soll der sein, als welcher er sich selber beschließt. Der Mensch beschließt, wer er ist, und der Mensch sagt zugleich, ich bin ein hoffnungsloser Fall – beides in einem.

Diese merkwürdige doppelte Koinzidenz der unversöhnbaren Gegensatz; ist sozusagen jenes Auflesen einer neuzeitlichen Entwicklung in [14] ihren Ergebnissen, die in ihren Wurzeln vielleicht auf diese Weise ein klein wenig sichtbar gemacht werden konnte. Und so müssen wir uns am Ende fragen, ob nicht Heidegger in seinem Humanismusbrief, wenn er sagt, daß der Mensch das Wesen ist, das eben jeglicher Definition entgeht, am schärfsten am Ende der Neuzeit das gesagt hat, als was der Mensch sich de facto im Verlauf dieser Neuzeit vollbrachte. Und am Anfang dieser Neuzeit hat es wohl keiner schärfer gesagt, als der große geniale Antipode des großen und genialen Descartes, Blaise Pascal, den wir immer mit so frommer und fröhlicher Begeisterung in seinem Satz zitieren, daß der Mensch unendlich den Menschen übersteige. Aber es war bei ihm kein Satz im frommen Orgelklang, denn dieser Orgelklang war zugleich untermalt von skandierendem und düsterem Schlagzeug, denn er heißt: der Mensch entgeht unendlich sich selbst. Der Mensch ist das Wesen, das sich nicht in sich selber schließt und vollendet, aber er ist zugleich eben das Wesen, das aus sich selbst und aus seiner Selbstvermittlung und aus dem Versuch seiner Selbstvermittlung sich nie selber gewinnen kann. Können wir nicht in dieser Entwicklung, in welcher der Mensch aus sich selber sich vollbringt und sogleich sich zerspaltet in jenes Gegeneinander in Innen und Außen jene drei Krisen neu lesen und geistesgeschichtlich selbst vermitteln, die wir eingangs festgestellt haben als Krisen des Menschen von heute, Krise seiner Identität, die eben nur noch von ihm und seinem Beschluß abhängt, aber von einem Beschluß, der sich immer und immer wieder In die Not gestellt sieht, daß er ohnmächtiger Beschluß ist, weil der Mensch zugleich seine Determiniertheit von außen erfährt. Krise der Kommunikation, weil es nur am je Einzelnen je punktuell liegt, wer er ist, und weil ihm sogleich das Außen auf eine merkwürdige Weise entzogen ist, weil ihm die verbindende Verbindlichkeit zum anderen hin entzogen ist. Krise des Dienstes, in dem ein übergreifendes Wofür und Wozu, in dessen Dienst er sich stellen kann, einfachhin entzogen ist.