Das Neue ist älter

Gegenprobe und Dank

Wir haben die ganze Zeit von Hans Urs von Balthasar gesprochen. Auf jedem Schritt unseres Gedankens sind wir mit ihm gegangen. Seine Motive haben unseren Gedanken geleitet, seine Impulse ihn getrieben. Es ist nicht notwendig, dies im einzelnen zu belegen und einzuholen. Daß man durch den Garten, den er angelegt, bepflanzt und gehegt hat, auch einen anderen Gang zurücklegen kann als jenen, den er uns unmittelbar vorgeht, bestätigt die innere Stimmigkeit und den unverbrauchten Vorrat seines Denkens, die Ursprünglichkeit seiner Einsicht. Vielleicht ist bei diesem Gang uns aufgefallen, wie sehr auch Momente in das Wesentliche seines Werkes hineingehören, die aufs erste von der Grundsubstanz seines Denkens ablösbar erscheinen. Sie sind es nicht. Ich erinnere an den Karsamstag, erinnere an das Marianische, an die Bedeutsamkeit der Dichter und der Kulturen, alles dessen, was eben „säkular“ ist, erinnere an die Bedeutung der Weltgemeinschaften. In einer ekklesialen Transzendentalienlehre gehört dies alles hinzu, kann man eigentlich nichts von dem wegstreichen. Die Ursprungskraft solcher Theologie – im doppelten Sinn des Rückstoßes ins je Ältere und des Vorstoßes ins je Neuere – setzt eine Antithese ebenso gegen die bloße Perfektion des überkommenen Systems wie gegen den Abbruch im Sinne einer vordergründigen Anpassung und gar eines Verrats an den Quellen.

Aber ist diese Theologie aus dem Älteren, aus der Ursprünglichkeit der Liebe Gottes, wirklich neuer? Verschließt sie sich nicht gegen Postulate des Neuen, die in unserer Epoche vielfältig erhoben werden und an denen wir nicht einfach vorbeihören dürfen? Eine Gegenprobe ist gefordert. Ich denke da an die Postulate eines anthropologischen Ansatzes der Theologie, eines Ansatzes bei der Geschichtlichkeit, eines Ansatzes bei der Gesellschaftlichkeit, eines Ansatzes beim Säkularen, bei der weltlichen Welt. Von allem dem, so sagt der erste Eindruck, ist der Ansatz Balthasars weit weg. Ist er es wirklich? Kann er nicht umgekehrt dazu beitragen, das, worum es in den genannten – postulierten oder versuchten – Ansätzen geht, theologisch von der Mitte her schärfer zu fassen und zugleich nachhaltig zu befruchten?

Anthropologischer Ansatz: Nur dann findet der Mensch wahrhaft sich selbst, wenn er sich als „Antwortender von Anbeginn“ findet, wenn er in sich die Ursprünglichkeit des Zweiten wahrnimmt, der als der Geliebte ein Liebender ist. Dasein und deshalb geliebt werden wollen – dieser Ansatz kehrt sich im Vollzug von Theologie um und entdeckt als sein Älteres und Neueres: geliebt sein und [96] darum dasein. Nur in solcher Kehre in den theologischen Ansatz hinein hält der anthropologische Ansatz stand.

Geschichtlicher Ansatz: Die Alternative zu einem bloß systematischen Gebäude von Theologie, das im Grunde je schon fertig ist, weil sich alles aus feststehenden Prämissen herausrechnen läßt und Heilsgeschichte nur Aufführung eines vorkonzipierten Stückes bedeutet, ist nicht eine bloß induktiv historische Theologie. Materialien, Zeugnisse in ihrer Vieldeutigkeit und Ungesichertheit, mannigfache Einflüsse in der Überlieferung, dies alles muß ernstgenommen werden – und dazu alles jene, was in der Geschichte geschieht und gerade nicht nur Bestätigung von Lehrsätzen ist, sondern nicht aufgeht. Aber das Wort Gottes und unsere Erkenntnis von ihm können nie nur Produkt unserer Aufarbeitung des Materials sein – dies stellte an die Stelle eines von oben konstruierten ein von unten konstruiertes System, auch wenn dieses letztere Lücken und Aporien übrig ließe. Im System von unten ist Gott nicht drinnen, wie in jenem von oben wir, wir mit unserer Geschichte, nicht drinnen wären. Systeme von unten und von oben sind je schon aufgebrochen und überholt in Gottes Katholizität, in seinem Kommunizieren mit uns, in seinem Hineingehen in die Ungereimtheiten und die Ungelöstheiten, in die Dunkelheiten und Vorläufigkeiten unserer Geschichte. Nur weil sie eine von ihm angenommene, eine von ihm mit uns geteilte, eine Geschichte ist, in welcher er mit uns kommuniziert, finden wir nicht nur Materialien und ein paar Hinweise, sondern sein Wort. Dieses Wort, welches das Gespräch mit ihm, den Weg mit ihm, die Geschichte mit ihm gerade nicht ersetzt, sondern eröffnet.

Gesellschaftlicher Ansatz: Wenn sich Theologie darin erschöpfen soll, aus Gottes Wort und Handeln Modell gesellschaftlichen Verhaltens und Impulse gesellschaftlicher Entwicklung beizubringen, dann versinkt sie letztendlich in Bedeutungslosigkeit für die Gesellschaft. Denn ihr gesellschaftliches Potential hat die Theologie zuinnerst aus dem, was die bloße Gesellschaftlichkeit transzendiert. Nur weil Gott sich in communio und missio, in Gemeinschaft und Sendung, in Katholizität und Apostolizität selbst erschließt und mitteilt, nur weil er in solcher Erschließung und Mitteilung aufgeht als die dreifaltige Liebe, nur weil er auf sie als vom Menschen nicht erreichbare Vollendung hin das Leben des Menschen und der Menschheit orientiert, ist Theologie gesellschaftsrelevant. Und sie ist es in der Tat. Denn im Leben auf die Vollendung hin, welche Geschichte und Gesellschaft nicht aus sich selber vermögen, verwandelt sich menschliches Dasein in Dasein für und Dasein mit. Einheit, Katholizität und Apostolizität setzen ein anderes Modell des Mitseins der synchronisierten Einsamkeit der vielen oder ihrem Verzehrtwerden vom kollektiven Großsubjekt entgegen. Der Ansatz bei der Freiheit der Liebe, die sich selbst überschreitet und verschenkt, hat auch strukturelle Konsequenzen – soweit dieser Ansatz in sich gilt und nicht als ideologischer Überbau oder bloße Motivierung für gesellschaftliches Handeln fungiert; denn dann würde er wiederum untergehen im selbstmächtigen Herstellen des Großsub- [97] jektes Gesellschaft, in welchem der einzelne und die Gemeinschaft der einzelnen untergehen.

Säkularer Ansatz, Ansatz bei der weltlichen Welt: Wo das sacrum und sanctum die Liebe ist, wo diese Liebe alles heiligt, da ist die Welt weltlich. Denn Liebe macht, daß alles ist, was es ist, sie läßt sein, sie läßt Wahrheit unverstellt aufgehen. Aber die unverstellte Wahrheit der Welt im Licht der Liebe ist Welt, die Hoffnung hat, eine Hoffnung, die sich nicht überanstrengt, weil sie nicht Hoffnung auf diese Welt und ihre Vergänglichkeit, sondern Hoffnung für die Welt und ihre Vergänglichkeit ist, Hoffnung, die sich gründet im Unvergänglichen jener Liebe, die Welt wird, aber darin zugleich größer bleibt als diese Welt. Und aus solcher Liebe wächst mit der Heiligkeit alles Seins jene katholische Offenheit und beziehentliche Einheit, in welcher das Ganze und sein Sinn und somit gerade die Welt gerettet sind. Das Auseinanderbrechen in Silben und Fragmente, aber auch das Verstummen der vielen Worte in der Einsilbigkeit der bloßen Rationalität sind überwunden und aufgehoben in jenes Weltgespräch, das nur möglich ist, weil das Gottgespräch wirklich ist, das dreifaltige Gespräch der Liebe, die sich zu dieser Welt und zu diesen Menschen, zu ihrer Erschaffung und Erlösung, entschließt.

Die Andeutungen, die hier zu anderen Ansätzen der Theologie und ihrer Entsprechung und Vertiefung in einem von Balthasars Ansätzen geleiteten Denken gemacht wurden, sind allzu kurz. Sie erwecken in solcher Kürze den Eindruck, als ob doch alles mit einigen Sätzen abgetan wäre. Der Blick in das Werk Hans Urs von Balthasars belehrt uns eines Besseren. Es hat den Vorteil, daß dort alles nicht so schnell und so nahtlos zum Stimmen und zur Perfektion kommt. Gerade darum aber lohnt es sich in der Tat, sich auf jenes Alte des Ansatzes bei der sich verschenkenden Liebe Gottes einzulassen, das wahrhaft Neues in die gesuchten und versuchten Ansätze von Theologie einzubringen vermag.

Ein vielgenanntes Postulat haben wir noch nicht aufgeführt: daß Theologie heute praxisorientiert sein müsse, daß es auf den Vollzug ankomme. Ja, genau dies ist es. Aber nicht auf jene Praxis, die deswegen schon von gestern ist, weil sie nur eine vorgedachte Theorie anwendet. Nein, Praxis, in die hinein sich Theologie überbieten und aus der sie zugleich entspringen soll, ist gelebtes personales Verhältnis: Nachfolge. Die Theologie, in die uns Hans Urs von Balthasars Denken einweist, entfaltet sich nur und hat nur ihren Sinn, wenn wir sie mitspielen. Nur die Theologie stimmt, nur die Theologie ist wahr, die eine Theologie zum Heiligwerden ist, die darauf angewiesen ist, uns zu heiligen durch die Liebe, an die wir glauben und an die wir nur dann glauben können, wenn wir zugleich bereit sind, sie zu tun. Nur die Theologie hat Konsistenz, die uns mit Gott und miteinander und so mit uns selber eint, die uns befähigt, communio zu leben und zu wirken – Theologie als Weg, Wegweisung und Weggemeinschaft zur Einung, zur communio. Nur eine „katholische“ Theologie besteht unsere Welt, eine Theologie, die uns selber in Anspruch nimmt für die anderen, für das Ganze. Und Theologie darf [98] nicht nur Zeugnisse analysieren, sie muß Zeugnis sein und zum Zeugnis befähigen: apostolische Theologie. Sie muß uns selber unsere Ruhe und unsere kritische Distanz kosten, muß uns sagen lehren: Rufe mich, ich gehe, sende mich. Und in solcher Theologie ist Maria nicht bloß ein Gegenstand des Nachdenkens und der Verehrung, solche Theologie will uns Maria werden lassen, auf daß wir empfänglich sind wie sie. Dann werden wir zu jenem Neuen, das älter ist, wir werden zur Quelle – und es gibt nur eine Weise, wie wir Quelle, Ursprung sein können: als Antwort. Gottes Wort will sich ereignen in unserer Antwort, in unserem Ja, in unserem marianischen Fiat: mir geschehe nach deinem Wort. So ereignet sich das Menschlichste und das Göttlichste, hier wird Gott selber, hier wird die Liebe Gestalt. Wir werden neu und Gott selber geht neu auf in uns für die Welt.

Du bist
vor Zeit
in Ewigkeit

und wirst
zum Teil
von Welt und Zeit

nur weil
der Menschheit
Schuld und Leid

allein im Raum der Zeit
erlöst wird in
die Ewigkeit

Hildegard Goebels