Der Himmel ist zwischen uns

Gemeinde

Erneuerung der Kirche wird in den letzten Jahren besonders als Erneuerung von Gemeinde verstanden. Stichworte wie geschwisterliche Gemeinde, dienende Gemeinde, missionarische Gemeinde sind gang und gäbe. Sie weisen auf mehr als auf Wunschträume. Und doch klaffen Ideal und Wirklichkeit schmerzlich auseinander. Lautloser Auszug bis in die ehemalige Kerngemeinde hinein; verschärfte Spannungen zwischen Jung und Alt, zwischen Konservativ und Progressiv, zwischen Räten, Verbänden, Gruppen, zwischen Priestern und Laien; trotz vermehrter pastoraler Aktivitäten die Un- [69] fähigkeit, Glaubenserfahrungen zu machen und sie miteinander auszutauschen; eine Erwartungshaltung, die immer höhere Ansprüche an Verkündigung und pastorale Versorgung stellt: das macht beinahe jedem zu schaffen, der Verantwortung in einer Gemeinde trägt.

Wenn nun eine Handvoll Leute sich gemeinsam entschließen, in der Gemeinde und für sie mit Jesus in ihrer Mitte zu leben, dann mag das zunächst als ein rührend harmloses Unternehmen erscheinen. Gottesdienst und Predigten werden nicht sofort attraktiver, und Menschen, die der Kirche bereits den Rücken gekehrt haben, werden nicht schnurstracks aufgefangen. Was hier passiert, liegt auf einer anderen Ebene.

Einzelne wenden sich Gott und wenden sich um Gottes willen einander zu. Sie machen einen Schritt auf den Pfarrer zu, nicht weil er ihnen liegt, sondern weil in ihm die Kirche, weil in ihm der Herr präsent ist. Sie machen nicht nur mit, sondern sie tragen mit. Sicher, sie sind bereit, da und dort einzuspringen, aber dies ist nicht das erste. Das erste ist vielmehr die Unerbittlichkeit, mit der sie alles daran setzen, dass Jesus wirklich zugegen sein kann. Das Angebot Jesu in seinem Wort, in seinem Sakrament, im Amt der Kirche findet ein tragendes Gegenüber: Jesus in der Mitte. Jesus gewinnt sozusagen eine Dimension im Leben der Gemeinde hinzu: die des Zwischen. Er prägt zumindest an einer Stelle ausdrücklich die Atmosphäre. Es gibt gemeinsames Leben mit ihm, gemeinsame Erfahrungen mit ihm. Der Bann der geistlichen Sprachlosigkeit wird gebrochen. Aber nicht nur das Leben dieser wenigen miteinander wird intensiver. Es wächst zugleich die Offenheit, anderen zuzuhören, sich für sie zu interessieren, selbstverständlich für sie da zu sein.

Der Schritt auf die anderen zu wird zugleich zum Schritt in die Einrichtungen, Gremien, Gruppen der Pfarrgemeinde [70] hinein – nicht mit dem Ziel, eine neue Interessengruppe zu bilden oder zusätzliche Aktivitäten zu inszenieren, sondern mit dem Ziel, Raum vorzubereiten für Jesus in der Mitte. Natürlich führt der Weg auch zum Pfarrer. Mit ihm eins sein gehört dazu, wenn man miteinander so eins sein will, dass Jesus in der Mitte ist. Der Pfarrer soll erfahren: Hier vertraue ich meine Anregungen und Anliegen nicht nur Menschen guten Willens an, sondern dem Herrn selbst, der unter ihnen lebt. Und umgekehrt: Hier erwarten Menschen von mir nicht etwas, sondern den Herrn, und wenn ich weniger gebe, gebe ich zuwenig. Es hieße also dieses Maß unterbieten, suchte er bei ihnen nur Entlastung oder gäbe er ihnen nur Mitsprache. Vielmehr soll an dieser Stelle die Grundstruktur von Gemeinde ausdrücklich und lebendig werden. Jesus wird vom Pfarrer kraft seiner Sendung in die Gemeinde gebracht; der Pfarrer aber findet Jesus bereits in der Gemeinde vor, er entdeckt, dass er in vielen einzelnen, ja dass er zwischen einzelnen bereits lebendig ist. Jesus im Pfarrer und Jesus in der Gemeinde begegnen einander, zwischen Pfarrer und Gemeinde will Jesus in der Mitte leben, er selbst will der Herr der Gemeinde sein.

Das bewusste und beständige Leben mit Jesus in der Mitte fängt in einer Gemeinde gewöhnlich unter wenigen an. Aber die innere Dynamik dieses Lebens lässt nicht zu, dass es nur wenige bleiben. Die Früchte, die aus diesem Leben wachsen, geben eine Antwort insbesondere auf jene Gefährdungen von Gemeinde, die uns schon aufgefallen sind: lautloser Auszug, Spannungen, Unfähigkeit zur Kommunikation, übersteigerte Erwartungen. Es entsteht jenes Klima, das auch die Fernen wieder einlädt. Der Einheit und der Verständigung werden Wege bereitet. Man spricht wieder über den Glauben, man spricht wieder über Gott. Verfügbarkeit und Bereitschaft [71] treten an die Stelle einer passiven Konsumhaltung.

Hier geschieht nicht nur Verlebendigung von Gemeinde, hier zeichnet sich auch eine Lösung ab für zwei extreme Situationen. Immer mehr Gemeinden werden in den nächsten Jahren keinen Priester mehr in ihrer Mitte haben. Wo Menschen so miteinander leben, dass der Herr unter ihnen ist, da bleibt eine lebendige Quelle in der Gemeinde, aus der sich ihr Leben nähren und gerade in solcher Belastung weiter wachsen kann. Noch härter ist freilich die Prüfung dort, wo im Druck der Verhältnisse die tragenden Strukturen von Kirche ausrinnen oder zusammenbrechen, wo Jesus in der Eucharistie, in der Verkündigung, in der Hierarchie praktisch unerreichbar geworden ist. Kirche kann hier nur weiterleben, wo Jesus in der Mitte lebt. Wo er ist, da behält auch die Hoffnung ihr Recht: dass sich durch alle Bedrängnisse hindurch ein neuer Anfang schenken wird. Die stärksten Glaubenszeugnisse unserer Epoche sind Zeugnisse der Kirche, die fast allein durch Jesus in der Mitte noch zu bestehen vermag.