Weite des Denkens im Glauben – Weite des Glaubens im Denken

Genetisches Mitdenken*

In dieser Methodik – dies eine dritte Stufe – ruht ein unselbstverständlicher Ansatz, der so nicht allein bei Bernhard Welte zu finden ist, der aber bei Bernhard Welte auf eine besondere Weise ausgeprägt ist. Im Vergleich mit anderen Ansätzen zeigt sich, daß Welte das theologische und philosophische Denken auf eine neue Ebene hebt. Welte erschloß uns Kants „Ich denke“ immer und immer wieder in seiner heuristischen Kraft. Die Kant-Seminarien und -Vorlesungen gehörten für mich zu den erhellendsten und ich bin froh, daß ich Kant und Descartes nicht nur als Karikaturen kennengelernt habe, zu denen sie mitunter in einer zu schlichten katholischen Überlieferung gemacht werden, mit dem Ziel, gegen die „Feinde“ der Kirche vorzugehen. Aber Welte hat nie aus dem „Ich denke“ allein die Welt konstruiert, sondern er hat immer mit jedem Gedanken mitgedacht. Er hat genetisch gedacht. Er nahm das „Ich denke“ von Kant und die Phänomenologie von Heidegger, er nahm Bonaventura und Eckhart, er nahm vor allem und mit einer großen inneren Nähe „seinen“ Thomas und dachte diese Gedanken mit.

Eine Bemerkung zu „seinem“ Thomas möchte ich anfügen: Bernhard Welte war kein Thomist im neoklassischen Sinn und trotzdem war Thomas der Denker, der ihn am meisten bewegte, und zwar gerade deswegen, weil der Aquinate sich nicht nur auf eine Denkebene beschränkte, sondern sich tangential an Wirklichkeit heranarbeitete; Thomas von Aquin hatte die Unbefangenheit, Aristoteliker zu sein und das zu scheiden, was in der Aristotelischen Überlieferung – etwa im Spanien der Araber – für ihn hilfreich war und was nicht. Daß Thomas zugleich den Mut hatte, in Fragen der Partizipationslehre beinahe Neuplatoniker zu sein, und auf diese Art und Weise viele Methoden zuließ, das hat Bernhard Welte bewegt und ihm gezeigt, daß jener, der das große System aufbaute, von innen her mehr war als bloßer „Systematiker“.

Welte wollte alle Gedanken gerade nicht in einer ästhetisch-spielerischen Beliebigkeit – „ästhetisch“ im negativen Sinn des Wortes – mitdenken. Er hat grundsätzlich so gedacht, daß darin [230] Gedanken selbst gedacht, mitgedacht wurden und daß darin ein Dialog aufging.

Der Ort, an dem die Wahrheit wohnt, der Ort, an dem der Gedanke sich konstituiert, der Ort, an dem das Phänomen in seiner ganzen Breite gesehen werden kann, ist jenes Selberdenken, das zugleich ein Mitdenken, ein Denken auf den Anderen zu und von ihm her ist. Nicht mehr in der abgeschlossenen Kapsel des Ego sitzt der innere Richter und der innere Zuspruch der Wahrheit, sondern in der verborgenen, sich entziehenden und doch gewährenden Mitte, die in den vielen inneren Ich-Punkten sich unterschiedlich äußert und sie ins Gespräch bringt. Anstelle des isolierten Subjekts ging es Welte um das Zwischen des Dialogs als Ort des Denkens. Das scheint mir ein neuer Ansatz zu sein.

Dann aber kann ich nicht ungeschichtlich, nicht von der Situation abgehoben denken. Dann muß ich wissen, von wo aus Du denkst und welches die Bedingungen der Möglichkeit Deines Denkens, welches Deine Dir geschichtlich vorgegebenen Aprioris sind. Und ich muß meine eigenen geschichtlichen Aprioris entdecken. Es gibt durchaus ewige Wahrheit, aber es gibt sie nicht bloß gleichsam wie ein Gewürz, das unter die drei Maß Mehl unseres davon unabhängigen Denkens gemischt wird, sondern sie zeitigt sich von innen her im Jeweiligen des Augenblicks, in dem der Gedanke gedacht wird und in dem der Gedanke den Gedanken zündet. Dann aber kann die Geschichte nicht mehr in einer bloß äußeren Epocheneinteilung gesehen werden, sondern sie wird in einer neuen Weise von Epochalität verstanden. Der Gedanke der Seinsgeschichte von Martin Heidegger ist auf eine Weise, von der ich nicht zu entscheiden vermag, ob sie Heidegger entspricht, bei Bernhard Welte in dem Gedanken der Epochen des Verstehens des Christentums, der Epochen des Denkens, fruchtbar geworden. Er versuchte, die Veränderungen in den Aprioris und in den Bedingungen des Denkens achtsam wahrzunehmen und die Vorentscheidungen einer Epoche sichtbar zu machen, indem er in dieser Epoche dachte.

In der Epoche und eben nicht zeitlos denkend, diese Epoche in das Gespräch mit anderen Epochen führend, so hat er gedacht. Dies meint Geschichtlichkeit. Ich erinnere an das Denken Rosen- [231] zweigs, den Welte schätzte, und der teilweise von ihm uns erschlossen wurde, teilweise von Bernhard Casper ihm und uns, und an jenes große Wort, daß „das neue Denken“ der Zeit und des Andern bedarf. Dies ist der neue Ansatz, der sich ganz anders bei Welte als bei Rosenzweig findet, aber die Aufsprengung der verfügbaren Zeitlosigkeit oder des bloßen Relativismus oder des bloßen Subjektivismus oder der bloßen Subjektivität ins Wir, ins Zwischen von Ich und Du, das sind die notwendigen Folgen der Methode, die ich beschrieb, und der Grundentscheidungen, die Welte traf. Denn wenn ich alle Wirklichkeit von ihr selbst her sich mir antun lassen will und nur das anerkennen will, was ich an ihr sehe, dann bedarf ich des Mutes, mich wirklich dialogisch und wirklich geschichtlich mit dieser Wirklichkeit auseinanderzusetzen – sonst entrinnt sie mir und ich bringe sie unter Kategorien, die sie verfremden und heimlich nur wieder mich mir selbst begegnen lassen und die wirkliche Begegnung ausschließen.

Daß in einem solchen Denken anstelle der begrifflichen Konstruktion jene Sprache tritt, die im je neuen gegenseitigen Sich-Zusprechen und darin im Zuspruch des Entzogenen sich ereignet, leuchtet unmittelbar ein. Sprachdenken, epochengeschichtliches Denken von innen her und Dialog der Gedanken werden entscheidend. Es war bewegend, wenn Welte aus seinen Ferien heimkam und Skizzenbücher oder Kataloge mitbrachte. Er hat Phänomene der Epochalität an den Zeichen der Bauwerke und der Kunstepochen verdeutlicht. Für ihn war es immer wieder faszinierend, wie in der Spätantike und im frühen Mittelalter dieselben Motive verwendet wurden und wie diese jeweils in einem ganz anderen Kontext, in einem anderen Raumgefühl, etwa der Kirche, standen. Diese epochalen Verschiebungen haben ihn so stark bewegt, daß er sehr gern mit Johannes Kollwitz1 eine „monumentale“ Kirchengeschichte, eine „monumentale“ Dogmatik, eine „Monumental-Theologie“ geschrieben hätte, welche die Monumenta als ebenso wichtige Quellen des Denkens sieht wie die Gedanken. Die Suche nach dem Epochenmachenden, dem [232] Gemeinsamen der Sprache, und zwar nicht nur der Sprache des Wortes, sondern auch der Sprache der Zeichen und der Bilder, kennzeichnete seinen Ansatz.


  1. Seinem damaligen Kollegen auf dem Lehrstuhl für Christliche Archäologie. ↩︎