Caritas – eine theologische Reflexion zwischen Konzil und Synode

Gerechtigkeit verstehen

Was heißt Gerechtigkeit? Auch dies ist eine der Grundfragen unseres Zeitalters. Die Verflechtung aller Linien der menschlichen Geschichte miteinander, der Veränderung aller Verhältnisse und Bedingungen im Prozeß einer immer rascheren Entwicklung, die Unteilbarkeit der Situation der Menschheit, zugleich aber die Gefahr, in globalen Planungen und Lösungen den einzelnen und so das Menschliche aufzulösen, lassen alte Definitionen und Prinzipien als unanwendbar aufs heute Gebotene erscheinen. Für den Christen freilich steht Gerechtigkeit unter einem neuen Vorzeichen: unter dem des göttlichen Vorurteils für den Menschen, das ihn über alle Schuld und alle Leistung hinweg versöhnt und in den Bund mit Gott gerufen hat. Sicher ist von jedem Menschen nur eines, und dieses eine geht unabdingbar in die Voraussetzung meines Verhältnisses zu ihm ein: Er ist von Gott geliebt, Gott hat ihm seine eigene Gerechtigkeit angeboten, ihn in seinen Bund hineingerufen durch das für ihn vergossene Blut seines Sohnes. Nur wenn der Mensch mir soviel wert ist, wie er Gott wert ist, werde ich dem gerecht, was der Mensch in Wahrheit, und das heißt: von Gott her ist. Wenn Gott uns so geliebt hat, dann sind wir es schuldig, auch einander zu lieben (vgl. 1 Joh 4,11).

Ist darin die humane, ethische, soziale Frage nach der Gerechtigkeit einfachhin überholt? Ist es sinnlos, eine irdische Ordnung der Gerechtigkeit aufbauen zu wollen, weil die neue Gerechtigkeit einfachhin Liebe, Hingabe, Einsatz des Äußersten und Letzten verlangt? Schon im „innerchristlichen“ Sinn könnte diese Frage nicht einfachhin mit ja beantwortet werden. Nicht daß es anginge, Abstriche an der Radikalität der evangelischen Forderung zu machen, nicht daß das neue Gebot Christi durch eine Kasuistik abgeschwächt werden dürfte. Aber gerade die Liebe, in der Gott den Menschen zu seinem Partner macht, liebt nicht über den Menschen hinweg, ist nicht eine über ihn verfügende Aktivität, die ihn nur zur Marionette, zur Selbstbestätigung der göttlichen Selbstlosigkeit werden ließe. Liebe wird dem, den sie liebt, „gerecht“; sie geht auf ihn ein, sie läßt ihn er selber sein. Das Neue ihrer Gerechtigkeit aber ist, daß sie nicht das fixiert und aufrechnet, was war, sondern daß sie dieses Selbstsein, diese Partnerschaft neu ermöglicht, auf Zukunft hin aufschließt und freigibt.

Hier aber liegt ein Fingerzeig auch für das, was Gerechtigkeit in den Bereichen heißt, in denen der Christ jenen partnerschaftlich gerecht werden muß, die seinen Glauben, seine Sicht von Gerechtigkeit nicht teilen. Eine Ordnung der Gesellschaft kann auch heute nicht beanspruchen, gerecht zu sein, wenn sie nur alles gleichmäßig verteilt, dabei aber den Menschen zum rettungslosen Empfänger seines vorgeplanten Glückes werden läßt, selbst wenn dieses den parzellierten Toleranzraum abgepaßter Freiheiten mitenthielte. Umgekehrt kann aber auch keine Ordnung gerecht sein, die sich nur auf in Erbe und Leistung, in Überkommenem und Gewordenem vorgegebene Rechtstitel beriefe und im übrigen ein Minimum an Grundrechten aller sicherstellte. Gerechtigkeit verlangt, daß alle Menschen Partner an der einen und gemeinsamen Zukunft der Menschheit sein und in sie das je Eigene in Freiheit einbringen können. Die Gleichzeitigkeit aller in der einen Zukunft der Welt und der Dienst aller daran, daß diese Gleichzeitigkeit erreicht werde, gehören heute zur sozialen Gerechtigkeit. Dies resultiert aus den Bedingungen gesellschaftlicher Entwicklung selbst; es hat seinen tiefsten und tragenden Grund indessen in jener Liebe Gottes, die alle gleichzeitig mit sich und miteinander sein läßt: so bewährt sich Liebe als Sehbedingung der Gerechtigkeit, als ihr hermeneutisches Prinzip.