Berufung
Gerufen, um zu rufen
Wir müssen immer wieder zurückkehren an den springenden Punkt der Berufung, zum Herrn, der am Kreuz, im Pascha, der Ruf, die Antwort, der neue Adam für uns ist. Er sendet Menschen, die seinen Ruf weitersagen und weitertragen. So entspricht es seinem eigenen Tun, das er genau damit begann: Er sagt die kommende Gottesherrschaft an – und das erste, was er in der Konsequenz dieser Verkündigung selber tut, ist: rufen. Er geht am Ufer des Sees entlang und ruft Menschen (vgl. Mk 1,15–20).
Er tut es – so dürfen wir in tieferem Hineinhorchen in den Zusammenhang sagen – nicht deshalb, weil er für sein Werk Menschen braucht, sondern weil der Mensch im Horizont der kommenden Gottesherrschaft einfach dieses ist: Gerufener.
Daß er dies ist, ein Gerufener, steht zur gegenwärtigen Erfahrung des Menschseins in einer ungeheuerlichen Spannung und andererseits in einer frappierenden Entsprechung.[43] Einerseits entdeckt der Mensch, daß er aus soundso vielen Einflüssen und Vorgegebenheiten zusammenrinnt, daß sein Charakter, seine Lebensbedingungen ihn nicht nur von außen her bestimmen, sondern daß er in seinem innersten Ich-Sagen davon infiziert ist. Es gibt immer mehr Möglichkeiten, das Menschsein zu manipulieren, ihm Weichen zu stellen, die den Menschen selbst in eine unheimliche Bedrängnis bringen: Wer bin ich denn? Das Ich droht sich aufzulösen, sich selbst zu entgehen. Ich werde mir fremd, meine Verfügung über mich selbst entgleitet mir, ja daß es mich gibt, empfinde ich als einen Angriff auf mich, auf meine Freiheit.
Aber mit diesem letzten Wort haben wir bereits etwas Überraschendes berührt. Ich nehme meine Gegebenheit nicht einfach hin, ich wehre mich dagegen, Produkt zu sein, das sich aus irgendwelchen Umständen heraus als Ich bezeichnet und von sich in der ersten Person spricht. Nein, je mehr ich mir fremd werde, desto mehr erfahre ich zugleich den Hunger, ich selber zu sein. Ich lehne mich in meinen Vorgegebenheiten und Gewordenheiten ab, weil ich gerade ich selber sein will. Es gibt so etwas wie das Postulat einer Freiheit, das nur um so drängender wird, je weniger ich diese Freiheit selbst mit Erfahrungswerten einzuholen und zu verifizieren vermag. Und so stemme ich mich gegen die Überwucht der Determination, der Vorwegbestimmung aus Erb- und Umweltfaktoren, um Ansprüche geltend zu machen. Wenn mir Dasein nicht so möglich ist, wie ich es mir vorstelle, dann mag ich dieses Dasein nicht, habe den Eindruck, es auch wegwerfen zu können. Was hat es schon damit auf sich, daß ich bin, wenn ich nicht so sein kann, wie ich eigentlich möchte? Ein Hunger nach selbstgewählten Daseinsmöglichkeiten – und zugleich eine Appetitlosigkeit gegenüber dem Dasein, das ich eben nicht nur nach eigener Laune gestalten kann: beides liegt miteinander in einem oft dramatischen Streit in unserer eigenen Befindlichkeit.