Die Zukunft der Zukunft

Geschichte als Geschichte der Zukunft

Brechen wir hier einmal ab; wenden wir uns um, von der Gegenwart hinweg auf die Geschichte zurück: Wie hat sich denn das Bild und das Verständnis der Zukunft heute gegenüber voraufgegangenen Epochen verändert? Gab es früher andere epochale Ansätze von Zukunft? Es wäre einmal die Mühe wert, eine Geschichte der Zukunft zu schreiben. Welche Utopien, welche Träume und Erwartungen, welche Ängste macht sich jede Generation? Wie lebt sie aus ihnen und reagiert sie auf sie? Wie wächst aus diesen Zukunftsbildern Geschichte, wie erfolgt aus ihnen jene je neue Kurskorrektur, durch welche Geschichte spannend, durch welche sie Geschichte wird? Grundzüge einer Geschichte der Zukunft zu skizzieren, kann hier nicht die Aufgabe sein. Dennoch möchte ich, in freilich anfechtbarer Vergröberung, einige Grundverhältnisse verschiedener Epochen zur Zukunft stichwortartig benennen. Martin Heidegger hat das Motiv „Seinsgeschichte“ ins Denken eingeführt, Bernhard Welte hat es in neue Horizonte hinein übersetzt. Gehört zu solcher Seinsgeschichte nicht auch die Geschichte dessen, wie das Kommende sich einer Generation zuspricht und wie sie das Kommen des Kommenden und sich selbst aus diesem Kommenden her versteht?

Man spricht vom „zyklischen“ Zeitverständnis der Antike, das aus dem Verständnis des Ursprungs als Physis, als Natur entspringe. Physis ist in solcher Sicht Ursprung, der immer neu dasselbe zeitigt, der darin aus seiner inneren Kraft Kontinuität gewährt, [38] der aber als Ursprung eben auch je den Neuaufgang desselben eröffnet, so daß nie die Langeweile der Rest wird. Was kommt, ist im vorgegebenen Ursprung enthalten, es kann nur von ihm her erkannt werden. Aber solches Erkennen kommt nie hinter den Ursprung, arbeitet ihn nie weg, ersetzt ihn nie. Denken ist nicht Konstruktion, sondern Andenken, das sich in den Ursprung hineingibt und aus ihm heraus die Gestalten und ihre Zeitigung versteht. Physis ist das Frühere gegenüber ihren Gestalten, wir bleiben in dem Raum, den das je Frühere erschließt. Vorgang aus dem Früheren und Rückgang ins Frühere zeichnen das eherne, aber keineswegs hoffnungslose Gesetz des Lebens. Sicher gibt es auch im Raum der Antike Zukunftsvisionen, Aufflackern der Unselbstverständlichkeit dessen, was ist, Aufbrechen eschatologischer Horizonte – aber all dies wird immer wieder zurückgenommen in den – freilich auf Universalität hin sich weitenden – Raum offener Stabilität und stabiler Offenheit. Er ist Leitbild auch für das Imperium Romanum, in dem unterschiedliche Welten zur Symbiose finden in einer einzigen, umfassenden Welt. Wir dürfen in diesem Kontext schließlich erinnern an den lichten Raum einer frühchristlichen Basilika, der zuläuft auf das Bild des erhöhten Christus, des Kyrios. Er ist nicht, wie im Mittelalter, der Weltenrichter, sondern der Präsentische, Anwesende, Sich-Gebende und Zeigende, in dessen Gegenwart die glaubende Gemeinde lebt. Sicher, er ist der Kommende, er ist die Zukunft. Aber diese Zukunft ist geborgen in seiner Gegenwart, in seinem österlichen Jetzt.

Das Lebensgefüge der Antike wurde von innen heraus brüchig, die Regenerationskraft aus den Ursprüngen erlahmte, und zugleich erfolgte der Einbruch der neuen Völker in den alten Kulturraum, die dem Imperium Romanum – und nicht nur ihm – ein Ende setzten. Bereits in eine neue Epoche herüber grüßt jenes Wort, mit dem Augustin uns zur Gelassenheit gemahnt, ob nun das Römische Reich untergeht oder nicht: Du aber werde jung mit dem Adler Christus…!

In der Epoche, die nun im Eindringen der neuen Völker in den alten Lebensraum heraufkommt, gewinnt auch die Zeit als solche einen neuen Rhythmus. Das selbstverständliche Bleiben im offenen Ursprungsraum ist nicht mehr gewährt, der Ursprung steht in einem qualitativ anderen Zeitraum. Der Ursprung ist geschichtlich vorgegeben, aber er muß gewahrt, sein Zeugnis muß weitergegeben, das je Jetzige muß an ihm gemessen werden. Zukunft wächst, indem Umwendung geschieht zum Früheren, einmal um es treu zu wahren und unverletzt weiterzugeben, zum anderen um die Schlacken des nicht mehr Ursprünglichen auszuscheiden und aus dem Ursprung selbst neu das Maß und neu die Kraft für die Zukunft zu empfangen. Tradition und Reform, Bewahrung und Erneuerung, sie bestimmen das Zeit- und Zukunftsverhältnis im Mittelalter, wie besonders deutlich wird an den mönchischen Reformbewegungen und der Ursprungsgeschichte der Bettelorden. Der gekommen ist, Jesus Christus, er wird wiederkommen, und er wird uns zur Rechenschaft ziehen, wie wir das Vorbild und Erbe, die er uns bei seinem ersten Kommen vermachte, verwaltet haben. Nicht mehr der präsentische Kyrios, sondern der kommende Weltenrichter drängt in die Bilderwelt, und diese Bilderwelt wird mehr und mehr Erzählwelt, in welcher das, was war, zum Anstoß wird, jetzt aufgegriffen und gelebt zu werden auf die Zukunft, auf den kommenden Herrn hin.

Sicher gehört auch jener neue Ton mit ins Mittelalter hinein, der Späteres vorbereitet und doch ganz in seiner Gegenwart geborgen ist: Annahme des Tradierten in seiner denkerischen Regeneration, Gegenlesen des Vorgegebenen durch die auf es zu denkende Ratio: Anselms fides quaerens intellectum, Scholastik.

Doch wiederum wuchern das Material dessen, was da zu wahren und weiterzugeben ist, und die Form, in die es sich birgt und in der es sich auslegt, über das Maß des Überschaubaren, Integrierbaren hinaus. Die Begriffe werden zu bloßen Nomina, die nicht [39] mehr aus sich selber die Gewähr bieten, die Sache zu enthalten. Der Mensch, als Individuum, fühlt sich mehr und mehr seiner eigenen Tradition gegenüber. Er ist auf sich selbst zurückgeworfen und ausgeliefert an die Übermacht der Fakten. Der experimentelle Umgang mit ihnen, die Reflexion auf das Ich, die Verbindung des Ich mit den Fakten in der Konstruktion: darin eröffnet sich Neuzeit. Ein – wiederum arg verkürztes – Modell: Das Ich vermittelt sich selbst mit sich selbst und setzt konstruktiv seine ganze Welt aus sich. Das transzendentale, das empirische, das soziale Subjekt ist Ausgangspunkt seiner eigenen Zukunft, seiner eigenen Welt. Alles, was geschieht und was sein wird, wird Vollzugsform dieses Subjekts. Alles ist ihm möglich, alles machbar – aber in diesem Alles bleibt es mit sich allein.

Genau hier setzen die Ängste ein, die wir eingangs gezeichnet haben. Alles zu können, wird zum Zwang, der den Menschen festnagelt auf sein Können und gerade so das Ereignis des Neuen, des Anderen, des Unabsehbaren ihm raubt. Und umgekehrt, die Entdeckung, angewiesen zu sein auf Vorgegebenheiten, selbst sein zu müssen angesichts einer doch nicht nur vom Ich abhängigen und planbaren Wirklichkeit, Zugehören zu einer Wirklichkeit, die nicht in der eigenen Verfügung steht: dies macht den Menschen erschrecken vor der eigenen Endlichkeit und der Endlichkeit der Welt, führt zur Angst vor dem realen Ende. Der doppelte Protest wird verständlich: einmal der Protest dagegen, mein eigener Sklave zu sein, alles das machen zu müssen und leisten zu müssen, was ich machen und leisten kann – zum anderen der Protest dagegen, nicht mehr machen zu können und leisten zu können, was ich machen und leisten könnte, der Protest also gegen die auferlegte Endlichkeit. In beiderlei Gestalt begegnet uns das Ende von Zukunft; jene Zukunft zumindest scheint keine Zukunft mehr zu haben, die gründet im Ego, im Subjekt als ihrem einzigen Prinzip.

Wie können wir diese Situation bestehen, wohin weist uns diese Situation? Gefragt ist hier nicht nach einigen Maßnahmen, sondern nach einem neuen Ansatz: Zukunft ist nur, wenn sie Zukunft hat; welcher Art ist Zukunft, die wahrhaft Zukunft haben kann?