Wegmarken der Einheit
Geschichtlicher Hintergrund
Hintergrund in der Geschichte des Fokolar
[34] Unsere philosophisch und theologisch ansetzende Überlegung entspricht auf eigentümliche Weise der Geschichte, in welcher die Bewegung des Fokolar ihre geistlichen Grundlagen gewann. Angefangen hat es mit dem persönlichen Betroffensein von Chiara Lubich in einer konkreten Lebenssituation: Gott liebt mich unendlich! Diese Erkenntnis bedeutete ihr Ruf zur ganzen Antwort an diese Liebe. Als dann während des Zweiten Weltkrieges ringsum alles zusammenbrach, klang es ihr wie die Bestätigung: Gott ist das einzige Fundament. Er allein bleibt. Aber wer ist dieser Gott? Die Antwort gaben ihr die Worte: Credidimus caritati, Gott ist Liebe. Konsequenz, Vollzug dieses Glaubens an die Liebe: Tun des Willens Gottes, Leben aus seinem Wort, das sich zusammenfaßt im einen Gebot der Liebe, im Neuen Gebot, das uns so lieben heißt, wie er uns geliebt hat.
Daraus erwachsend: leben nach dem Modell der Dreifaltigkeit, eins sein wie der Vater und der Sohn eins sind, leben mit dem lebendigen Herrn in unserer Mitte. Schlüssel zu diesem Leben, Eingangspforte in dieses Leben der Einheit: Liebe zum verlassenen Jesus. Er ist jener, in dem uns Gottes Liebe entgegenkommt bis zum äußersten und untersten Punkt, zu dem wir, zu dem die Welt in der Lossagung von Gott zu sinken vermag. Seine Liebe erkennen und lieben, die uns bis dahin entgegenging, heißt: ganz in seine Liebe, ganz in sein Leben mit dem Vater im Heiligen Geist eintreten und in dieses Leben das eigene Dasein, die Welt, ihre Nöte und Abgründe mit hineinnehmen, alles das in seiner Liebe verwandeln.
Hintergrund in der Kirchengeschichte
Hier, in der Begegnung mit dem verlassenen Jesus, sind die [35] ersten Fokolarinnen jetzt, im 20. Jahrhundert, dem magis Gottes begegnet. Dem entspricht das magis der eigenen Antwort: Liebe zu dem, der uns so geliebt hat, in jedem Augenblick und in allen Umständen unseres Lebens.
Man könnte das, was sich hier in unserer Zeit ereignet hat, einfügen in eine Kette, welche die ganze Kirchengeschichte durchzieht. Ist nicht der Lebens- und Denkweg eines Augustinus von dem einen Motiv her aufzuschließen, das er im Blick auf die Heiligste Dreifaltigkeit so faßt: Wer liebt, der liebt die Liebe selbst (vgl. De Trin. IX, II)? Ist nicht dies die Verwundung des Herzens eines hl. Franz, die ihn zu seinem unvergleichlichen evangelischen Zeugnis herausfordert: Die Liebe wird nicht geliebt? Ist nicht das magis des hl. Ignatius, ist nicht die Kontemplation einer hl. Teresa von Avila und eines Johannes vom Kreuz Antwort auf die Erfahrung der je größeren Liebe Gottes, Weg, um dieser je größeren Liebe je liebender zu entsprechen? Vom Mehr der Liebe, das in der Tat Gottes entdeckt wird und das unsere größere Antwort herausfordert, ist auch die Verehrung der heiligsten Eucharistie in der Gefolgschaft einer hl. Juliana von Lüttich und des Herzens Jesu in der Gefolgschaft der hl. Maria Margarete Alacoque zu lesen. Und an der Schwelle unseres Jahrhunderts: Gerade in der Verborgenheit von Nazaret suchte Charles de Foucauld den letzten Platz, den aus Liebe Jesus aufsuchte, als den seinen, als den Platz seiner eigenen, antwortenden Liebe auf. Und die hl. Therese vom Kinde Jesu entdeckt, in ihrer Sehnsucht, Prediger und Priester und Märtyrer zu sein, daß die größte Berufung einfach heißt: Liebe sein und in der Liebe alles, das Ganze, das Größte sein.
Es wäre verlockend, in den verschiedenen Gestalten der Heiligen und der großen kirchlichen Charismen jeweils jenes Mehr von Liebe zu entdecken, das die spezifische Antwort auf die Situation einer jeden Epoche gibt, das ihr jeweiliges Defizit an Liebe in eine neue Möglichkeit zu lieben hinein verwandelt. [36] Wir wollen uns darauf beschränken, die Liebe zu Jesus dem Verlassenen als eine spezifische Antwort auf die Erfordernisse unserer Zeit herauszustellen. So wird auch deutlich, weshalb die Liebe zu Jesus dem Verlassenen nicht eine Art neuer „Sonderdevotion“ darstellt, sondern eine elementare Gestalt des Glaubensvollzugs.
Auf dem Hintergrund von Geistes- und Weltgeschichte
Gewiß mindert es nicht die Größe Gottes, wenn wir die Größe der Welt und des Menschen entdecken. Das Gottesbild wird sogar größer, wenn wir die relative Autonomie irdischer Lebens- und Sachbereiche ernst nehmen, wozu uns auch das Zweite Vatikanische Konzil anhält. Es wäre also verkehrt, den Ansatz neuzeitlicher Wissenschaft im vorhinein als widergöttlich und widerchristlich abzutun. Dennoch muß faktisch auf eine Entwicklung verwiesen werden, die mit dem Ansatz des Denkens der Neuzeit in Gang kam. Der durchaus gläubige Hugo Grotius hat einmal diesen Ansatz so charakterisiert: Es gilt, die Dinge so zu sehen, wie sie sich uns zeigten, wenn es Gott nicht gäbe ( etiam si deus non daretur; vgl. De iure belli et pacis, Prolegomena11). Experimentelle, berechnende, unmittelbar den Dingen nur mit Hilfe der Vernunft zugewandte Betrachtung, das hat neuzeitliches Denken in Gang gebracht. Gott wurde nicht geleugnet, aber er wurde zum bloßen Vorzeichen vor der Klammer. Das führte zu einer Trennung der Lebensbereiche, bei welcher Gott auch vergessen, ja geleugnet werden konnte. Der Mensch setzte sich in den Sinn, alles ihm Mögliche zu erreichen, alles, was er in der Welt antraf, zu ergründen und in ein Feld seines eigenen Machens und Herstellens zu verwandeln. Dies konnte ebenso Vollzug des göttlichen Schöpfungsauftrages sein wie Vergessen dieses Schöpfungsauftrages, gar Selbsterhebung des Menschen zum Schöpfer. Jedenfalls wurde in der Dynamik neuzeitlicher Entwick- [37] lung das maius et magis vom Menschen zunehmend auf sich selbst hin ausgelegt, er verstand sein Streben nach dem je Größeren nicht mehr als Antwort, sondern als in ihm selbst gründende Leistung und Tat.
Am Anfang dieser Entwicklung ahnte Blaise Pascal dies voraus, indem er den neuzeitlich wissenschaftlich orientierten Menschen einen Satz sprechen läßt, den man innerhalb des mittelalterlichen Weltbildes nicht hätte sagen können: „Das Schweigen der unendlichen Räume schreckt mich!“ (Pensées, Fragm. 206, ed. Brunschvicg). Wenn der Mensch nur noch auf die Stimme dessen hört, was er aus eigener Kraft sprechen und errechnen kann, dann ist er in ein erschreckendes Schweigen der unendlichen Räume hineingehalten; er wird ein Wesen, das deswegen, weil es nicht mehr antwortendes Wesen ist, auch keine Antwort mehr erhält. Am Ende neuzeitlicher Entwicklung steht die kollektive oder individuelle Einsamkeit, die Isolation. Wie rasch der Rausch des Optimismus im Anblick eines scheinbar unaufhaltsamen und unendlichen Fortschritts umschlägt in Enttäuschung, Einsamkeit, Verlassenheit und Angst, das kann man am Europa der Gegenwart nur allzu deutlich ablesen.
Sicher ist es nicht möglich und wäre es auch nicht richtig, in einer romantischen Panik das Rad der Geschichte zurückdrehen und die Errungenschaften neuzeitlichen Geistes verleugnen und zertrümmern zu wollen. Wohl aber ist es notwendig, von innen her die Situation zu wenden, den Menschen von der Fixierung auf sich selbst zu befreien und ihm jene neue Transzendenz, jenen neuen Überstieg zu eröffnen, der nicht nur in der eigenen Einsamkeit landet.
Das Bild des zwischen Himmel und Erde ausgespannten, sich von den Menschen und von seinem Vater verlassen erfahrenden Jesus ist das Ecce homo schlechthin für den Menschen von heute, ist sein Spiegel. Aber eben ein Spiegel, in dem dieser Mensch nicht nur sich selbst, sondern ebenso das ihn [38] unendlich Übersteigende anschauen kann, den Gott, der aus Liebe sich hineinbegibt in seine Situation. Die eigene Einsamkeit und Verlassenheit selbst wird zum Ort, an dem die Liebe Gottes ihm begegnet. Dort, wo der Mensch so sich selber in all seiner Ausweglosigkeit erkennt, daß er darin den Gott erkennt, der ihm ganz nahe gekommen ist und den Weg zu ihm gefunden hat, dort lernt er, neu an die Liebe zu glauben, neu zur Liebe durchzustoßen. Mitten in der alten Epoche fängt eine neue an, weil neue Schöpfung anfängt. Bildlich gesprochen: Die Begegnung mit dem verlassenen Jesus ist Sakrament säkularer Gottbegegnung heute. Ihr Zeichen sind die Verlassenheiten, Ausweglosigkeiten, Abgründe, die in uns und um uns sind – das in diesen Zeichen Vermittelte ist die Liebe Gottes, die dies alles von innen her annimmt und verwandelt. Die Wirkung ist neue Begegnung mit dem Menschen, neue Gemeinschaft miteinander, neues Zugehen auf die Welt aus der neuen Gemeinschaft mit Gott heraus.