Gesprächsführung

Gespräch

  1. Gespräch ist mehr als die Addition von Aussagen verschiedener zum selben Thema. Das zeigen zwei Grenzfälle: Gespräch, bei dem nur einer spricht, und Gespräch, das kein „Thema“ hat. Wann sind diese Grenzfälle noch Gespräch? Wenn die Partner sich „entsprechen“. Wenn nur einer spricht, muß nicht nur der andere, sondern auch der Sprechende selbst hören. Und wenn über nichts Bestimmtes gesprochen wird, so hebt sich solches von wesenloser Konvention nur dort ab, wo das „Eine“ des Gesprächs und das Einverständnis in ihm unausgesprochen – weil vielleicht unaussprechbar – doch „da“ sind.

  2. Es kommt im „Entsprechen“, das zum Gespräch gehört, also auf das gegenseitige Hören an; solches Hören birgt in sich je ein Warten auf den anderen, dessen sprechend oder auch nur [421] hörend gegebene Antwort erst das eigene Sprechen und Hören vollendet. Im Gespräch will also keiner das letzte Wort haben – und Gespräch will doch ebensowenig ohne Klärung und Einklang abbrechen, es will weitergehen, aber nicht „endlos“ weitergehen, sondern beim anderen und mit dem anderen im Selben bleiben. Das Hören hat also den anderen bei sich und hat das (nicht notwendig gegenständlich bestimmte) Eine bei sich, auf das beide hören, in das beide gehören, indem sie aufeinander hören. Ja, wo sich das Zusammengehören auf einen bestimmten Gegenstand oder Gegenstandsbereich beschränkt, ist das Gespräch nicht „ganz“, es strebt von seinem Wesen her zum grenzenlosen Einverständnis. Wenn ich mit dir über das oder jenes „nicht reden“ kann, ist das Gespräch von dieser Grenze her gehemmt, Anderseits erschöpft sich das ganze Einverständnis nicht darin, daß die Partner „einer Meinung“ über alle möglichen Sachfragen seien. Man kann sehr wohl ins Gespräch kommen und im Gespräch bleiben, wenn man um die andere Meinung des anderen weiß. Nur eines ist erforderlich: Er selbst muß angenommen sein, und zwar in allem, was er sagt oder meint, mein Hören und Ansprechen muß ein „Du“ ohne Grenzen sagen. Nur dann ist auch die „Sachlichkeit“ gewährleistet, in der allerdings die gegenseitige Übereinkunft gesucht und als die in Geduld erhoffte Zukunft gegenwärtig bleibt.

  3. In drei Stufen führt das Gesagte hin zum Wesen des Gesprächs.

a) Die im Hören vollzogene Entsprechung ist personal. Soll das Gespräch nicht bloß zum Mittel oder zur Figur werden, so sagt es an sich selbst aus, daß seine Partner einander „angenommen“ haben und deswegen alle ihre Fragen, Äußerungen und Meinungen gegenseitig ernst nehmen werden. In diesem Annehmen ist aber bereits ein „gemeinsamer Boden“ betreten, auf dem man „miteinander reden“ kann. Eine – vielleicht noch verborgene oder unentwickelte – „gemeinsame Sprache“ ist grundgelegt, die Verstehen und Einigung auch in der Sache möglich macht. Personales Sich-Annehmen und sachliche Übereinkunft stehen also in einem gerichteten Ursprungsverhältnis: Ansprache geht möglicher Absprache voraus, erst muß ich einen personal annehmen, bevor ich ihm sachlich etwas abnehme. Zwei Menschen können immer eine gemeinsame Sprache finden, eine nur vorgegebene gemeinsame Sprache aber gibt keine Gewähr, daß sich in ihr je zwei Menschen [422] finden werden. Personale Annahme und sachbezogene Verständigung als Bedingungen des Gesprächs sind vom Ursprung her in der personalen Annahme eins. Daß in der Erfahrung die gemeinsame Sprache oder das sachlich gleiche Interesse das Gespräch erst anzustoßen pflegen, ändert am Wesensverhältnis nichts. Wenn das Gespräch gelingt, sind, auch erfahrbar, die Partner je in einen tieferen, früheren „Boden“ hinein eingebrochen.

b) Die Entsprechung im Gespräch geht je frei von dir zu mir und von mir zu dir. Ihre unerzwingbare Gegenseitigkeit macht das Gespräch zum Wagnis. Dennoch sind es nicht zwei Entsprechungen, es ist eine Entsprechung, ein Gespräch, das wir miteinander führen. Weil es eines ist, kommt es auf den einzelnen in ihm an – und ist doch nicht von letztem Belang, ob du das sagtest oder ob ich es sagte, es ist gesagt und muß nun von allen bestanden, ausgetragen werden. Das Gespräch läßt uns nur auf eines achten, und gerade deshalb achten wir aufeinander, ist der einzelne unendlich wichtig und seine Freiheit gesteigert da. Diese Einheit des Gespräches, die uns eins macht und frei läßt, ist nicht bloßes Ergebnis unserer Freiheit, sondern reicht zurück in ihren Grund. Aufeinander hörend, hören wir schon immer auf Eines – aber darf man es mit dem neutralen „Es“ überhaupt benennen? –, das uns einander zugewiesen hat, ehe wir uns annahmen. Das „Es“ des Gespräches, sein Gegenstand, kommt ins Gespräch zwar nur vom Du her, das wir einander boten; daß wir aber uns das Du boten und in diesem Du zum Es fanden, ist uns nicht aus selbstgemachter Willentlichkeit widerfahren, sondern aus einem vorgängig unsere Freiheit erst in Gang bringenden, Du und Ich und Uns und die ganze Welt und die eine Sprache umfangenden Geschenk.

c) Zu diesem „Grund“ verhält sich das Gespräch in einer doppelten Stellung: Wären wir nicht schon eins, so könnten wir nie eins werden. Beließen wir es aber bei diesem vorausgesetzten Einssein, so würden wir seiner nicht einmal inne, es „wäre“ gar nicht. Es „ist“ je nur, indem wir es vollziehen, uns seinem Anspruch stellen. Wir vollziehen es wiederum nur, weil wir es suchen, suchen als unsere noch ausstehende, uns erst vollendende, zu uns selbst bringende Zukunft. Der Grund ist zugleich das Ziel, und es liegt an uns, auf dieses Ziel in freier Verwirklichung zuzugehen. Die vorausgesetzte Einheit will sich wandeln zum vollzogenen und immer ausdrücklicheren, nach der Breite und Tiefe hin wachsen- [423] den Einverständnis miteinander und in allem. Unser entscheidendes Vollbringen des Gesprächs ist aber auch in der Gegenwart nicht bloßes Selbstgemachte, sondern in der Freiheit je ein „geführtes“ Gespräch, geführt von dem Geschenk, das uns schon eh' zusammenführte und das, durch unser Vollbringen hindurch, uns nun in den vollen Einklang mit sich und miteinander führen will. Nur wenn wir ihm die Führung überlassen, lassen wir uns gegenseitig so frei, daß es wahrhaft Gespräch zu sein vermag.