Unterscheidungen

Gestalten des Unbedingten*

Der Bezug des Menschen zum Unbedingten hat vielerlei Gestalt. Religion ist nur die eine. Das Unbedingte selbst zeigt sich dem Menschen in vielerlei Gestalt. Und so vielfältig die Gestalten Gottes und des Göttlichen in der Menschheit auch sind, Gott selbst ist nur eine der Gestalten, wie Unbedingtes sich dem Menschen zeigt. Das mag aufs erste erstaunlich klingen. Doch insgeheim taucht die „Nahtstelle“ zwischen dem Unbedingten und Gott bereits in einem so klassischen Text wie den fünf Wegen des Thomas von Aquin auf. Thomas ist dort streng genug, das, was sich in diesen Wegen ihm weist, nicht ohne Vermittlung mit dem Namen Gottes zu belegen, sondern das Unbedingte je gemäß der Gestalt zu artikulieren, in welcher es dem Weg entspricht, den das Denken zu ihm zurücklegt.1 So spricht er vom ersten Bewegenden, das von niemand bewegt wird, von der ersten wirkenden Ursache, vom durch es selbst Notwendigen, das keine Ursache seiner Notwendigkeit anderswoher hat, sondern die Ursache der Notwendigkeit des anderen ist, von dem, was allem Seienden Ursache des Seins, der Gutheit und jedweder Vollkommenheit ist, von dem „Wissenden“, das alle Naturdinge in ihre Zielstrebigkeit weist – und jedesmal fügt er diesem Ziel seines Denkweges ausdrücklich die Gleichsetzung mit dem bei, den alle als Gott erkennen und Gott nennen. Daß alle ihn als Gott erkennen und Gott nennen, wird getragen von der gemeinsamen Glaubensüberzeugung des Mittelalters. Daran hat sich heute vieles geändert – sogar dort, wo Gedanken akzeptiert werden, die, in anderem Klima des Denkens und auf andere Phänomene gestützt, den Wegen des Thomas entsprechen. Nicht nur die Unterscheidung [39] Pascals zwischen dem Gott der Philosophen und dem Gott Jesu Christi,2 auch die großenteils, aber nicht allein an Heidegger anschließenden Erwägungen über den Gott neuzeitlicher Metaphysik in seiner Differenz oder Nähe zum Gott der Religion lassen die Frage nach der Göttlichkeit Gottes, nach dem, was eigentlich gesagt ist, wenn der Name Gott gesagt wird, aktuell werden.3

Es soll hier nicht der – zweifellos lohnende und wichtige – Versuch unternommen werden, kritisch die verschiedenartigen Entwicklungen und Verstellungen der Rede von Gott in heutiger Theologie und Philosophie aufzuarbeiten. Es geht vielmehr darum, den spezifischen Stellenwert der Rede von Gott im menschlichen Selbstvollzug aufzusuchen. Von da aus soll alsdann die Aporie des Gottesbegriffs als ein Weg, ihn neu zu gewinnen, erschlossen und endlich sollen von hier aus alte Wege zu Gott auf ihre neue Begehbarkeit geprüft werden.


  1. Vgl. Thomas von Aquin, S. th. I q. 2 a. 3. ↩︎

  2. Vgl. Pascal, Blaise: Mémorial, ed. Brunschvicg. ↩︎

  3. Vgl. Heidegger, Martin: Identität und Differenz, Pfullingen 1957; Schulz, Walter: Der Gott der neuzeitlichen Metaphysik, 3. Aufl., Reutlingen 1957; Weischedel, Wilhelm: Der Gott der Philosophen. Grundlegung einer Philosophischen Theologie im Zeitalter des Nihilismus, Bd. 1, Darmstadt 1971. ↩︎