Glauben – wie geht das?

Glaube als vielfältiges Weggeschehen

Als ich mit Freunden in den Bergen Urlaub machte und wir nach der Wanderschaft des Tages am Abend miteinander im Neuen Testament lasen, da fiel uns auf, wie viele Worte und Passagen das Weggeschehen von Offenbarung anschaulich machen. Da ist ein Sprech- und Denk- und Kommunikationsmuster, das aus der damaligen Umwelt und Tradition stammt, aber in dieses Muster trifft etwas Neues ein, die Erfahrung und das Zeugnis von Gottes Handeln in Jesus. Sprechen und Denken werden neu, die Landschaft des gewohnten Lebens wird neu, und jene, denen das Wort gilt, werden auf diesen neuen Weg mitgenommen. Anders gewendet: im vorfindlichen und vorgeprägten Gang ihres Lebens wird ihnen ein neuer Weg eröffnet. Müßte nicht genau dasselbe mit der Botschaft auch heute geschehen? Heißt Lesen der alten Texte und Übernehmen der überlieferten Formeln nicht auch: den Weg wieder aufspüren, der sich in ihnen verfaßt hat, ihn so in Kommunikation bringen mit unserer Erfahrung und unseren Fragen, daß wir neu denselben Weg finden? Um nicht mißverstanden zu werden, es geht nicht darum, nur soviel vom Überlieferten stehenzulassen, wie wir verkraften und vollziehen können. Nein, umgekehrt, das, was unsere mitgebrachte Erfahrung und Möglichkeit übersteigt, soll eintreffen können bei uns, um neue Möglichkeiten zu entbinden, um uns über uns selbst hinauszuführen. Weggeschehen heißt nicht auf der Stelle treten, sondern weiterkommen, über sich hinauskommen.

[17] Was vom Lesen der Schrift gesagt wurde, das gilt genauso von den großen dogmatischen Formeln. Wenn wir etwa von den drei Personen im einen göttlichen Wesen, wenn wir vom ungetrennten und unvermischten Einssein der göttlichen und menschlichen Natur in Jesus Christus sprechen, dann sind das Marken eines Weges, der Gott selber ist, eines Weges, den Gott selber geht, einer Bewegung von Liebe, die Gott ist. Nur wenn wir das Weggeschehen aufschlüsseln, das in solchen Aussagen sich verdichtet, wächst jenes Verstehen, in dem Glauben geht. Anselm von Canterbury spricht vom Glaubensverstehen, vom intellectus fidei. Es ersetzt nicht den Glauben und ist dem Glauben nicht äußerlich, sondern ist die innere Konsequenz des Glaubens: Der Glaube hebt das ans Licht und deswegen ins Verstehen, was er glaubt. Von Anselm wurde die unüberholbare Formel für Theologie geprägt: fides quaerens intellectum, Glaube, der sein Verstehen sucht, der nach seinem Verstehen drängt.

Glaube sucht sein Verstehen, das heißt: Glaube sucht seinen Weg, Glaube sucht zu erhellen, wie er geht und wie in ihm unser Dasein geht. Das ist Theologie.

Wir können im Gesamt der christlichen Botschaft einige Stufen herausstellen, in denen das Weggeschehen des Glaubens sich entfaltet.

Weggeschehen des Glaubens, das meint hier freilich nicht allein und nicht einmal zuerst unseren Vollzug, so sehr wir nur im ersten Schritt, den wir selber wagen, Gottes vorgängigen ersten Schritt „entdecken“. Den Anfang setzt jenes Handeln Gottes, das dem Glauben seinen Inhalt, seine Sache, sein Licht und seine Kraft gibt. Bloßer Glaubensvollzug ohne Glaubensinhalt wäre kein Glaubensvollzug. Man könnte deshalb auch vom Weggeschehen der Offenbarung sprechen, könnte die Frage formulieren: Offenbarung, wie geht das? Hierbei wäre freilich umgekehrt zu sagen, daß Offenbarung von sich selbst her hineinführt in den Glauben, der sie bezeugt. Offenbarung ohne Bezeugung wäre nicht als Offenbarung da; und das Offenbarungszeugnis, das uns die geoffenbarte Wahrheit vermittelt, ist eben Glaubenszeugnis.

[18] Die Schritte, die nun im Offenbarungs- und Glaubensgeschehen sich ineinander-, sich zum Weg fügen, lassen sich wie folgt formalisieren:

Der erste Schritt ist Gottes Schritt auf uns zu, ist Weg, den Gott geht, sich überschreitend, sich verschenkend, sich mitteilend. Er spricht, er handelt. Im Vordergrund von Offenbarung und am Anfang menschlichen Glaubens steht das Handeln Gottes in diese Welt hinein, der Einbruch Gottes in diese Welt. Gottes Weg zu uns, der Weg, den Gott macht, die heilsgeschichtliche Dimension ist das erste.

In diesem ersten aber ist ein zweites eingefaltet, was dieses erste trägt und doch erst durch dieses erste hindurch aufgeht: Gott macht nicht nur einen Weg, sondern Gott „ist“ Weg. Er veranstaltet nicht einen Ausflug über sich hinaus in die Welt, um uns etwas von seinem Licht und seinen Gaben mitzuteilen, sondern er begibt sich selbst auf diesen Weg und zeigt so, wer er ist: Gott des Weges, ein sich überschreitender, sich hingebender, liebender Gott, ein Gott, der in sich selber Liebe ist. Gott zeigt uns nicht nur, was er tut, sondern wer er ist, auch wenn sein Wesen stets unser Fassen-können überschreitet. Aber als dieser je Größere, uns je Übersteigende, gibt und gönnt er sich. Es ist sein eigenes Leben, es ist er selbst, an dem er uns Anteil gibt, indem er handelnd und offenbarend zu uns kommt.

Wie Gott auf uns zugeht, so ist er. Überscharf gesagt: Gottsein geht so, wie Gott es uns zeigt, indem er sich in Jesus Christus uns schenkt.

Dies kommt aller unserer Freiheit zuvor und übertrifft all unser Können. Und doch ist es kein Geschehen, das nur an uns und über uns hinweg passiert. Es ist Geschehen, das sich uns mitteilt, indem es uns selbst auf den Weg ruft. Dies ist der Aufbruch Gottes zu uns, daß er uns selber aufbricht, damit wir aufbrechen. Der Weg, den Gott zu uns geht, der Weg, der Gott selber ist, erreicht uns, indem wir uns auf den Weg machen – dies der dritte Schritt. Offenbarung kommt im Glauben an, Glaubensinhalt (fides quae) vermittelt sich zum Glaubensvollzug (fides qua). In diesem Aufbruch aber sind wir [19] selber ganz drinnen. Glaube ist nicht nur ein Weg, den wir machen. Glaube ruft uns selbst und ganz auf diesen Weg, verwandelt uns in Weg, deckt es als unsere Berufung und unser Wesen von Gott her auf: daß wir selber Weg sind, Weg über uns hinaus, als „Weg“ Bild Gottes.

Darin bereitet sich der vierte Schritt vor, der sich vom dritten nicht lösen läßt. Sicher, jeder muß aufbrechen, jeder persönlich glauben, jeder sich entscheiden, jeder den ersten Schritt tun. Aber dieser Schritt ist als Schritt auf Gott zugleich Schritt aufeinander zu, Schritt, der das glaubende Miteinander in Gang bringt und von ihm schon in Gang gebracht ist. Gemeinschaft, Kirche ist keine zusätzliche und äußerliche Dimension zum „Glauben an sich“. Offenbarung ruft Menschen, indem sie Menschen zusammenruft und somit zueinander ruft. Glaube geht nur, indem wir zueinander gehen und miteinander gehen. Hier ist der Ort, in dem mitten in der Geschichte Gott wohnt und durch seinen Geist seine Offenbarung und sein Heil weitergehen bis an die Grenzen der Erde und bis ans Ende der Zeit.

Der Weg Gottes auf uns zu; der Weg, der Gott selber ist; der Weg, den wir auf ihn zugehen; der Weg, den wir aufeinander zu und miteinander gehen – dies ist der eine Weg, der uns sagt, wie Glauben geht.

Sollten wir nicht immer, bei jeder Verkündigung, bei allem, was wir im Namen des Glaubens und der Kirche tun, bei unserem eigenen Glaubens- und Lebensvollzug diese vier Dimensionen gegenwärtig haben? Er macht den ersten Schritt, wir sind stets nur Antwortende auf ihn und müssen zuerst von uns selbst weghören auf ihn. Dabei macht er uns aber nicht nur Vorschriften und Mitteilungen über dies und jenes, sondern er gibt und erschließt und schenkt sich selbst; wer ihn liebt, dem will er sich offenbaren (vgl. Joh 14,21). Doch nur wenn wir den ersten Schritt wagen, wir auf ihn zugehen, wir uns loslassen ohne vorherige Garantien und Sicherheiten, werden wir erkennen, daß sein Weg trägt, daß er uns zuvor schon entgegengekommen ist. Und ein Schritt auf ihn zu heißt immer auch ein Schritt aufeinander zu, ein Schritt, bei dem ich mich [20] auf den anderen einlasse und ihn annehme. Dabei werde ich freilich auch entdecken und annehmen: Er hat schon den ersten Schritt auf mich zu gemacht. Mehr noch, ich stehe schon immer in einem Miteinander, das ich nicht mehr aufkündigen kann, weil es sein Weg zu mir und mit mir ist.