Theologie als Nachfolge

Gott finden durch die Welt und in der Welt

Wer das Itinerarium mitgeht, wird nur dann ganz finden, was Bonaventura zu geben hat, wenn er über die einzelnen Inhalte einerseits und über die bloße Schematik des Aufbaus andererseits zu jener Dynamik durchdringt, die sowohl die Schematik des Aufbaus als auch die scheinbare Zufälligkeit der inhaltlichen Details hineinschmilzt in die Bewegung, die die Pole Gott und Welt und Mensch zugleich umfaßt. Bleibt uns indessen die entscheidende [108] Frage zu stellen: Wie geschieht der Durchstoß durch die Welt und in der Welt zu Gott? Greifen wir einzelne Inhalte des Itinerarium heraus, um exemplarisch an ihnen die Seh- und Reflexionsweise bonaventuranischer Weltbetrachtung sichtbar zu machen. Die Eigenschaften der Dinge,1 die Bonaventura sowohl an der Analyse des einzelnen Seienden wie an der Gliederung der Geschichte wie auch am Stufenbau der Schöpfung abliest, konvergieren auf drei in ihnen bekundete Grundeigenschaften: Macht, Weisheit und Güte. Daß ist, was ist, daß das Seiende, das nicht aus sich selber ist, dennoch widerständig ist, stehenbleibt, mit sich identisch bleibt – dies ist der Hinweis auf die Macht, die sich bekundet, wo Sein des Seienden sich erschließt. Die Gliederung, die innere Strukturierung, die Einheit, die sich in einer Vielheit der Momente darstellt, entfaltet und auf sich selbst zurücknimmt, kurzum die Ordnung, die aufstrahlt, indem Seiendes als es selbst aufgeht – dies ist Kundgabe von Weisheit oder, wie Bonaventura mitunter auch sagt, Vorsehung, Kunst. Das Sein über sich hinaus, das mit dem Sein gegebene Sich-Geben des Seienden, seine Kommunikabilität, das Zum-Vorschein-Kommen von sich verströmender Fülle in dem, was ist – darin zeigt sich der Charakter von bonum, von Gut-Sein als gewährender Grundzug des Seins des Seienden an. Wo diese Grundzüge, wo ihre Verbindung miteinander wahrgenommen werden, da ist für Bonaventura der Überstieg über das bloß Einzelne und die bloße Summe alles Einzelnen schon geschehen, da gerät das Denken in den Zug eines Ursprungs, der in diesen nicht konstruierbaren, sondern je gegebenen und in allem Gegebenen sich gebenden Eigenschaften des Seins sich kundgibt. Auf dieser ersten Stufe ist es das Seiende, die Geschichte, das gestalthafte Ganze als Bestand, woraus der Urbestand und Urstand erhoben wird. Man ist erinnert an den vierten unter den fünf Wegen der Gotteserkenntnis bei Thomas von Aquin. Der Unterschied liegt nicht im Was, wohl aber im Wie: Thomas schlußfolgert – wenigstens der Form nach –, bei Bonaventura geschieht der Durchstoß im einfachen Hinschauen und Innesein. Die Unabweislichkeit solchen Sehens des Ursprungs im Entsprungenen liegt [109] für Bonaventura offen. „Wer durch so hellen Glanz der geschaffenen Dinge nicht erleuchtet wird, ist blind; wer durch so lautes Rufen nicht aufwacht, ist taub; wer angesichts all dieser Werke Gott nicht lobt, ist stumm; wer aus all diesen Anzeichen den ersten Ursprung nicht gewahrt, ist töricht. Tu also die Augen auf, halte die Ohren des Geistes offen, löse deine Lippen und nähere dein Herz (Prov 22, 17), auf daß du in allen Geschöpfen deinen Gott suchest, hörest, lobest, liebest und anbetest, hochpreisest und ehrest.“2

Wo Bonaventura in der „Spur“ der Dinge Gott sucht, da geht er mit den Dingen ihren Weg ins menschliche Erkennen.3 Dieser Weg verläuft in drei Stufen, die, vom Menschen her formuliert, heißen: Wahrnehmung (apprehensio), Genuß (oblectatio), Beurteilung (diiudicatio). Die Wahrnehmung geschieht in der Erzeugung des Wahrnehmungsbildes im Wahrnehmungsorgan. Die unmittelbare Folge, die von diesem Wahrnehmungsbild ausgelöst wird, ist der Genuß, ist die spontane Zustimmung zu dem (bzw. Abkehr von dem), was sich in der Wahrnehmung dem Wahrnehmenden antut. Der Wahrnehmende ist, auf sein Anderes gerichtet, nicht nur auf eine neutrale Rezeption von ihm unabhängiger Vorgänge, Gestalten, Gegenstände hin gerichtet, sondern auf eine Entsprechung. Etwas wahrnehmend, nehme ich das „Passen“, das Verhältnis des spontan sich auf mich zu äußernden Anderen zu mir, zu meiner Spontaneität, zu meinem Interesse an mir wahr. Im Sinne Bonaventuras ist solches Interesse freilich nicht nur Interesse an mir, sondern in einem auch Interesse am Anderen, als gleichzeitiges Interesse aber Interesse am Verhältnis, an der Entsprechung – nur in der Entsprechung bin ich offen fürs Andere und ist mein Interesse an mir selbst gedeckt. Hier endet allerdings nicht der Prozeß, vielmehr folgt der entscheidende Schritt der Beurteilung, „durch die nicht allein beurteilt wird, ob dieses weiß oder schwarz sei – das ist Sache des Einzelsinns; auch nicht ob es heilsam oder schädlich sei – denn das ist Sache des inneren Sinnes; vielmehr wird beurteilt und Rechenschaft gegeben, warum dieses erfreut; in diesem Akt wird somit nach dem Grund des Wohlgefallens gefragt, das im Sinn vom Objekt empfangen wird. Das heißt aber: Fragt man nach dem Grund des Schönen, Angenehmen und [110] Heilsamen, so findet man: Dies ist das Verhältnis der Gleichheit (proportio aequalitatis)“.4 Bei der Erörterung dieses „Verhältnisses der Gleichheit“ stellt Bonaventura heraus, daß es sich hier um „Verhältnis“ handle, Verhältnis als solches aber unabhängig sei von den sinnlichen Qualitäten, die in der jeweiligen Wahrnehmung eine Rolle spielen, doch nicht nur unabhängig von der Größe und Beschaffenheit des Wahrgenommenen, sondern unabhängig auch von der Zeit: Proportion ist als solche unzerstörbar („unabhängig also von Ort, Zeit und Bewegung, dadurch aber unveränderlich, uneingrenzbar, unbeendbar und ganz und gar geistig“5).

Das eigentlich Stabile, das unzerstörbare Urdatum des Seins wird von Bonaventura nicht als ein Substantielles oder gar als eine ins Unendliche gesteigerte Eigenschaft intuiert, sondern als „Beziehung in sich“, „Verhältnis als solches“. Er greift in diesem Zusammenhang auf Boethius zurück und bestätigt: „Die Zahl ist das vorzüglichste Urbild im Geist des Schöpfers (Boethius, De Arithmetica If) und in den Dingen die vorzüglichste Spur, die zur Weisheit führt.“6

Wie liest Bonaventura nun die Präsenz Gottes in seiner Spur? Zunächst unterscheidet sich Bonaventuras Vorgehen nicht von der Weise, wie er zu Gott durch die Spur gekommen ist: er parallelisiert das Wahrnehmungsgeschehen, wie schon aus der Reductio bekannt,7 mit der Hervorbringung des ewigen Wortes aus dem Vater. Auch mit dem Genuß verfährt er ähnlich: wenn es im Genuß um die Schönheit, um die Angemessenheit, um das Passen geht, dann – so zieht er die Linie aus – ist die ewige Kunst, ist der Sohn das „Passen“, das Gefallende und Erfüllende, das Schöne, was Bonaventura mit Verhältnis und Angemessenheit gleichsetzt, schlechthin, eine Deutung, die sich seinem Verständnis des Logos als der Mitte genau einfügt. Bonaventura selbst hebt nun aber davon den Blick ab, der ihn von der „Beurteilung“ – genauer: in ihr – zu Gott hinführt, wobei die beiden anderen Stufen des Weges freilich vorauszusetzen sind. Diese Beurteilung bezieht sich aufs sinnlich Wahrgenommene und Gefallende, doch sie bemißt es und hat somit einen Maßstab, den Maßstab der Proportionalität, des Verhältnisses, der das Urteil über die Varianten [111] hinaushebt, auf die es sich bezieht. Vom Maßstab her, mit dem ich messe, ist aber nicht nur das Bemessene, sondern auch mein Bemessen der Willkür enthoben; ich stehe unter dem Maßstab, mit dem ich bemesse, er ist mir unverfügbar. Er, gerade er ist das, was im ganzen Prozeß der Vergänglichkeit, Veränderlichkeit enthoben, unzerstörbar, ewig ist. „Nichts aber ist gänzlich unveränderlich, uneingrenzbar, unabänderbar, außer was ewig ist; alles aber, was ewig ist, ist Gott oder in Gott.“8 In der Proportio, in der Enthobenheit des Verhältnisses, das unser Erkennen, unseren Lebensvollzug, unser Aussein auf die Welt, unsere Begegnung mit dem, was ist, prägt, geht die Gewähr von allem auf, geht Gott selber auf.9


  1. Vgl. Itinerarium I, 10–14. ↩︎

  2. Itinerarium I, 15. ↩︎

  3. Zum folgenden vgl. Itinerarium II im ganzen, bes. II, 2, 4–10. ↩︎

  4. Itinerarium II, 6. ↩︎

  5. Ebd. ↩︎

  6. Itinerarium II, 10. ↩︎

  7. Vgl. De reductione I, 8. ↩︎

  8. Itinerarium II, 9. ↩︎

  9. Die eben erhobene Struktur wiederholt sich grundsätzlich auf den folgenden Stufen in Steigerung bis zur Explikation der Trinität aus sich selbst. Verwiesen sei an dieser Stelle allein auf Bonaventuras Auslegung von Gedächtnis, Erkenntnisvermögen und Strebevermögen, in der Erörterung der geistigen Kreatur als des Bildes Gottes – letztlich des dreifaltigen Gottes. Vgl. Itinerarium III. Die Figur, die Bonaventuras Argumentation bei der Beurteilung des Grundes für das Gefallen des Wahrgenommenen einführt, hält sich durch, auch wo sie nur indirekt thematisiert wird: Proportionalität als solche scheint im Verhältnis der drei Grundvermögen zueinander und zumal in der Unzerstörbarkeit des Verhältnisses auf, das alles Urteilen und Maßnehmen trägt. ↩︎