Wegmarken der Einheit
Gottes Bund mit Israel: Bund der Einheit
Worum geht es in der Geschichte Gottes mit Israel? Wo liegt die eine Mitte, von der aus sich das gesamte Geschehen und in der Folge die gesamte Botschaft des Alten Testamentes entschlüsselt? Die Verse 4–6 im 19. Kapitel des Buches Exodus, das Wort Gottes an Mose, in welchem er dem Volk seinen Bund anbietet, geben Antwort: „Ihr habt gesehen, was ich den Ägyptern angetan habe, wie ich euch auf Adlerflügeln getragen und hierher zu mir gebracht habe. Jetzt aber, wenn ihr auf meine Stimme hört und meinen Bund haltet, werdet ihr unter allen Völkern mein besonderes Eigentum sein. Mir gehört die ganze Erde, ihr aber sollt mir als ein Reich von Priestern und als ein heiliges Volk gehören.“
Das Besondere, das Religion und Geschichte Israels vor der Religion und Geschichte anderer Völker auszeichnet, läßt sich in vier Sätze zusammenfassen:
Satz: Gott bietet einen Bund an. – Er ist also nicht nur jener, der als der unendlich Größere einmal gütig ist und einmal streng, so daß Religion das angstvolle Unterfangen wäre, ihn womöglich gnädig zu stimmen. Er ist einer, der Mose seinen Namen gesagt hat: Jahwe, das heißt: Ich bin jener, der da ist; und das wiederum heißt: Ich bin jener, der mit euch geht, der euch tragen und begleiten wird, der immer sich euch zuwendet. Die größte Gabe dieses Gottes ist es, sich herabzulassen, dem Volke nahe zu sein, sich ihm so zuzuwenden wie ein liebender Ehegatte seiner Frau. Immer und immer wieder ist dies das Bild der prophetischen Verkündigung für den Bund Gottes mit seinem Volk. Dieser Bund ist freilich nicht [15] eine automatische Garantie für das Glück, sondern er ist eine Herausforderung des Menschen, auch seinerseits Treue, Dankbarkeit und Zuwendung zu Gott zu leben. Der Bund ist ein gegenseitiges Verhältnis. Bund, das heißt Einheit, die von Gott gestiftet, aber auch vom Menschen angenommen und mitvollzogen wird.
Satz: Der Bund Gottes ist Bund mit dem Volk, ja er begründet allererst die Existenz dieses Volkes. – Das Volk Israel ist nicht zu verstehen als ein Produkt aus der jahrtausendealten Völkergeschichte, sondern es weiß sich unmittelbar durch Gottes Eingreifen ins Leben gerufen und gestiftet. Hätte Gott Abraham nicht die Verheißung gegeben und wäre Abraham nicht glaubend auf sie eingegangen, dann wäre Isaak nicht geboren, dann gäbe es nicht Israel als den Stammvater und Namengeber dieses Volkes. Aber die Existenz Israels war eben bedroht, ja im Grunde bereits vernichtet im ägyptischen Exil. Und nur die Berufung des Mose und der Auszug aus Ägypten lassen Israel wiederum aufleben; ja hier gewinnt es zum erstenmal den Charakter eines geschichtlich eigenständigen Volkes. Sowohl die geschichtlichen Bücher des Alten Testamentes wie auch die prophetische Literatur und ihre Spiegelung etwa in den Psalmen zeigen ganz deutlich: Israel hält als Volk Gott die Bundestreue – oder es kann als Volk nicht bestehen. In unserem Zusammenhang ist dies von äußerster Bedeutsamkeit: Gott handelt – und sein Handeln heißt: Menschen zusammenführen, Menschen zur Einheit führen, Menschen zu einer gemeinsamen Geschichte mit ihm, dem handelnden Gott, führen. Nur in der Einheit des Volkes mit Gott in seinem Bund findet das Volk jene Einheit seiner Glieder miteinander, die es Volk sein läßt.
Satz: Der Gott, der Israel seinen Bund anbietet, ist nicht nur ein Volksgott, sondern er ist der Gott, dem alles gehört, der Gott des Himmels und der Erde. – Daß der Gott Israels nicht bloß ein Volksgott ist, sondern der einzige und wahre Gott, [16] jener, dem alle Geschichte und darum die ganze Menschheit gehört: dieses Bewußtsein läßt die Idee von Weltgeschichte und Menschheitsgeschichte allererst real werden. Wenn der Gott des Himmels und der Erde sich einem Volk zuwendet und mit einem Volk einen Bund schließt, dann bricht unmittelbar die Frage auf: Was bedeutet das für die Völker insgesamt? Was bedeutet das für die Menschheit? Die Antwort haben wir in jenem Urwort der Gottesoffenbarung an Israel gehört: Israel wird zu Gottes besonderem Eigentum unter den Völkern, zu seinem priesterlichen Volk. Die Aufgabe Israels ist es, den Namen Gottes unter den Völkern bekannt zu machen, Repräsentant Gottes unter den Völkern zu sein. Wenn dieses Volk eins ist mit Gott und darin seine völkische Einheit wahrt, lebt in der Welt das Zeugnis für die Macht, Treue und Größe dieses Gottes.
Satz: Gottes Gesetz für den Bund mit seinem Volk umfaßt mit gleicher Bedeutsamkeit zwei Grundforderungen: Bundestreue zu Gott, Bundestreue zueinander. – Also: Habt keinen anderen Gott, zeigt durch euer Leben, daß ihr von Gott, für Gott und mit Gott lebt! Behandelt euch aber auch gegenseitig mit jener selben Treue und Redlichkeit, habt dieselbe Bundesgesinnung zueinander, wie ihr sie von Gott erwartet und Gott schuldet!
Die Zehn Gebote Gottes, die auf den zwei Tafeln des Gesetzes aufgezeichnet sind (Ex 20,1–21; Dtn 5,6–22), bedeuten nicht nur die unmittelbare Konsequenz des Bundesangebotes Gottes; ihre Grundstruktur und ihr Grundinhalt ist auch das Rückgrat der gesamten Religion und Geschichte Israels.
Gott handelt, Gott wendet sich dem Volk zu. Nur wenn dieses Volk keinen anderen Gott hat (1. Gebot), nur wenn es im Bewußtsein der Nähe und Mächtigkeit dieses Gottes seinen Namen heilig hält (2. Gebot), nur wenn es nicht das eigene Werk absolut setzt, sondern Gottes Wirken höher achtet und [17] darum Zeit für diesen Gott hat als gemeinsame Feierzeit vor ihm (3. Gebot), kann dieser Gott im Leben des Volkes sichtbar werden. Doch das hat unabdingbare Konsequenzen für die Lebensart dieses Volkes, für die Weise, wie seine Glieder miteinander umgehen. Eltern sind nicht nur aus einem menschlichen Affekt zu ehren, sondern in der Folge der Generationen wächst die Zukunft aus Gottes Verheißung. Der Anfang des Bundesschlusses setzt sich fort in der Volksgeschichte von Geschlecht zu Geschlecht. Darum ist die Treue zu den Eltern und zur Tradition zugleich der Schlüssel für eine glückliche Zukunft (4. Gebot). Wenn Gott das Leben des Volkes begründet und errettet hat, dann ist das Leben eines jeden Volksgenossen unantastbar, darf nicht willkürlich ausgelöscht werden (5. Gebot). Wenn Gott den Bund mit seinem Volk in Treue hält, dann muß der Bund unter Menschen, die Ehe, heilig sein (6. Gebot). Wenn Gott dem Volk seine Lebensmöglichkeiten schenkt und ihm das Land bereitet, das von Milch und Honig fließt, dann müssen die Volksgenossen gegenseitig ihr Hab und Gut achten und wahren (7. Gebot). Wenn wir uns auf Gottes Wort verlassen dürfen, dann müssen wir uns auch auf die Wahrhaftigkeit des Wortes verlassen, das wir übereinander und zueinander sprechen (8. Gebot). Diese Gesinnung muß im Innern verankert sein. Es ist zu wenig, bloß Brüche dieser Ordnung zu vermeiden, sie muß von innen her durchgetragen werden, damit sie sich im Äußeren durchsetzen und Zeugnis vor der Welt werden kann (9. und 10. Gebot).
Die Untrennbarkeit der vertikalen Beziehung zu Gott von der horizontalen Beziehung zueinander, dies ist der Grundton alttestamentlicher Ethik. Jesu Doppelantwort auf die Frage nach dem wichtigsten Gebot (vgl. Mk 12,28–34) stellt dies durch die Verbindung zwischen dem Wort von der Gottesliebe (Dtn 6,4f) und dem von der Nächstenliebe (Lev 19,18) deutlich heraus. Doch bereits der Prophet Micha findet für das, [18] was die Propheten insgesamt bewegt, eine klassische Formel. Nicht ein Übermaß an äußeren Opfern und Leistungen versöhnt Gott mit dem Volk, das den Bund verlassen hat, sondern die Besinnung auf die Mitte – und diese Mitte umfaßt genauso, ja zuerst, den Brudersinn wie das rechte Verhältnis zu Gott: „Es ist dir gesagt worden, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir erwartet: Nichts anderes als dies: Recht tun, Güte und Treue lieben, in Ehrfurcht den Weg gehen mit deinem Gott“ (Mi 6,8).
Es sei eigens nochmals darauf verwiesen, daß es nicht genügt zu sagen: Gottesliebe und Nächstenliebe sind die Mitte alttestamentlicher Bundesethik. So sehr dies stimmt, so ist der Zusammenhang zwischen beidem eben begründet durch das führende Motiv, den Bund selber. Im Bund, in dieser gegenseitigen Treue Gottes und des Volkes, ist eingeschlossen die gegenseitige Treue, die Einheit zwischen den Gliedern dieses Volkes, damit wahrhaft auch im geschichtlichen Handeln und Leben dieses Volk seine Einheit erweise und in dieser Einheit Gott selber aufscheine. Es bestätigt sich: Das Leitmotiv der Geschichte Gottes mit dem Volk Israel ist die Einheit.
Eine letzte Bemerkung hierzu: Auch die Außendimension dieser Einheit – Israel als Zeichen in der Menschheit für Gott und als Anfang einer neuen Einheit der gesamten Menschheit – prägt sich aus in der prophetischen Verkündigung. Es soll hier genügen, auf die Vision von Jerusalem als Mittelpunkt des alle Völker einenden messianischen Reiches zu verweisen, wie sie beinahe gleichlautend Jesaja (2,1–5) und Micha (4,1–3) uns überliefern.