Gott und das Denken nach Schellings Spätphilosophie

Gottes Freiheit von und zu seinem Anderen

Nicht der Begriff des in sich seienden Gottes um seiner selbst willen, sondern die in ihm begriffene Freiheit dieses Gottes von seinem möglichen Anderen und zu ihm und darin zugleich vom unvordenklichen Actus seines Existierens und vom allgemeinen Wesen, das er ist, um etwas zu sein, anders gewendet: die Freiheit Gottes zu den Potenzen, will sagen: zu dem in ihnen Ermöglichten, und zugleich von den Potenzen, sofern sie ihn bestimmen und ihm seine Möglichkeit suggerieren, ist das in der Zuführung der Potenzen zum absoluten Actus und in der Auslegung dieses Actus durch die Potenzen, ist das im Gedanken der natura necessaria, ist also das im entwickelten Begriff Gottes Angezielte, ja ist erst dieser Begriff Gottes selbst.

Es ist leicht zu sehen, inwiefern die Potenzen in der neugewonnenen Stellung die Gewähr dieser Freiheit sind:

Bereits indem der unvordenkliche Actus als solcher gedacht ist, ist er auf die entfaltete Weise als sich gehörig, als sich auslegend in das Ansich-, Fürsich- und Beisichsein, also in das präpotentielle Wesen der Potenzen gedacht. Darin erscheint er als unabhängig von etwas außer ihm und auch als erhoben über die Verschlossenheit blinder Faktizität. Beides wird freilich erst gelichtet, wird ihm selbst erst bewußt, tritt erst in die Helle des Denkens und der Ausdrücklichkeit im unkonstruierbaren Erwachen des Denkens, und das heißt: im Auftauchen der Möglichkeit des Anderen, die im „Ansichsein“ eingeschlossen, deren Hervorkommen also nicht ausgeschlossen ist.

Es versteht sich zwar von selbst, daß die absolute Lichtung dieses Nicht-Ausgeschlossensein als solches enthält und also ans Licht bringt, das positive Ans-Licht-Kommen der Möglichkeit als solcher ist selbst aber nicht daraus abzuleiten. Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen: daß es einem Künstler an seinem Wesen, an dem, [252] was er an sich ist, auffällt, daß darin die Potenz seines schaffbaren Anderen geborgen ist, daß ihm sein schaffbares Werk also „einfällt“, gehört zu seinem Wesen, zu dem, was er ist. Und doch ist dieser Einfall, diese Begegnung zwischen dem Künstler und seiner Idee ihm selbst Ereignis, und zwar ein ihm ebenso konstitutives, wie „unversehenes“, sich gebendes, nicht bewerkstelligbares Ereignis.

Von hierher klären sich Schellings aufs erste befremdliche Aussagen in der 13. Vorlesung der Philosophie der Offenbarung in etwa:

„Den Anlaß … zu dieser Erscheinung von Potenzen eines (noch nicht seienden) Seins in dem absoluten Geiste … gibt ursprünglich nur die an dem Wesen hervortretende oder sich zeigende Möglichkeit. Diese Möglichkeit war vor dem Sein des vollkommenen Geistes auf keine Weise da, sie tritt erst nachher hervor als das Unversehene (Unvorhergesehene), gleichsam Unerwartete (… eben diese Potenz wird sich uns in der Folge wiederholt darstellen als das Unversehene, Plötzliche), sie ist das nicht Gewollte, denn sie tritt von selbst hervor, ohne Wollen des Geistes; aber, obwohl das zuvor nicht Gesehene, erscheint sie doch nicht als ein ungern Gesehenes sondern im Gegenteil als ein Willkommenes“1, weil sie ihn von seiner starren Gebundenheit an sich selbst und allein freisetzt.

Was nun eröffnet sich im Einfall der Möglichkeit des Anderen, im Erscheinen der Idee? In ihm wird der eintönige und gleichförmige Actus bloßer Existenz unterbrochen2. Das erscheint, so gesagt, als ein schlechter Anthropomorphismus. Und doch hat es seinen reflex zu erhellenden Sinn: Die Möglichkeit des Anderen „unterscheidet“ den lauteren Strom reiner Existenz, der ohne sie einfachhin „alles“ und das „Einzige“ wäre, von seinem Anderen, tut dies aber derart, daß diese alleinige Existenz als all-einige, als sich gehörende, als seines Anderen mächtige, als auch ohne dieses Andere sich selbst gehörende und in sich lichte aufgeht, als nicht bloßer actus necessarius, sondern eben: als natura necessaria.

Es geht an der Möglichkeit des Anderen auf, daß mögliches An- [253] deres als möglich dem zugehört, dem sie sein „Anderes“ vorstellt, daß er also auch ohne dieses Andere er selbst und zugleich mit diesem Anderen gemeinsam er selbst sein kann und so im Grunde je „all-einig“ bleibt – das mögliche Werk ist keine Konkurrenz der Alleinigkeit des Künstlers, sondern die Lichtung seines dem Begegnen mit ihm vorgängigen, es tragenden Seins, das so nicht bloße Vorhandenheit, sondern in der Vorhandenheit zugleich Freiheit von ihr bedeutet.

Das derart als Ergebnis Vorgestellte hat freilich seine innere, allerdings simultane Genese. Sie ist uns vertraut aus dem Prozeß der Potenzen in der negativen Philosophie, welchen die hypothetische Erhebung des Seinkönnenden auslöst und der die Exposition der Potenzen als Ursachen leistet. Das Seinkönnende als Imagination ihm unmittelbar eigenen Seins, als dessen causa materialis „erregt“ das rein Seiende zum Seinmüssenden, zur causa efficiens auf das Subjekt-Objekt als das Seinsollende, als causa finalis zu3

Hier, in der positiven Philosophie, ist dieser Prozeß indessen zum Prozeß der Gott gehörigen Potenzen, zum Prozeß seines eigenen Seins erhoben, das sich lassen kann ins Sein seines Anderen hinein, weil es in diesem Seinlassen sich doch je restituiert, sich in sich selbst nicht genommen werden kann.

Mögliche Schöpfung ist Gott mögliche Schöpfung, weil sie an sich selbst das unmittelbar Negierte, Gottes Alleinigkeit, mittelbar gerade bestätigt, und sie tut dies nicht erst als wirkliche Schöpfung, sondern bereits als Möglichkeit von Schöpfung: Ob Anderes nun wirklich ist oder nicht, indem es möglich ist, ersieht sich Gott an der Möglichkeit des Anderen als ihm und ihr vorgängige natura necessaria. Er ist frei zu seinem Anderen, weil es ihn nicht sich nimmt, und frei von ihm, weil er die Wirklichkeit dieses Anderen nicht braucht, um er selbst zu sein4.


  1. XIII 267/68. ↩︎

  2. XIII 273/74. ↩︎

  3. Im Kontext positiver Philosophie vgl. XIII 265/67, 272, 278/79, 284/85. ↩︎

  4. Zum Ganzen Philosophie der Offenbarung, 13. Vorlesung, bes. XIII 267–271. ↩︎