Denken der Grenze – Grenze des Denkens

Grenze im Hinblick Bernhard Weltes

Vergegenwärtigen wir uns also einleitend den Gedanken, den Bernhard Welte zu seinem Thema „Die Grenze als göttliches Geheimnis“ vorlegt. Der Kontext – wir bemerkten es schon – war ein Dies Universitatis, der seinerseits „Die Grenze im Leben der Wissenschaft“ behandelte.

Es ist natürlich einerseits mißlich, einen ohnehin auf sein Wesentliches konzentrierten Gedanken nochmals zu konzentrieren. Andererseits zwingt solches Bemühen, den Gedanken möglichst nahe bei seinem Ursprung aufzusuchen, sozusagen in den Prozeß seiner Genese hineinzuschauen.

Kennzeichnend, wie in einem ersten Schritt Bernhard Welte selbstverständlich Vorausgesetztes so ans Licht hebt, daß es in seiner einfachen, unmittelbaren Gegebenheit sich zeigt und darin gerade mehr zeigt als seine vorgewußte Selbstverständlichkeit. Er setzt dabei an, daß da von Wissenschaften die Rede ist und von Grenze. Was haben diese beiden miteinander zu tun, die Wissenschaften und die Grenze? Nun, es gibt Grenzen zwischen Wissenschaften, die eine ist nicht die andere. Wer in der einen Wissenschaft forscht, lehrt, studiert, der sieht anderes und sagt anderes als jener, der die andere Wissenschaft betreibt. Dieselbe Sache kommt nicht in derselben Hinsicht in der einen und in einer anderen Wissenschaft vor, und da die Hinsicht in der Wissenschaft keine beliebige, sondern eine sich methodisch an ihrer Sache vermittelnde ist, können wir sagen: Die Sache der einen Wissenschaft ist nicht die der anderen. Dann aber haben die verschiedenen Wissenschaften verschiedene Standorte innerhalb eines umgreifenden Raumes dessen, was ist. Die Sache einer Wissenschaft ist das, was von ihrem Standort aus innerhalb dessen, was ist, in Sicht kommt, die Grenzen zwischen den Sichtfeldern sind die Grenzen zwischen den Wissenschaften, sie gründen also in den Grenzen, die durch das Ganze dessen hindurchlaufen, was ist.

Es genügt indessen nicht, Grenze und Wissenschaft dadurch in Beziehung zu setzen, daß man Grenzen zwischen den Wissenschaften konstituiert und sie als Grenzen bezeichnet, die zwischen der einen und der anderen Region des Seienden verlaufen.

[11] Mit diesem Bild des Ganzen, das in Regionen geteilt und somit von Grenzen durchlaufen ist, und dem in dieses Bild eingefügten Merkmal des Standortes in je einer Region, von dem aus diese selbst und so zugleich ihre Grenze zu anderen Regionen in Sicht kommen, gewinnt das bislang Gesehene eine Bildlogik, die noch mehr zu sehen erschließt, noch mehr an „Grenze im Leben der Wissenschaft“ sehen läßt. Der Blick der Wissenschaft ist nicht allein und nicht einmal zuerst der Seitenblick, der die benachbarte Region in ihrem Entgehen, die benachbarte Wissenschaft in ihrer sich an sich selbst nehmenden Andersartigkeit eben noch gewahrt. Der Blick der Wissenschaft ist in erster Linie der Vorblick auf das, was in der Region des eigenen Hinblicks bislang noch nicht in Sicht trat. Die Region ist nicht einfach durch Grenzen in einem im vorhinein Überschauten und Überschaubaren umschlossen, sondern die Region ist, trotz ihrer seitlichen Begrenzung, im Blick nach vorne in Unendliches, zumindest Endloses hinein geöffnet. Je mehr der sich dem wissenschaftlichen Hinblick erschließt und je mehr sich in ihn einbringt, desto weiter schiebt sich die Grenze des Erkannten und Gesicherten hinaus – aber diese Grenze bleibt doch die Front gegenüber dem, was als das noch zu Erforschende und zu Klärende der jeweiligen Wissenschaft noch aus- und bevorsteht. Sicher müßte auch hier weiter differenziert werden, je nach Art des konstitutiven Hinblicks einer jeden Wissenschaft auf ihre Sache. Aber im Ansatz bleibt diese Erkenntnis bestehen: Wissenschaft lebt von einer Grenze, die je vor ihr liegt, die sich je weiter hinausschiebt, die die Wissenschaft aber je in der Relation zu dem beläßt, was ihr noch nicht gehört, was ihr als noch ungelöste Aufgabe, noch unbetretenes Land bevorsteht.

Seitenblick und Vorblick, Grenze zwischen den Wissenschaften und Grenze zwischen dem Schon und dem Noch-Nicht – ein Drittes entgeht dem Hinblick der Wissenschaft noch radikaler und konstituiert doch gerade so sie selbst, indem es sie begrenzt. Der Hinblick hat sein Woher, sein Woraus, in die er gerade nicht hineinblickt. Warum ist Zahl nicht Sprache und Sprache nicht Zahl? Warum ist Geschichte nicht Natur und Natur nicht Geschichte? Das, was eine Region des Seienden und somit eine Wissenschaft konstituiert, kommt in dieser Region und somit in dieser Wissenschaft nicht an sich selber vor. Sowenig [12] wie eben das Eigene des Sehens sichtbar, das Eigene des Hörens hörbar ist.

Wissenschaften werden, in der bezeichneten Bildlogik, zu Wegen des Sehens innerhalb dessen, was ist. So aber zeichnen sich den Wissenschaften Grenzen ein, die sie konstituieren, indem sie zugleich sie relativieren: Grenzen zwischen den Wissenschaften, Grenzen vor einer jeden Wissenschaft, Grenzen im Rücken der Wissenschaften.

So unerläßlich diese erste Stufe im denkenden Hinblick auf so etwas wie Grenze ist, so betroffen müssen wir auf der zweiten Stufe feststellen: Eines ist dabei nicht in den Blick gekommen, und dieses eine ist – die Grenze selbst. Wir sahen, wo Grenzen laufen, aber was das ist, eine Grenze, das ist uns dabei entgangen. Es wird deutlich: Wir haben hier anders zu blicken, der Hinblick muß anderer Art sein als jenes Blicken, das wir bislang anwandten und das wir auch als die Blickweise der Wissenschaften selber in Blick nahmen. Allerdings haben wir schon anders geblickt, denn sonst hätten wir die Wissenschaften gar nicht solchermaßen „jenseits“ ihres je im einzelnen bestimmten Hinblicks gesehen, und es wäre uns erst recht nicht aufgefallen, daß wir Grenze selbst in ihrem Wesen nicht entdeckten. Lassen wir die Frage nun einmal beiseite, inwiefern immer ein Mehr gegenüber dem je Eigenen der Wissenschaft auch in diese mit eingeht und es möglich macht, daß sie als Wissenschaft betrieben wird. Schauen wir jedenfalls auf dieses Eine: Grenze als Grenze ist anderer Art als die „Sachen“ der Wissenschaften, anderer Art als die Regionen dessen, was ist, als das Erblickte, Erblickbare, dem Blick sich Auftuende, Anverwandelnde, von ihm Festzumachende in der Blickweise einer Wissenschaft.

So wichtig und so kennzeichnend die in dieser zweiten Stufe von Welte geleistete Phänomenologie der Grenze auch ist, so angebracht erscheint es doch, hier im Referat kürzer zu sein. Wir legen es eher darauf an, Vorbereitung, Genese und Kontext der Schritte seines Gedankens zu erinnern als diesen selbst. Wer sich einmal auf ihn eingelassen hat, dem ergibt sich das sozusagen von selbst, was nun sein Hinblick auf das Entgangene und durch sein Entgehen gerade erschlossene Eigene von Grenze ist. Welte führt auf die je entsprechenden, selbigen Momente von Grenze in drei Gängen hin.

Erster Gang: Grenze zwischen diesem und jenem Etwas, die [13] aneinandergrenzen, ist nicht ein drittes Etwas, sondern sie ist gerade: Nichts. Deswegen entgeht Grenze, weil sie an sich selber Nichts ist. Aber sie ist Nichts zugleich so, daß sie nicht Nichts ist, nicht nichtiges Nichts, sondern bestimmendes Nichts. Sie ist somit ein Waltendes und erfordert ein Hinblicken, das über die Pole von Nichts und Etwas hinausfährt und Walten dessen, was anders ist als Nichts und Etwas, gewahrt.

Zweiter Gang: Wie waltet Grenze? Sie waltet als Bestimmung (determinatio); denn was begrenzt ist, das gerade ist bestimmt, das ist an sich selbst es selbst. Wie aber geht solche Bestimmung, wie waltet Grenze als Grenze? Als negatio, distinctio und unio. Grenze macht, daß das eine nicht das andere ist und das andere nicht das eine und daß es, im selben und eigenen zumindest, an der Grenze nicht weitergeht. Solches Nicht gerade leistet Unterscheidung und somit eben Bestimmtheit. An der Grenze erfolgt der Rückstoß in das Eigene, es gerinnt zur Gestalt, die in sich selbst steht und stimmt, weil sie nicht zerfließt und ins Ununterschiedene entschwebt. Zugleich aber bindet Unterscheidung das Unterschiedene zusammen. Nur wer an die Grenze kommt, kann über sie hinauskommen, und nur weil er schon über sie hinausgekommen ist, kommt er überhaupt an sie; ohne den Ausgriff erführe er den Abstoß ins Eigene nicht. Und wer die Grenze sieht, der hat schon über sie hinausgesehen. Grenze verbindet jene, die in ihr aneinandergrenzen.

Damit aber ist der dritte Gang bereits geschehen: Grenze schenkt drei Urbegriffe: „Dieses (Bestimmte), Nichts (nichts anderes), Und“.1

Was haben wir gesehen, indem wir die Merkmale von Grenze an ihr selbst gewahrten, indem wir unser Nichtsehen von Grenze als ein Sehen der Grenze in die Sicht bekamen? Was haben wir gesehen, und wie haben wir es gesehen? Die Bildlogik der ersten Stufe ist verlassen. Wir haben uns umgewandt und in die Richtung der Herkunft geschaut, so freilich, daß die Umwendung des Hinblicks, die Umkehr des Denkens dieses Hinblicken und Hindenken selber ist. Das geht keineswegs so, daß wir nun einfach das, was ist, hinter uns ließen und geradewegs hineinblickten in seine und unsere Herkunft. In solchem Denken würde die Herkunft selber zum verfügbaren Seienden, und aufs neue entginge genau dasselbe, was im Hinblick auf der [14] ersten Stufe entgangen war: die Grenze an ihr selbst. Der Hinblick aus der Umkehr in die Herkunft kann nur anrühren, verfügen kann er nicht. Nur wenn er sich bescheidet ins Nichts, nur wenn er in solche Bescheidung die eigene Unterscheidung und jene des Geheimnisses wahrt, schenkt sich die einende Kraft des Denkens, die das andere als es selber und sich als das andere dieses anderen mit ihm zusammen sieht.

In solchem neuen Denken in der Umkehr aber, in solchem Denken, dessen Gang und Wesen die Grenze selber wird, eröffnet sich Erstaunliches.

Die Bekanntschaft mit der Grenze als solcher kommt nicht nur dem Kennen der Wissenschaften zugute. Was als das Wesen von Grenze sich zeigt, ist die Bestimmung alles dessen, was ist, sofern es selber ist.

Die drei Grundworte, die wir entdeckten, sind die Grundworte dessen, daß ist, was immer ist. Alles sagt: Dieses, Nicht, Und.

Alles sagt so dasselbe Wort, und indem alles dasselbe Wort sagt, sagt jedes sich selbst und jedes sich in seinem Unterschied, seiner Andersheit, seiner Eigenheit gegenüber allem anderen. Wie ist dies möglich? Alles sagt jenes Wort, das ein jedes sich selber zuspricht, aus dem her alles ist, was es ist.

Grenze ist Wort. Eine Phänomenologie des Wortes führte zu denselben Momenten wie die der Grenze.2 Das Seiende sagt, indem es die Grenze als sein eigenes Wesen enthüllt, ein Wort weiter, von dem es je selber gesagt ist. Und dieses sagende Wort dürfen wir vernehmen in den ersten Worten der Schrift, in den Worten vom Anfang, vom Schaffen, vom Wort des „Es werde!“, davon, wie dieses Wort das Licht und die Finsternis scheidet.

So gelangen wir wie von selbst zur dritten Stufe.

Wir haben die Grenze vom Begrenzten her berührt, aber so hat uns in ihr das Begrenzende berührt. Und hier sind wir an der entscheidenen Grenze: jener zwischen dem, was begrenzt ist, und dem, was begrenzt. Können wir irgendwo in unserem Bereich, in dem des Begrenzten, diesen schöpferischen Anfang, dieses unbegrenzt Begrenzende sich spiegeln sehen? Wo wird Begrenztsein selber zum Grenzenden, Schöpferischen?

Die Szene wechselt noch einmal: Nachdem wir von der Wissenschaft hinübergedrängt wurden in die Umkehr zum Geheimnis, eröffnet sich uns nun die Einkehr in die Kunst.

[15] Was passiert, wenn ein Lied, ein Tanz, ein Spiel, ein Bild anheben? Es fängt etwas an, was vorher nicht da war. Und es fängt an, indem einer über sich hinausgeht, die Grenze des Nur-Ich überspringt, das, was in ihm lebt, sich von seinem Inneren unterscheiden läßt, so daß es auch jenseits seiner, im Äußeren lebt. Solches Entspringen geht in aller Leichtigkeit als Einung und Unterscheidung zugleich, in welchen allererst Grenze konstituiert wird. Dies ist das Positive, das setzende und nicht absetzende Setzen von Grenze. Unterscheidung im Überstieg, im Gewähren, im Aufgehenlassen. Im Und wird ursprünglich das Dieses und Nicht geboren, um des Und willen sind sie da. Dies ist die eine, die vertikale Richtung des Anfanggeschehens, wie es im Entstehen von Kunst sich anzuschauen gibt.

Aber dieses vertikale Geschehen läßt sich keinen Augenblick ablösen von einem horizontalen: Indem das Leben des Künstlers Leben seines Kunstwerks und somit Leben außerhalb seiner selber wird, legt dieses Lebendige sich auseinander, es wird ein in sich selber distinktes, gegliedertes Gebilde. Ein Ton etwa ist nicht der andere, jeder läßt sich unterscheiden, und alles gehört doch zusammen, bildet ein Eines, lebt in der Beziehung. Die Entsprechung, die Ergänzung, die Einheit im Ganzen lebt nur in der Unterscheidung, das Werk grenzt sich nach außen ab, indem es in sich selber in jeder Faser, in welcher es ist, abgegrenzt, unterschieden, geklärt ist.

Und so geht der Weg zurück, im großen und überraschenden Bogen, in den Anfang des Gedankens. Auch jene Welt, auf die wir zuerst geblickt haben, jene Welt, die von den Grenzen zwischen den Bereichen des Seienden durchzogen ist, jene Welt, die aus verborgenem, geheimnisvollem Ursprung wächst und weiterwachsen will in ihr eigenes Nochnicht, die Welt dessen, was ist und sich zu wissen gibt, läßt sich zutiefst nicht anders verstehen denn als Werk der ars aeterna, der ewigen Kunst. Wissenschaft wird zuletzt antwortendes Mitspiel mit jenem schöpferischen Spiel Gottes, das sich im intelligiblen Antlitz dieser Welt bekundet. Nicht das Herauspressen extremer Möglichkeiten des Könnens und Machens aus unserem Geist und dem Stoff der Welt, nicht die Abstraktheit des an sich eben noch Möglichen, nicht das blinde Verfügen, in welchem die Welt zum bloßen Material der ihre einsamen Ideen vollstreckenden Vernunft wird, sondern das Annehmen jener Grenzen, [16] ohne die Wissenschaft ins Maßlose oder Unverbindliche zerflösse, zeigen sich als ihr der Wissenschaft tiefster Sinn.

Bernhard Weltes Gedanke wurde im Winter 1957/58 formuliert. In denselben Monaten, in welchen Reinhold Schneider seinen „Winter in Wien“ schrieb. In der Zwischenzeit schienen beider Gedanken weit weg gerückt von dem, was in Wissenschaft und Technik sich begab. Sind nicht beide Gedanken, die düstere Ahnung von der Ungeheuerlichkeit dessen, was eine sich selbst überlassene Wissenschaft an zerstörerischer Potenz gegen die Zukunft der Welt einzubringen hat, aber auch die neue Ermutigung zur Wissenschaft, sofern sie ja sagt zu ihrer Begrenzung, ja zur Ehrfurcht vor dem schöpferischen Spiel Gottes, wieder neu aktuell geworden? Diese Nebenbemerkung sei am Ende des Referates über den denkwürdigen Vortrag Bernhard Weltes erlaubt.


  1. A.a.O. 68. ↩︎

  2. Vgl. Exkurs 1. ↩︎