Erfahrungen mit Wort und Sakrament

Grundlegung in der Inkarnation

Lassen Sie es mich wagen, mit einem sehr katholischen Wort zu beginnen, das ich, weil es sehr prägnant ist, zunächst auch in seiner lateinischen Urfassung zitieren will. Dieses Wort lautet: „Quod Christus ab aeterno sciebat per divinitatem hoc aliter temporali didicit experimento per carnem.“ „Das, was Jesus Christus, der Sohn Gottes, von Ewigkeit her wußte durch sein Gottsein, das lernte er anders durch ein zeitliches Experiment (durch eine zeitliche Erfahrung) im Fleische.“ Dieses Wort habe ich gefunden in dem für katholische und vielleicht nicht nur katholische Religionsphilosophie bedeutsamen Werk von Maurice Blondel, L’action 1893 (S. 619). Dort hat er es schön falsch, aber treffend zitiert aus De gradibus humilitatis von Bernhard von Clairvaux (De gradibus humilitatis et superbiae III, 6,10). Es ist ein Wort, das bei Bernhard in mancherlei Variation vorkommt, aber diese verschiedenen Fassungen sind ungemein prägnant zusammengeschlossen zu einer brillanten Form im genialen Gedächtnis des Maurice Blondel, und da heißen diese Worte eben so.

Ich muß sagen, daß diese Worte für mich einen Inbegriff katholischer Inkarnationstheologie darstellen, einen, der alles das bestätigt, was bekanntermaßen diese Inkarnationstheologie enthält, aber es zugleich kühn nach vorne öffnet. Als ich darüber nachdachte, von welchem geistlichen und theologischen Ort aus ich das ein bißchen entfalten könnte, was ich Ihnen sagen möchte, da kam mir eben dieses Bernhard-Zitat wieder in den Sinn. Damit es uns gut geleiten kann, sage ich es einfach noch einmal lateinisch und deutsch, denn ich werde öfters noch darauf zurückkommen: „Quod Christus ab aeterno sciebat per divinitatem hoc aliter temporali didicit experimento per carnem.“ „Was Christus von Ewigkeit her wußte durch sein Gottsein, das lernte er anders durch eine zeitliche Erfahrung im Fleische.“

[71] Demnach wäre also die Menschheit Christi, das Menschsein Christi nicht eine zufällige und äußere Addition zu seinem dem vorgeschalteten oder nachfolgenden oder darin bloß versteckten Gottsein, sondern dieses Menschsein – ungetrennt und ungeschieden vom Gottsein, weit weg von allem Monophysitismus – ist nicht nur Ort eines Mitteilungsprozesses und Durchgabeprozesses Gottes an den Menschen, um ihm an seinem Leben teilzugeben; dieses Menschsein ist vielmehr nur dadurch Weitergabe des göttlichen Lebens, Offenbarung des göttlichen Lebens, daß in diesem Menschsein von unserer Situation aus, von dort aus, wo wir stehen, von dem Ort unserer Erfahrung aus der Sohn Gottes etwas „gelernt“ hat. Und was hat er gelernt? Er hat uns gelernt, unser Menschsein, das doch von ihm geschaffen ist, unsere Existenz, dort, wo sie ist. Und er hat – recht verstanden – darin menschlich „den Vater“ gelernt. Er hat eine Erfahrung gemacht, in welcher er das, was der Vater für den Sohn ist, auslegt, darstellt, erfährt, erlernt von unten her. Der Gott von oben ist in ihm der Gott von unten geworden, indem er Mensch geworden ist. Und darin geschehen zwei Dinge zugleich. Einmal geschieht Offenbarung, Ansage, Anruf, Mitteilung; zum andern geschieht Kontakt, Weitergabe von Leben, Eindringen von Leben in Leben. Also: gebendes Sagen und sagendes Geben.