Vorspiel zur Theologie

Grundspiel Sprache

Daß Sprache im selben Rang ein Grundspiel sein soll wie das alles in Gang bringende Interesse, gar wie das Dasein selbst, mag erstaunen. Ist Sprache nicht nur ein Daseinsbereich unter anderen? Gewiß, wenn wir den Begriff Sprache auf alles ausweiten, was hell werden, verlauten, sich mitteilen bedeutet, dann hebt sie sich heraus aus dem vielfältigen Nebeneinander der Eigenschaften des Seienden und der Fähigkeiten des Menschen. Und doch: ist sie nicht weniger als das Sein? Müssen wir in unserem Sprechen, Erklären, Betrachten nicht immer neue Anläufe nehmen, um das, was ist, zu verstehen, um es einzuholen in das Licht seiner Offenbarkeit? Ist nicht alles, was wir sagen, Unterbietung dessen, was wir meinen? Ist nicht alles Erscheinen Unterbietung dessen, was ist?

In der Tat, Sprache, so eng oder so weit wir sie auch fassen wollen, ist kleiner als Sein, abkünftig von Sein, herkünftig von Sein, sich messend am Sein, Sein unterbietend. Aber nicht minder gilt doch auch das Umgekehrte. Wenn etwas zur Sprache kommt, geht es erst auf, erreicht es erst seine Fülle, seine Klarheit. Wenn etwas ans Licht kommt, ist es erst ganz, was es ist. Was nicht erscheint, ist gar nicht. Sprache, Erscheinen sind als die [50] Offenbarkeit des Seins seine Steigerung, seine Vollendung, sein Mehr.

Dieser doppelte Rhythmus ist der Rhythmus der Sprache, und er ist in einem Rhythmus des Seins. Sein unterbietet sich in die Sprache hinein, Sein steigert sich in die Sprache hinein. Sprache ist demütige, gehorsame Gestalt des Seins, Sprache ist der Glanz und die Fülle des Seins. In diesem gegenseitigen Hinauf und Hinab von Sein und Sprache, von Sein und Erscheinen schwingt die Gleichung zwischen beiden, die Gleichung, ohne welche alles ins Unscheinbare, ins Unterscheidungslose, ins Wesenlose, ins Nichts versänke. In der Sprache geschieht Unterscheidung des Seins und des Nichts, in der Sprache also Identität des Seins. In der gegenseitigen Steigerung und Unterbietung von Sein und Sprache haben beide ihre Gleichung mit sich selbst und miteinander.

Der Rede vom Grundspiel Sprache könnte der Einwand begegnen, es sei umfassender, allgemeiner, vom Grundspiel der Offenbarkeit, des Erscheinens zu sprechen. Dennoch bleiben wir bei Sprache. Wie das Interesse im freien Handeln, wie das Sein im menschlichen Dasein erst ganz zu sich selber eingeholt wird, so das Erscheinen alles Erscheinenden in der Sprache. Und auch hier kommt es gerade auf dieses ganze Maß an, kommt es darauf an, das Phänomen dort anzuschauen, wo es ganz ins Offenbare tritt, wo es ganz erscheint.

a) Konstitution von Sprache

Um das Grundspiel Sprache zu verstehen, fragen wir uns nach der Zeit von Sprache, nach dem Ursprungsgeschehen von Sprache: Wer spricht? Wir fragen uns nach dem [51] Raum, den Sprache erbildet, nach den Dimensionen, die sie eröffnet. Und wir fragen uns nach den Bewegungen, nach dem typischen Gang von Sprache, nach dem, was sie will, wohin sie zielt und führt.

Zeitigung und Sprache

Die Frage: Wer spricht? scheint unmittelbar ihre selbstverständliche Antwort zu finden. Ich spreche, der Mensch spricht. Aber wenn ich spreche, so sage ich doch: Es ist so. Und damit sage ich, daß nicht nur ich es sage, sondern daß es so ist, das aber heißt: Die Sache hat sich mir gesagt. Ich finde Namen und Worte; aber nur wenn ich die Namen und Worte nicht in verfügender Willkür erfinde, sondern sie finde, treffen sie, erhellen sie, stiften sie Verläßlichkeit und Orientierung. Wer immer etwas sagt, der sagt damit, etwas habe sich ihm gesagt. Er kann sich dabei täuschen, er kann sich oder anderen etwas vormachen, kann lügen, oder er kann nur spielerisch so tun als ob. Der innere Anspruch der Sprache, die Sache zu sagen, die Sache sich sagen zu lassen im menschlichen Wort, bleibt, und nur an diesem Anspruch lassen sich Täuschung, Lüge und spielerische Rede ermessen und unterscheiden.

Ich spreche, die Sache spricht. Doch zumindest eines fehlt noch: die Sprache selbst. Mein Wort will nicht nur die Sache treffen, sondern auch dich, so daß du dieselbe Sache sehen und im selben Wort dieselbe Sache meinen kannst. Mein Wort erhebt von sich her den Anspruch, auch dein Wort, auch unser Wort sein zu können. Selbst dann, wenn ich eigens Geheimworte erfinde, die sonst niemand kennt, sind sie doch solche Geheimworte nur aus dem Urbezug des Wortes aufs Du und aufs Wir. Die [52] Dimension des Austauschs, der Gemeinsamkeit läßt sich vom Wort nicht abschneiden.

Im konkreten Geschehen von Sprache ist diese Dimension noch reicher, noch vielfältiger. Mein Wort ist ein Wort für dich. Aber es ist zugleich ein Wort von dir her, ein Wort, das ich, indem ich es sage, nicht nur auf dich zu denke, sondern von dir her, als Wort deiner möglichen, ja erhofften Übereinstimmung mit mir. Und mehr noch, in der entwerfenden Aktivität meines Sprechens sind viele Du, ist ein umgreifendes Wir gegenwärtig. Dies gilt von jedem Wort, das ich sage. Selbst ein von mir erfundenes Wort hätte seine Vorgeschichte im Sprechen anderer, in der Überlieferung von Sprache, in ihrer auf mich zukommenden, von unzähligen Generationen her zukommenden Geschichte. Mein neues Wort spricht weiter an den alten Worten, die mich sprechen lehrten.

So können wir an jedem Wort, das wir sprechen, die drei Ursprünge ablesen, die sich in ihm, in diesem einen Wort zugleich zeitigen. Ich spreche, ich bringe mich ins Offen in diesem Wort. Die Sache spricht, sie kommt zur Sprache, sie tritt in Erscheinung in meinem Wort. Und die Sprache spricht dieses Wort, sie trägt es, bringt es hervor, bietet es an, damit darin ich und die Sache eins werden und ins übergreifende Einverständnis eintreten können.

Verborgener und doch in strenger Entsprechung läßt sich solches an allem Erscheinen und Offenbarwerden wahrnehmen. Wenn ich eine Blume sehe, dann sammelt mein Blick die Eindrücke zu einem Bild. Doch diese schaffende Kraft meines Sehens ist zugleich und zuerst empfangende Kraft. Die Blume zeigt sich, bringt sich mir zu in diesem Bild, sie ist der Ursprung, der aufgeht in ihm. Ja ginge sie nicht auf in ihrer Gestalt, so wäre sie [53] nicht, was sie ist: sie ist es, zu erscheinen, sich zu erbilden in ihre Gestalt. Und die Ordnung des Lichtes, die Ordnung der Sichtbarkeit, die Sehen und Gesehenes verbindet, tritt zugleich hervor; in ihr schlagen Erscheinen und Sehen in eins.

Raum von Sprache

Indem ich spreche, komme ich über mich hinaus, kommt die Sache über sich hinaus, kommen die hörenden und mitsprechenden Partner über sich hinaus. So aber entsteht in der Zeitigung der Sprache ein Raum. Seine drei Dimensionen heißen: Außen, Innen, Zwischen.

Vom Sprechenden, vom Ich her angeschaut: Wer spricht, der äußert sich. Er ist außerhalb seiner selbst da. Was er denkt, wie er sieht, wer er ist, verlautet, teilt sich mit, übersteigt die Grenze seines eigenen Daseins und kommt beim anderen an. Das Ich gewinnt sein Außen, indem es spricht. Doch solche Äußerung setzt die Grenze, die auch das Innen markiert. Was in mir ist, kommt in der Sprache heraus, und die mögliche Differenz zwischen Innen und Außen tritt erst in Sicht, wenn ich sprechen oder schweigen kann. Das Außen, das die Sprache stiftet, ist indessen mein Außen, das sich sofort und unabweislich auch als Dasein eines anderen, als Außen eines anderen zu verstehen gibt. Mein Außen ist nicht nur das Außen meines Innen, es äußert mich in deinen Außenraum, in den Außenraum eines anderen, der von innen mich wahrnehmen, mir antworten, sich also seinerseits äußern kann. Das Zwischen, das Innen und Innen miteinander verbindet, ist die dritte, die volle, die wahrhaft raumbildende Dimension der Sprache.

[54] Gang der Sprache

In seinem Hervorgang aus den Ursprüngen des Sprechenden, der Sache und der Sprache eröffnet das Wort nicht nur einen Raum, es begeht diesen Raum. Sprache geschieht als mannigfache Bewegung, als Gang zu vielerlei Zielen – und doch ist die Gangart der Sprache eine, dieselbe. Das scholastische Wort adaequatio, Angleichung, Anmessung, Hin-Sein auf Entsprechung könnte dieser Gangart den Namen geben.

Die Sprache will einholen, erreichen. Und was sie einholen, erreichen, wem sie im Wort nahekommen will, das stellt sich dreifältig dar. Wort – wir sagten es schon – will zutreffendes Wort sein. Die adaequatio ad rem, die Anmessung an die zu sagende Sache, ist der innere Wille, die innere Zielrichtung eines jeden Wortes. Sie läßt sich nicht lösen von einer zweiten, von der Richtung auf die Partner, aufs hörende, aufs antwortende Du. Wort ist Wort für Hörer, Wort für Verstehende, Wort für solche, die im selben Wort dasselbe, somit aber mich und die Sache verstehen. Diese Annäherung und Angleichung an die Hörenden und Mitsprechenden bestimmen auch das Bemühen, die Sache gut zu sagen, sie der Sprache gemäß zu sagen; denn der Sprache gemäß heißt doch: dem Verstehen-Können, dem Übereinkommen gemäß.

Schließlich lebt Sprache von einer dritten, paradoxen und doch konstitutiven Richtung. Sprache will nämlich das Unsägliche, den Überschuß des Seins über die Sprache, das Geheimnis einholen, es sagen. Paradox ist dies, weil das Unsägliche ja nur als ungesagt es selber bleibt, und doch wird sich sein Überschuß, seine Unsäglichkeit nur im Versuch des Sagens offenbaren. Wo Sprache sich nicht selber verfehlt, weiß sie dies und wahrt sie dies. [55] Sie geht immer weiter, sie spricht immer neu, aber das je neue Sagen ist ihr zugleich der Mantel, der das Mehr, das Unsägliche schützt. Im Wort ist dieses Mehr, dieses Unsägliche anwesend in seiner Differenz; die Differenz selbst, die sich annehmende Unterbietung wird zum Vollzug der adaequatio, der Wahrung und Einholung. Das zuletzt Berührte – aber ist dies nicht anfänglich in den beiden ersten Zielrichtungen des Denkens mitangelegt? – ist nicht ein eigener Inhalt, ein eigenes Thema, ein eigenes Was des Sprechens, sondern sein Wie, eben sein Gang, sein Ton, sein Rhythmus. Es ist dem Wort anzumerken, ob es bescheidwissend entblößt oder die Kostbarkeit des Gemeinten hütet – und gerade in solcher Scheu läßt es sie aufgehen.

b) Dimensionen von Sprache Sprache als Zeichen

Was ist Sprache? Am nächstliegenden erscheint uns vielleicht die Antwort: Sie ist ein System von Signalen, von Zeichen, mit denen wir auf alles mögliche hinweisen und uns so miteinander verständigen können. Sprache ist hier von ihrer Funktion her verstanden, und in einer Welt, die voll ist von Signalen und Informationen, scheint Sprache nichts anderes leisten zu müssen und scheint sie keine andere Tiefe, kein Geheimnis zu haben. Gewiß, Sprache ist auch, ja von unserer heutigen Perspektive aus gesagt, zuerst dieses System von informativen Zeichen. Doch daß solche Zeichen funktionieren, daß sie verständlich sind, dies ist alles eher als selbstver-[56]ständlich. Wenn ich plötzlich ein Wort in unserer Schrift und Sprache in den Sand schreibe, fangen Ameisen gewiß nicht an zu verstehen und zu sprechen. Zeichen bezeichnen nur etwas, wo Wesen einen dreifachen Überstieg bereits geleistet haben.

Sie müssen einander verstehen, sie müssen sich überstiegen haben zueinander, Partner geworden sein, denen deutlich ist: wir gehen einander an, und uns geht dasselbe an. Das Stichwort „dasselbe“ weist auf einen zweiten Überstieg. Sie müssen sich überstiegen haben in eine gemeinsame Welt, in welcher etwas passiert, was sie alle angeht und was für sie dasselbe bedeutet. Überstieg also nicht nur zueinander, sondern Überstieg zum Bezeichneten, zu dem, woraufhin man sich Zeichen geben will. Und schließlich, nicht weniger erstaunlich, muß ein dritter Überstieg gelungen sein, der Überstieg vom Bezeichneten zum Zeichen. Um es im Horizont der Sprache auszudrücken: Ist es nicht eigentümlich, daß ein Wort, das weder blüht noch Farbe hat, die Blume aussagen kann? Der Beziehungsraum des Wir, der Beziehungsraum der Welt, in der etwas für alle dasselbe ist, der Beziehungsraum zwischen Zeichen und Bezeichnetem, in dem Andersartiges etwas Andersartiges be-deutet, müssen schon je der Lebensraum des Verstehenden sein, damit ein Zeichen etwas sagen kann. Wenn aber nicht nur einzelnes aufeinander wirken, sondern wenn alles befragt, besprochen, bedeutet werden soll – und dies ist kennzeichnend für die Sprache –, dann ist die Differenz zwischen der Ebene der Zeichen und jener des Bezeichneten qualitativ unendlich. Es genügt nicht, daß ich mit einem Finger auf ein anderes Ding weisen oder durch ein nachahmendes, erinnerndes Symbol an einen Vorgang gleicher Art erinnern kann, ich muß mit einem Laut [57] meiner Stimme, mit einer Kurve auf dem Papier, mit Worten, mit Buchstaben auf das deuten können, was völlig anderer Art ist. Das Zeichen selbst ist immer etwas Einzelnes, Endliches. Das Bezeichnete aber – selbst wenn es ein Einzelnes, Endliches ist – wird durch das Bezeichnen in den unendlichen Horizont, in den Horizont alles Möglichen, in den Horizont des Ganzen eingefügt.

Wer dies einmal verstanden hat, der hat verstanden, daß nicht von Signalen und Zeichen her die Sprache, sondern vom Mehr der Sprache her Signale und Zeichen zu verstehen und als eine Dimension von Sprache zu verstehen sind.

Wer dies verstanden hat, hat freilich noch ein Weiteres verstanden. Sprache läßt sich nicht trennen vom Verstehen. Der Sprechende geht gar nicht aus sich heraus, wo sein Sprechen nicht auch ankommt. Zumindest bei sich selber, bei sich in der Rolle des hörenden Du muß der Sprechende angekommen sein, sich selbst muß er zuhören und verstehen, damit er nicht lallt, sondern spricht, damit sein Wort Sinn hat und also Wort ist.

Und ein Drittes ist hier verstanden. Verstehen und Sprechen müssen zwar je jetzt, je neu geschehen, sonst geschehen sie nicht. Verstehen muß aber, um jetzt geschehen zu können, schon zuvor, schon immer geschehen sein. Durchs Sprechen kann ich Verstehen nicht erst machen. Anders als sprechend aber kann ich die Differenz von Ich und Du, von Wir und Sache, von Sache und Zeichen nicht überwinden. Der Raum der Sprache muß schon eingeräumt sein, wenn wir ihn betreten, und doch eröffnet er sich erst, indem wir ihn betreten. Dies ist der Zirkel des Lebendigen, der Zirkel des Geistigen. Man spricht hier vom hermeneutischen Zirkel: Ich [58] muß jetzt verstehen, um überhaupt zu verstehen, ich muß schon je verstanden haben, um jetzt verstehen zu können.

Sprache als Gestalt

Nur flächig gelesen, enthüllt Sprache nicht ihre Tiefe, nicht das, was auch ihre Oberflächenstruktur allererst trägt und ermöglicht. Sprache ist Zeichen. Sie könnte aber nicht Zeichen sein, wäre sie nicht Ausdruck, Gestalt.

Wenn Sprache Zeichen ist, so ist der Sprechende schon je über sich hinausgegangen und ist die Sache schon je aus sich herausgegangen. Aber nicht nur der Sprechende und die Sache, sondern auch der Zeichen Gebende und der Zeichen Vernehmende begegnen einander im Zeichen. Wenn ich „Blume“ sage, so ist die „Blume“ mein Wort, Wort, in dem ich mich sage – Wort der Blume, Wort, in dem die Blume sich sagt – unser Wort, Wort, in dem Sprache, Gemeinschaft sich sagt.

Daß ich überhaupt von Blume sprechen kann, sagt etwas über mich, und daß ich jetzt von ihr spreche, sagt etwas über mich. Mein Wort ist immer schon Ausdruck von mir, Gestalt von mir. Es sagt von mir, daß so etwas wie Blume zu meiner Welt, zu meinem Horizont gehört, zu dem, was mich interessiert, was mir der Rede wert ist. Es sagt von mir, daß es mir jetzt wichtiger ist, von dieser Blume zu reden, als von irgendetwas anderem. Indem ein Wort seine Sache artikuliert, artikuliert es auch immer die Situation, die Situation des Sprechenden und zwischen dem Sprechenden, der Sache und jenen, mit denen er spricht. Natürlich kann im Grenzfall der Ausdruckswert, der Gestaltwert von Sprache hinter ihrem [59] bloßen Signalwert zurücktreten. Aber wenn das geschieht, ist auch dies Ausdruck der Gestalt und der Situation und derer, die in dieser Situation stehen, zwischen denen sie steht. Daß ich z. B. objektiv, wissenschaftlich oder funktional, alles Persönliche weglassend über etwas rede, kennzeichnet den Horizont meiner Möglichkeiten, kennzeichnet mein Umfeld, kennzeichnet meine Situation. Jedes Wort ist also situiertes Wort, als solches aber hat es seinen Ausdrucks-, hat es seinen Gestaltwert.

Wir müssen dasselbe auch von der Seite der Sache, die ins Wort kommt, durchspielen. Daß eine Sache in chemischen Formeln, in Worten der Alltagssprache, in bildhaftem Ausdruck zur Sprache kommen kann, umreißt ihr Bezugsfeld, markiert die Peripherie, in der sie als Mitte aufgeht. Eine Sache bleibt zwar immer im Gegenüber zu ihrem Ausdruck, zu ihrer Gestalt in der Sprache; die Sprache ist nie mit ihrer Sache fertig. Und doch macht Sprache die Sache neu, anders, mehr zu dem, was sie ist. Die Brücke von Arles ist anders, seit van Gogh sie gemalt hat, das Heidenröslein anders – nun aber eben mehr es selbst – seit Goethes Gedicht. Nochmals könnte dasselbe auch ausgeführt werden vom Wort als Ausdruck der Sprache, von der Sprache als Ausdruck des Wir her, das sie prägt.

Der Gestaltcharakter von Sprache weist uns wiederum auf ein paradoxes Verhältnis hin, das eher noch fundamentaler ist als der hermeneutische Zirkel. Ohne Gestalt gibt es keinen Ursprung, in der Gestalt ist der Ursprung allererst sich selber gleich – in der Gestalt tritt der Ursprung zugleich in Differenz zu sich, er tritt in eine Äußerlichkeit zu sich, welche Ungleichheit mit sich, in äußerster Konsequenz sogar Entfremdung bedeutet.

[60] Daß eine Quelle nur Quelle ist, wenn Wasser ihr entströmt, ein Licht nur Licht, wenn es strahlt, ist eine Selbstverständlichkeit. Doch diese Selbstverständlichkeit erinnert uns daran, daß ein Ursprung von sich wegmuß, um er selber, um sich gleich zu sein. Wir sahen bereits: Sein ist mehr, wenn es zur Sprache kommt, Sprache ist zugleich weniger als das Sein, das in ihr zur Sprache kommt. Wer nichts von sich sagte, wer nichts von sich erscheinen und verlauten ließe, wer sich selbst nicht zum Wort kommen ließe, zum Wort, das ihn wenigstens sagen und mitteilen kann, der weiß auch selber nicht, wer er ist, er ist gar nicht ganz, der er ist. Wenn ich aber mich ins Wort fasse, wenn ich gar im Wort mich riskiere, dann trenne ich mich von mir, ich exponiere mich, ich begebe mich in den zwiespältigen Raum meiner Mißverständlichkeit. Mißverständlichkeit ist Bedingung von Verständlichkeit. Gerade wenn ich mich ganz exponiere, ganz sage, ganz preisgebe, bin ich eben preisgegeben. Von der anderen Seite gesehen: Die gemalte Landschaft, die erzählte Geschichte ist die entfaltete, neue Dimensionen, neuen Glanz gewinnende Landschaft und Geschichte – sie droht aber auch zur schablonierten, fixierten, zermalten und zerdichteten Landschaft und Geschichte zu werden. Oder: Die von der Wissenschaft auf ihre Formel gebrachte, in ihrer Gesetzmäßigkeit erhellte Natur ist anders und mehr als die selbstverständlich daliegende, unbeachtete oder nur im alltäglichen Umgang erfahrene Natur – sie ist aber auch die in eine einzige Perspektive hineingebannte Natur, von der andere Perspektiven abgeblendet sind; die durchschaute Natur droht auch die ärmere, die weniger sagende Natur zu werden.

Die Gestalt ist im doppelten Wortsinn der Preis des [61] Ursprungs, und das für die Sache wie für den Sprechenden. Den Urtext gibt es nur in der Übersetzung; denn der verstandene Urtext ist immer schon der übersetzte, der in mein Denken übersetzte. Das Selbst gibt es nur in der Entäußerung, in der Gestalt, die darbietend es unterbietet, erkennbar und verkennbar macht in einem. Das Eigene kann ich und kann die Sache nur eröffnen, indem es in der Gestalt, in der Sprache verfremdet wird.

Sprache als Zeugnis

Die Spannung zwischen Ursprung und Gestalt, die Spannung zwischen dem Sprechenden und seinem Sich-Sagen, der Sache und ihrem Gesagt-Werden ist die Dramatik der Sprache. In dieser Dramatik geschieht ein Umschlag. Der Ursprung entäußert sich, die Sache verfremdet sich in der Sprache. Doch gerade solche Exposition, solche Entäußerung, man könnte formulieren: solche Entfernung der Sprache von dem, der sie sagt, und dem, was sie sagt, hebt die Differenz zwischen Innen und Außen auf.

Wieso? Halten wir uns auf die Seite des Sprechenden. Wenn ich spreche, trete ich nach außen, gehe ich ins Außen. Und genau da hört das Außen, die Sprache auf, mir äußerlich zu sein. Solange die Worte, die ich sage, nur im Wörterbuch standen oder in der Zeitung, waren sie mir bloß äußerlich. Wenn ich selber sie sage und mich in ihnen sage, dann rücken sie ein in den Innenraum meines Daseins. Das Außen der Sprache gehört zum Innenraum meines Daseins und gehört es desto mehr, je mehr ich selber von mir hineingebe in mein Wort, mich mit meinem Wort identifiziere, mich in es investiere.

So aber verlagert sich die Sprachebene. Sie wird immer [62] weniger eine neutrale, zur Verfügung stehende, meinem Gebrauch und Belieben anheimgegebene, sie wird immer mehr die Ebene meines Selbstseins. Mein Sein wird das Organ und wird zugleich die Gestalt, das Vokabular, die Ausdrucksmöglichkeit. Wo ich mit meinem Sein spreche, wo ich mit meinem Sein für etwas einstehe, wo mein Wort sozusagen die Haut wird, an der ich selbst, ich leibhaftig berührbar werde, da wird Sprache zum Zeugnis. Im Zeugnis erreicht der Gestaltcharakter der Sprache seine Zuspitzung.

Und auch das Zeugnis hat sein Paradox. Nirgendwo spreche mehr ich selbst, als wo ich Zeuge werde, Zeuge, der mit seiner Existenz, äußerstenfalls mit seinem Blut, das deckt, was er sagt. Aber darin ganz zur Sprache kommend, tritt der Zeuge zugleich ganz zurück. Nicht auf mich, sondern allein auf das kommt es an, was ich bezeuge. An mir liegt es, daß ich Zeuge bin – aber mit gleichem Recht kann ich sagen, es liegt überhaupt nicht an mir. Die Sache selbst drängt dazu, daß ich sie bezeuge, so und nicht anders, sie nimmt mich in Beschlag, sie bringt sich selbst zur Sprache in mir. Nicht mehr ich sage etwas, sondern meine Sache sagt mich. Und darin sagt sich – nennen wir das Wort – jene Wahrheit, die mich diese Sache bezeugen heißt und sie in mir aufgehen, Gestalt werden läßt.

Sprache als Übereinkunft

Die Dramatik der Sprache, die anhebt in ihrem Gestaltcharakter und sich steigert in ihrem Zeugnischarakter, würde zur bloßen Tragik, wenn der Sinn von Sprache sich in der Darstellung erschöpfte, in der Darstellung dessen, der spricht, und dessen, was er spricht. Diese [63] Darstellung gelänge nur, indem sie zugleich, ja noch mehr mißlänge. Das Eigene ginge je nur auf, indem seine Spuren sich durch das Schicksal der Entfremdung hindurch retteten. Gestalt unterbietet, was sie darstellt; der Zeuge geht auf, aber er geht auch unter in dem, was er bezeugt. Doch Gestalt – und dies verdichtet sich im Zeugnis – hat in ihrer Niedrigkeit, in ihrem Unterbieten, noch einen anderen Sinn als den der Darstellung.

In der Gestalt, im Zeugnis beugt sich der Sprechende nicht in sich zurück, sondern über sich hinaus, und er will das Gesagte nicht nur haben und fassen, vielmehr es auf- und weitergehen lassen. Nicht Darstellung ist das letzte, sondern Darreichung. In der Gestalt reicht der sprechende Ursprung sich dar, um für andere und im anderen zu sein. In der Gestalt seines Sagens und Bezeugens reicht er das Gesagte und Bezeugte dar als Gabe für andere, an andere, damit es für sie sei und in ihnen sich vollende. Der Tiefpunkt der Gestalt ist der Höhepunkt des Sich-Gebens und damit der Durchgangspunkt zur Gemeinschaft, zur Communio.

In diesem positiven Sinn von Gestalt erschließt sich freilich noch eine weitere Dimension von Entäußerung. Die Gestalt, in die ich mich gebe und in der ich mich gebe, will gar nicht mehr nur die meine sein. Besonders deutlich wird dies im religiösen Zeugnis. Denken wir etwa an die Paulusbriefe. Paulus sagt mit äußerstem Einsatz seinen Glauben an Jesus Christus. Er ist ganz drinnen in seinem Sagen. Und doch nimmt er sich so weit zurück, daß nur der bezeugte Christus aufscheint. Aber das Zeugnis von Christus will zugleich zum Bekenntnis der anderen werden, zu ihrem Leben, zu dem, was sie erfüllt, was sie vollziehen, sprechen, bezeugen. Im selben Wort sagt sich Paulus ganz aus, sagt sich Christus ganz [64] aus, sagt sich – wenigstens potentiell – die Gemeinde ganz aus.

Dieser äußerste Fall reißt indessen die Grundfigur allen Sprechens auf. Wir sind ihr schon mannigfach begegnet. Sprechen entspringt drei Ursprüngen: dem sprechenden Selbst, der ausgesprochenen Sache, der mitsprechenden Sprache. Sprechen eröffnet die Dimensionen des Innen, des Außen, des Zwischen. Sprechen ist Angleichung an die Sache, ans Geheimnis, an die anderen. Immer waren also die anderen, immer war das Gegenüber, das partnerische Wohin mit im Spiel, wo wir von Sprache handelten. Nun wird offenbar: Der vollendende Sinn der Sprache ist Communio, ist Übereinkunft.

In ihr geschieht Selbstkonstitution und Selbstentäußerung, Konstitution der Sache und ihre Entfremdung. Der Sinn solcher Dramatik ist jenes Geben, in welchem der sprechende Ursprung sich und die Sache mit-teilt, weitergibt. Die Hergabe selbst, das Mit-teilen hat aber nicht nur die eine Richtung: von mir weg zu den anderen hin, sondern auch die gegenläufige: von den anderen her zu mir hin. Hier ist Entäußerung, hier Konstitution, hier Gemeinschaft vollendet. Sprache ist jene Gestalt, in welcher die vielen Ursprünge übereinkommen, gleichzeitig werden. Denn ich bin ganz drinnen; was ich sage, ist ganz drinnen; die anderen sind ganz drinnen – und dies, weil und sofern wir uns ganz gegeben haben. Die Verfremdung, die Unterbietung in der Gestalt ist nicht die Unwahrheit, sondern gerade die Wahrheit dessen, was sich gibt. Denn alles ist erst ganz, was es ist, wenn es nicht nur in sich, sondern auch in seinem anderen ist.

Die alten Titel der Wahrheit – und um Wahrheit geht es in der Sprache – erhalten von hier aus einen neuen Klang: adaequatio, Angleichung; conformitas, Gleichge-[65]staltigkeit; convenientia, Übereinkunft. Sie drücken nicht nur das Verhältnis zwischen dem Intellekt und der Sache aus, was klassisch im Vordergrund steht. Dieses Verhältnis wiederholt und verdichtet sich zwischen den vielen, die aufeinanderzu sprechen und hören, geben und empfangen. Diese Verdichtung geschieht in der Gabe des Wortes und in seinem Vernehmen. Die gemeinsame Gabe, in die sich die Ursprünge entäußern, ist der Konvergenzpunkt. Was zuhöchst in ihm aufgeht, was als die Wahrheit schlechthin in ihm aufgeht, ist dies: der erste Grund und das letzte Ziel, der unterscheidende und verbindende Sinn von allem heißt Sich-Geben.