Unterscheidungen
Grundstellungen des Bezugs zum Unbedingten*
Der Bezug des Menschen zum Unbedingten kommt in verschiedenen Grundstellungen vor: in der Grundstellung des Gestaltens, in der Grundstellung der denkenden Vermittlung, in der Grundstellung der religiösen Unmittelbarkeit.
Wo dem Menschen der Anspruch des Unbedingten widerfährt, manifestiert er sich oftmals auf die Weise einer Idee: etwa der Idee, die Gestalt werden will im Kunstwerk, aber auch der Idee, die Gestalt werden will im Leben der Gesellschaft. Das Unbedingte zeigt den Glanz der Schönheit, des Rechts, der Freiheit, des Friedens. Dies braucht keineswegs „Vergötzung“ endlicher Werte zu bedeuten. Es kann in ungebrochener Ursprünglichkeit den Menschen angehen, daß solches seine Berufung sei, der er unbedingt zu folgen habe, daß er solchem Auftrag und solcher Idee gegenüber im Grunde nichts an Wünschen, Ansprüchen und Bedürfnissen geltend zu machen habe, daß ihm nur eines bleibe: sich zu stellen, um das, was ihm aufging, Gestalt werden zu lassen. Der Hinblick des Menschen ist in solchen Gestalten ein doppelter: maßnehmend wendet er sich um zur Idee, in welcher das Unbedingte ihn angeht. Zugleich aber wendet er sich von der Idee weg dem Stoff zu, in dem diese [40] Idee Gestalt gewinnen soll. Diese Blickrichtung ist sogar die „typische“. Das Unbedingte wird nicht als solches thematisiert, sondern als Idee, die eben Idee für … ist, d. h. Hinsicht auf das, was ist, um in ihm Gestalt zu gewinnen. Diese Unausdrücklichkeit des Unbedingten braucht nicht seine Minderung, sie kann sogar seine höhere „Reinheit“ bedeuten, weil das Unbedingte nicht selbst „identifiziert“ wird mit irgendeiner Gestalt, sondern seine Mächtigkeit in die gestaltende Übersetzung hineingibt, ohne in ihr an sich selbst verendlicht zu werden.
In der Grundstellung denkender Vermittlung ist das Unbedingte auf andere Weise anwesend. Diese Grundstellung entspricht dem fragenden Denken, das sein Fragen selbst befragt. Was immer diesem fragenden Denken begegnet, wird vermittelt mit dem Grund, von dem aus es sich klärt, in dem es seinen Stand, seine Identität mit sich selbst findet. Jedes Ergebnis ist dem fragenden Denken indessen wieder Sprungbrett weiterer Bewegung. Denn jede Gestalt, in welcher Wahrheit sich uns sagt und Grund sich uns bietet, ist endlich und daher befragbar. Dieses je weiter treibende Fragen braucht keineswegs ein „Zweifeln“ zu bedeuten, wohl aber den Rückverfolg in die je tiefere Sicht und Schicht der Wahrheit, in das klärende Warum jeder Zufälligkeit. Solchem fragenden Denken ist gerade jede definite Gestalt des Unbedingten fragwürdig, denn solche Gestalt bedeutet Verendlichung, bedeutet Vorläufigkeit, bedeutet das Nochnicht des endlichen Erkennens demgegenüber, worum es ihm geht. Dies behält seine Gültigkeit übrigens auch im theologischen Sprechen von Gott. Auch hier erhellt, etwa nach der Auskunft des IV. Laterankonzils, jede Aussage über Gott mehr, wie er nicht ist, als wie er ist.1 Der Bewegung fragenden Denkens entspricht es daher, sich zwar keineswegs der Aussagen über Unbedingtes zu enthalten, wohl aber, diese wiederum zu vermitteln, sie aufzuheben in größere Radikalität. Das Unbedingte ist dann gerade anwesend als das in jeder Gewähr neu entzogene, als das jedem Fassen sich vorenthaltende und enthebende Darüberhinaus. Der Vollzug der Aufhebung des Gesagten ist gerade Vollzug der Mächtigkeit und Lauterkeit des Unbedingten. Der [41] Blick des philosophisch vermittelnden Denkens ist wiederum ein zweifacher, er geht hierbei aber in ein und dieselbe Richtung. Er blickt auf den endlichen Inhalt oder die endliche Gestalt seiner Aussage, um sie hinzulesen auf ihre unbedingte Gewähr, er ist der Blick einer unendlichen Annäherung, der das Unbedingte gerade dadurch unbedingt ist, daß es sich nicht an sich selbst erreichen läßt.
Anders verhält es sich in der dritten Grundstellung menschlichen Absolutheitsbezuges, in der religiösen Unmittelbarkeit. Hier wird das Unbedingte als solches thematisch, und dies gerade in seiner konkreten Gestalt. Es geht mich an, und dieser Angang geschieht hier und jetzt, so und nicht anders. Dieses Hier und Jetzt, dieses „So und nicht anders“ ist von Gnaden des Unbedingten, es begegnet mir nicht als mein Gemächte, sondern als das Sich-Geben unbedingten Ursprungs selbst, mit dem ich so in unmittelbaren Kontakt trete.
Das Erschrecken, auf solche Weise das Unberührbare zu berühren, das Unschaubare zu gewahren, gibt im religiösen Akt der endlichen Gestalt des Unbedingten durchaus die Qualität des Unselbstverständlichen; die Differenz des Heiligen ist gewahrt, aber sie ist gewahrt, indem sie sich selber aufhebt und überspringt, indem das Entzogene hereinsteht in die Endlichkeit meines Lebensraumes, indem das Heilige es sich zumutet, als das Andere doch unter anderem mir nahe zu sein.
Grundsätzlich gilt dies nicht nur von den außerordentlichen Erfahrungen des Heiligen, an denen das Maß religiösen Aktes sich besonders deutlich anschauen läßt, es gilt überall dort, wo Gebet, wo Anrufung Gottes, wo Opfer und Hingabe dessen gewiß sind, daß sie lebendige Berührung des Heiligen bedeuten.
War das Endliche, das Andere des Unbedingten, dem Gestalten das „Material“, in dem die Idee des Unbedingten zu inkarnieren ist, war das Endliche dem fragenden Denken das je mit dem Unbedingten zu Vermittelnde, so ist das Endliche hier, in der religiösen Zuwendung zum sich zuwendenden Geheimnis des Heiligen, Gabe. Gabe sowohl, die zu geben, die zu opfern, loszulassen, dem Heiligen zu weihen ist, als auch Gabe, die von seiner Huld neu gewährt, [42] neu mir verstattet und geschenkt wird. Die Richtung des religiösen Aktes ist die reiner Wegwendung von sich in der Zuwendung zum Heiligen, das, gerade indem es in seiner endlichen Gestalt eines von allem ist, doch „alles in allem“ ist, alles in allem freilich so, daß dadurch mein eigenes Nichts und das Nichts, als das alles vor dem Heiligen erscheint, von ihm her wieder neu ins Sein eingesetzt, sich selbst gewährt werden. Krisis und Charis, Offenbarung der eigenen Nichtigkeit des Ich und des Alles und neues Geschenktwerden gehören im religiösen Vollzug zusammen.
Die Unmittelbarkeit des religiösen Verhältnisses zum Unbedingten führt dazu, daß, in der Genese von Religion betrachtet, die „epiphanen“ Ereignisse, auf die religiöser Vollzug sich gründet, einen einzelheitlichen Charakter tragen. Hier hat mich das Heilige angerührt, hier ist heiliger Boden, diese Stätte ist Denk-Mal des konstitutiven Ereignisses meiner Beziehung zum Heiligen. Karl Kerényi2 betont, daß Θεός ursprünglich prädikativisch und nicht substantivisch gebraucht sei, sich auf das Ereignis und nicht schon auf eine feste Gestalt beziehe. Diese fixe Gestalt „gerinnt“ erst aus der Mehrzahl sich entsprechender Ereignisse. Von hier aus gesehen, braucht mancher nachträglich verfestigte „Polytheismus“ in seiner Ursprünglichkeit nichts anderes zu bedeuten als die in ihrer Einzelheitlichkeit gewahrte Vielfalt des Aufgangs des Heiligen in seine unmittelbar berührende, sich mitteilende Gestalt.
Um vom Jahweglauben Israels zu sprechen – nicht von der historischen Abfolge der Vorstufen und Stadien seiner reflexen Fassung, sondern von seinem „inneren Stellenwert“ in der Religion Israels –, so läßt sich vielleicht sagen: Hier ist das Ereignishafte gerade die Zusage der je unverfügbaren, je neu und unberechenbar aufbrechenden Treue, der „Selbigkeit“, die die Geschichte in ihren Wendungen und Dunkelheiten als Geschichte mit seinem Volk übergreift. Jahwe ist der, der sagt, ja es als seinen Namen hat: Ich werde dasein, als der ich dasein werde.3 Er ist der gerade nicht Festlegbare, der gerade nicht ins Bild, in die Gestalt einer Fixierung von außen Eingehende, seine „Gestalt“ ist die der aus sich selbst aufgehenden Freiheit, welche die Zukunft umfängt und gewährt – und in diesem [43] Sinn ist er „Identität“ mit sich, ist die je neue Unmittelbarkeit der Beziehung zu ihm das Wesen des aufs Bleiben angelegten Bundes. Das Bleiben des Bundes aber geschieht wiederum als die Unabsehbarkeit der je neuen Wanderschaft.
Wenn das Heilige in seinem Aufgang, in seiner betreffenden Unmittelbarkeit den Namen Gott als Vokativ der Antwort entbindet, so ist damit nicht eine Personifikation gegeben, umgekehrt ist vielmehr Personales hier von seinem Ursprung her angesprochen, recht verstanden: konstituiert. Denn gerade in der Unmittelbarkeit, ganz angegangen, ganz angefordert und beschenkt zu sein, bin ich ganz „zu mir“ gebracht. Als Partner unbedingter Ursprünglichkeit kommt meine eigene Ursprünglichkeit zur Gegebenheit. Mein in seine vielen Dimensionen und Augenblicke zerstreutes Dasein ist dort, wo das mich als mich angehende Ereignis eintrifft, zu sich selbst gesammelt, es ist zur Antwort herausgerufen, in der es sich selbst gibt und vollbringt, und so spricht das mich selbst derart sammelnde und konstituierende Ereignis sich seinerseits mir zu als partnerisches „Ich bin“. Also: Nicht ich personifiziere Gott, sondern Gott personifiziert mich.
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Vgl. DH 806. ↩︎
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Vgl. Kerényi, Karl: Griechische Grundlagen des Sprechens von Gott, in: Weltliches Sprechen von Gott. Zum Problem der Entmythologisierung (Weltgespräch 1), Freiburg i. Br. u. a. 1967, 9–15. ↩︎
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Vgl. zur Übersetzung: Die Schrift. Zu verdeutschen unternommen von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig. Die fünf Bücher der Weisung, 2. Buch, Berlin 1926, 15; vgl. Casper, Bernhard: Das dialogische Denken. Eine Untersuchung der religionsphilosophischen Bedeutung Franz Rosenzweigs, Ferdinand Ebners und Martin Bubers, Freiburg i. Br. 1967, 180 und 136. ↩︎