Was fängt die Jugend mit der Kirche an? Was fängt die Kirche mit der Jugend an?
Grundstrukturen*
Lassen sich aus einem solchen Ansatz von Jugendpastoral Grundstrukturen gewinnen, wie sie zu geschehen hat? Orientieren wir uns an dem Vorgang der Traditio, in welcher die Communio von Geschlecht zu Geschlecht weiterwächst, als Communio des kirchlichen Glaubens, Bekennens und Lebens, gewiß, aber ebenso, dies voraussetzend und von ihm vorausgesetzt, als herzliche Zuwendung der Geschlechter zueinander, als je neue Bekehrung zueinander, auf daß der Herr selber in der Mitte (vgl. Mt 18,19f.) und so das Band auch der Generationen sei.
Christliche Traditio ist mehr als ein hermeneutischer Vorgang, in welchem Partner sich gut verstehen und zu einem Arrangement ihres Miteinander kommen. Gerade dieses „Mehr“ ist ärgerlich. Das Evangelium ist gegeben, Kirche kann nicht vom Nullpunkt an modelliert werden. Es geht nicht um Beugung der Späteren unter die Früheren, aber um gemeinsame Beugung unter das Evangelium, das schon da und deswegen schon je in den Händen der Früheren ist. Sich so geben, daß darin mehr als das eigene Ich gegeben wird, sich so geben, daß darin die Wahrheit Christi und die verbindliche Erfahrung der Glaubenden vergangener Generationen mitgegeben wird: das ist der nicht aus Freundlichkeit aufkündbare Auftrag der „Väter“, der sie freilich zugleich arg in Pflicht nimmt, sich selbst zu demütigen, klein zu sein vor dem, was ihnen als das Größere überkommen und überliefert ist. Solange christliche Geschichte geht, wird das zeitliche Gefälle der Überlieferung, der diachrone Überschuß des Ursprungs nicht nivelliert werden können und dürfen. Vaterlose Kirche kann nicht Kirche Christi sein.
Aber gerade das, was Vaterschaft im elementaren Sinn unüberholbar sein läßt beim Vorgang der Traditio, gibt auch dem der scheinbar anders gerichteten Strömung innerhalb des Evangeliums Recht und Dringlichkeit: „Auch sollt ihr niemand auf Erden euren Vater nennen; denn nur einer ist euer Vater, der im Himmel“ (Mt 23,9). Durch den einen Vater im Himmel, durch die Verbindlichkeit der einen Botschaft, durch das eine in Jesus Christus gekommene Heil wächst zugleich eine „diachrone Brüderlichkeit“, die alle Generationen umschließt. Vor dem Vater und um den Herrn in der Mitte gibt es nur die alle Geschlechter umfassende Gemeinsamkeit.
Der Vorrang des Gegebenen, der schon gekommenen Botschaft, der schon gestifteten Gemeinschaft und damit die Verbindlichkeit der Weitergabe und [309] andererseits die Verbundenheit aller im einen Glauben und in der einen Gemeinschaft als Brüder und Schwestern um den einen Herrn: zu diesen beiden Momenten kommt freilich noch konstitutiv ein drittes hinzu, ein andersgearteter Vorrang der Kommenden. Wenn nämlich Traditio Liebe ist, dann hat der, dem weitergegeben wird, in solchem Geschehen einen eigentümlichen Vorrang: als der Geliebte soll er gerade er selbst sein, sich selber einbringen können. Es geht um seine Freiheit, um sein Ja, das von ihm ausgeht. Traditio darf nichts von dem aufgeben und zerstören, was ihr verbindlich überkommen ist. Sie darf nicht ruhen, bis alles das geborgen, gewahrt, angenommen, angeeignet ist. Aber die Perspektive, aus welcher sie das Weiterzugebende sieht, ist eben die vom anderen, von seinem Selbstverständnis und Weltverständnis, seinen Erfahrungen und Erwartungen her. Nur wer sich eins macht mit dem, welchen er bezeugt, wird die Identität des Bezeugten wahren, wo doch das Bezeugte die Liebe dessen ist, der sich hingegeben, ausgeliefert, mit uns eins gemacht hat.
Traditio ist auf diese Weise höchst unbequem, weil sie sich weder die Auswahl oder Anpassung der Botschaft erlauben noch das Eingehen auf die anderen Verständnis- und Erfahrungshorizonte einer je nächsten Generation ersparen kann. Sicher werden diese in der Begegnung mit dem Evangelium umgebrochen und verwandelt – aber auch die mitgebrachte und hergebrachte Weise, das Evangelium zu sagen und mit ihm umzugehen, wird umgebrochen in solcher Umkehr des Herzens der Väter zu den Söhnen.
Wir können die drei erhobenen Strukturelemente wie folgt formalisieren: Vorrang des „Alten“ (des verbindlich zu überliefernden Ursprungs, seiner Botschaft, seines Vermächtnisses) – Vorrang des „Neuen“ (der Sprache des Hörers vor der Sprache des Sprechers) – Vorrang des „Einen“ (vor dem einen Wort sind Sprecher und Hörer gleichermaßen Hörer und gleichermaßen zum Bekenntnis gerufen). Dieser dreifache Vorrang ist freilich keine Zauberformel, um die Probleme zu lösen, die sich im Vorgang der Überlieferung immer neu ergeben. Wird aber der dreifache Vorrang erst einmal anerkannt, so sind simplistische Lösungen ausgeschlossen. Die Kirche und jene, die sie vertreten, brauchen sich nicht zu genieren, daß sie etwas mitbringen, was es zu erlernen gilt: die unverfügbare Botschaft. Sie haben sich aber ebensowenig zu genieren, selber Lernende zu sein; Kirche hat, zugespitzt formuliert, zur jungen Generation zu sagen: Laß mich dich lernen, dein Denken und Sprechen, dein Fragen und Dasein, damit ich daran die Botschaft neu lernen kann, die ich dir zu überliefern habe.
Wer sich in solcher Bereitschaft einläßt auf eine Weitergabe des Evangeliums und ein Weitergehen der kirchlichen Überlieferung in die nächste Generation, der trägt in sich einen dreifachen provokatorischen Glauben. Er glaubt zum einen: Das ganze Evangelium und alles das, was es an Leben gewonnen hat in der Kirche, ist da für die nächste Generation – ich will es ganz weitergeben. Er glaubt zum zweiten: Das, was für die kommende Generation not tut, das, [310] woraus sie Leben annehmen, Welt gestalten und Zukunft wagen kann, ist ganz drinnen im Evangelium – im Evangelium gebe ich ihr das weiter, wovon sie leben kann. Zum dritten glaubt er: Das, was das Evangelium braucht, um ganz gegenwärtig werden zu können, ist drinnen in der nächsten Generation, in den Möglichkeiten ihres Denkens und ihres Herzens – die neue Generation bringt Neues für das Evangelium, für sein Verständnis und für seine Lebbarkeit.
So viel darf die Kirche von der Jugend und so viel darf die Jugend von der Kirche erwarten.
Man müßte denselben hermeneutischen Vorgang, den wir von der Kirche her, von den „Vätern“ her skizzierten, auch von der Jugend, von den „Söhnen“ her skizzieren, um im Sprachspiel des Maleachi zu bleiben. Wir gaben dem Ungewohnten der insgesamt in der Schrift führenden Perspektive den Vorrang: Zukehr der Väter zu den Söhnen, Bekehrung der Kirche zur Jugend, nicht im Sinne eben der Anbiederung oder des gekonnten Ankommens, sondern aus dem heilsgeschichtlich relevanten Vorgang der Traditio heraus.