Das unterscheidend Eine

Grundzüge des intellectus unitatis

Aus dem soeben dargestellten Befund ergeben sich vier Grundzüge des „unterscheidend Einen“, die für den „intellectus unitatis“ belangvoll sind.

Der erste Grundzug ist jener der Relationalität. Einheit gründet zwar darin, daß Gott einer ist und alles auf diesen einen ankommt: jede Einheit, die außer durch ihn und in ihm gewonnen würde, hielte sich selbst nicht durch. Dennoch wird Einheit gerade nicht von Gott als dem Einen und Ersten deduziert. Sonst wäre ja der Prozeß des Deduzierens oder das Prinzip des Deduzierens der wahre „Gott“, das die Einheit Bestimmende – und nicht Gott selbst. Ebensowenig ist Einheit ein Verschlingen der Unterscheidung, ihre Auflösung in einem einenden Prinzip. Endstation solcher Einheit wäre das Nicht und Null der Geeinten. Untergehen der Pole von Einheit in ihrer Einheit wäre Nivellierung der Einheit selbst. Ebensowenig ist Einheit im Sinne der Botschaft eine bloß nachträgliche Vereinbarung oder Übereinkunft, etwas an ihren Polen, das aber nicht sie selber ganz einbegriffe.

Diese Modi von Einheit, deren aporetischen Charakter wir in praktischen und zum Teil auch theoretischen Modellen von Gesellschaft beobachten können, sind in der biblischen Botschaft von der Einheit ausgeschlossen: Gott ist der sich Schenkende und uns Annehmende, er ist in sich selber Sich-Schenken und Sich-Annehmen, gegenseitige Verherrlichung von Vater und Sohn in jener doxa, jener Herrlichkeit, die von den Vätern nicht ohne Grund mit dem Heiligen Geist ineins gesetzt wird. Einheit ist von Grund auf relational, in einer Beziehung, die, das Eine und Selbe mitteilend und an ihm teilhabend, ihre Pole nicht nur zu diesem, sondern unmittelbar zueinander ins Verhältnis setzt: das Gemeinsame geht auf gerade in der gegenseitigen Beziehung, die gegenseitige Beziehung ereignet sich als Innesein im Gemeinsamen.

Welche Bedeutung dieser relationale Charakter der Einheit für unsere Welt und unsere Kirche hat, läßt sich am Scheitern anderer Einheitsmodelle und an den Engführungen, die sie zeitigen, drastisch ermessen.

Mit der Relationalität christlich verstandener Einheit verbindet sich als zweiter Grundzug ihr perichoretischer Charakter, will sagen das gegenseitige Innesein und Enthaltensein ihrer Pole ineinander. Jeder Pol „ist“ das Ganze und trägt die anderen Pole in sich. Die johanneischen (und im Ansatz auch paulinischen) Formeln gegenseitigen Inneseins (du in mir, ich in [351] dir, ihr in mir, ich in euch, wir ineinander) sind nicht Gedankenspielerei, sondern achtsame Beschreibung des im Glauben verstandenen und gelebten Einheitsvollzugs. Einheit, die dieses gegenseitigen Inneseins und Inneseins des Ganzen im einzelnen und des einzelnen im Ganzen ermangelte, ermangelte des sie Einenden und Bindenden, wäre bloß äußere Komposition. Annahme und Hingabe als der trinitarische, inkarnatorische und das Paschageschehen prägende Grundrhythmus haben auch in unserem gegenseitigen Verhältnis, in der vollzogenen Gestalt von Kirche Perichorese zur Folge. Gemeinsames Priestertum der Gläubigen und Priestertum des Amtes, die Verschiedenheit der Charismen und die Einheit der Sendung, das Verhältnis von Teilkirche und Gesamtkirche, um nur einige Punkte zu nennen, wollen neu durchbuchstabiert und ausgelegt werden aus diesem perichoretischen Charakter von Einheit. Dies wiederum nicht im Sinne einer Ableitung, sondern im konkreten Eingehen auf das jeweils sich zueinander Verhaltende.

Der „Preis“ für die Fülle und den Reichtum der Perichorese ist die kenosis. Der dritte Grundzug: Einheit hat im christlichen Verständnis einen kenotischen Charakter. Sein im anderen als Selbstsein, das geht nur im Herausgehen aus sich selbst, im Sich-Verlassen und -Entäußern, im Sein vom anderen her. Ein bloß von der Substanz her ausgehendes Seinsdenken tut sich mit diesem Grundzug schwer. Der relationale Charakter der Einheit ist relationaler Charakter des Seins, und Relationalität bedeutet Selbstüberstieg. Es gibt eine falsche, es gibt aber auch eine wahre und erhellende Weise, ins Denken von Einheit das Nicht und das Mehr einzufügen. Dies heißt den kenotischen Charakter also im Sein selbst tiefer verankert zu sehen als bloß in der Endlichkeit des Endlichen. Beide Sichtweisen, jene der Unverlierbarkeit der Identität und jene des Sich-Verlierens als Identität, aufeinander zu beziehen und in ihrem relativen (relationalen) Recht zu sehen, kann nur gelingen, wenn, im strengen Sinn, eine Ontologie der Liebe gelingt. Hier liegt ein biblischer Impuls, den theologisches und im Lichte der Offenbarung geschehendes philosophisches Denken noch nicht bis in seine Konsequenzen und Prinzipien hinein aufgegriffen hat.

Damit aber ist als vierter Grundzug christlichen Verständnisses der Einheit deren fundamental geschichtlicher Charakter angerissen. Wenn Einheit in der Relationalität geschieht, wenn Relationalität als Sich-Geben und Sich-Lassen, als eine fundamental verstandene kenosis sich ereignet, dann ist Einheit zwar schon immer gegründet, aber nie schon „gelaufen“. Ich stehe, geschichtlich existierend, schon immer in jener Gründung von Einheit, ohne die ich nicht sein und mich nicht nach dieser Einheit ausstrecken könnte. Aber sie ist in ihrem ganzen Geschenktsein das zu Erwartende, Künftige, und diese Zukunft ist mehr als bloßes Resultat des bereits Vorliegenden. Die absolute Geborgenheit im ein für allemal geschehenen Heilswirken dessen, der die Liebe ist, die Unwiderruflichkeit dieser Liebe ist etwas ganz anderes als die Degradierung der Geschichte zum bloßen nachholenden Exempel des schon statuierten Prinzips. Liebe ist das [352] Abenteuer des Unverlierbaren, Einheit das je neue Ereignis, die je neue Überraschung, in der sich zugleich doch die erste und gründende Sehnsucht, der erste und gründende Ausgang erfüllen. Auch hier sind ekklesiologische und gesellschaftliche Konsequenzen in den Blick zu nehmen, die noch keineswegs von bisherigen Modellen des Denkens und Handelns eingeholt sind.