Spiritualität und Gemeinschaft

Grundzüge einer gemeinsamen Spiritualität heute

Vielgestaltig, farbenreich, lebendig zeichnen sich die Bewegungen, Ansätze, Wege ab, denen wir anmerken können, daß auch heute der Geist Gottes, der Geist Jesu Christi weht. Aber nicht ein beziehungsloses Nebeneinander, nicht eine zufällige Buntheit, bietet sich gegenwärtig dem Blick auf Spiritualität und Gemeinschaft in der Kirche dar. In den unterschiedlichen Spiritualitäten kristallisieren sich Gemeinsamkeiten heraus, die – so dürfen wir es zu deuten wagen – das ins Licht heben, was der Geist vom Grundbestand des Evangeliums uns heute mit neuer Dringlichkeit und auf neue Weise nahebringen will. Wie nun ließe sich eine solche Spiritualität unserer Zeit in wenigen Strichen umreißen?

Zum ersten ist die Spiritualität unserer Tage zugleich kontemplativ und weltlich. Kontemplation, Hinwendung zu Gott allein, unverwandtes Hinschauen auf ihn, in allem Zittern vor dem Geheimnis eine neue Direktheit zum lebendigen Gott, das überrascht und überwältigt allenthalben, wo Menschen sich heute elementar vom Evangelium betreffen lassen. Es geht nicht so sehr um einzelne Wahrheiten und Perspektiven, es geht ums Ganze, um Gott: ihn anzubeten, ihn anzuschauen, bei ihm zu verweilen, bei ihm sich zu bergen und in ihm sich zu versenken. Aber dies auf eine neue Weise, sozusagen [93] an einem neuen Ort. Dieser Ort heißt: der gegenwärtige Augenblick, das ganz banale und alltägliche Hier und Jetzt. Den Blick auf Gott gerichtet, sollen wir den Stoff dieser Welt, den Stoff der Zeit in unseren Händen halten. Gottnähe bewährt sich – und das nicht in einem logischen Übersetzungsprozeß, sondern in Unbefangenheit und Unmittelbarkeit – in Weltnähe. Augenblick für Augenblick auf sein Wort, auf seine Liebe, auf die Begegnung mit ihm im geringsten Bruder gerichtet, so bei allem ihm zugewandt und zugleich, in derselben Blickrichtung, mit ihm dem Nächsten, dem konkret zu Tuenden zugewandt.

Diese Spannung oder besser diese Synthese wiederholt sich in einer zweiten: Die Untrennbarkeit von Gottes- und Nächstenliebe wird neu erfahren. Nicht eine Ideologie, sondern eine geistliche Erfahrung formuliert sich in dem Satz: Der direkteste Weg zu Gott führt über den Bruder. Allerdings ist es ebenso Erfahrung, daß die Umkehrung des Satzes möglich, ja wirklich und dringend ist: Der direkteste Weg zum Bruder führt über Gott. Die Unabdingbarkeit, mit der uns der Nächste – ob er uns liegt oder nicht, gefällt oder nicht, ob wir ihn verstehen oder nicht – zugemutet ist, bedeutet heutiger Spiritualität ein unmittelbares Hineingestelltsein in die Zuwendung Jesu zum Vater. Uns, alle, jeden einzelnen nimmt Jesus mit in seinen Gehorsam, in seine Hingabe an den Vater und in die Zuwendung des Vaters zum Sohn, der in ihm uns alle an sich zieht und mitumarmt. Der Mensch als das Stigma Gottes und Gott als das tiefste Geheimnis des Menschen: so hängen Theologie und Anthropologie aufs innigste zusammen, ohne daß eines durch das andere verkürzt würde. Man ist versucht, von einem anthropologischen Ansatz von oben und einem theologischen Ansatz von unten als Kennzeichen gegenwärtiger Spiritualität zu sprechen.

[94] Und weiter: Die Spiritualität von heute ist – in Fortführung dieser Linie – gekennzeichnet durch die gleichzeitige Radikalität von Entschiedenheit und Offenheit. Das unterscheidend und das verbindend Christliche, die Ausschließlichkeit und die Einschließlichkeit des Evangeliums gewinnen gleichermaßen Relief. Schnurstracks dem Herrn nachlaufen, auch wenn alle Brücken hinter uns abbrechen, solcher Ernst und solche „Rücksichtslosigkeit“ ist für die Nachfolge heute erforderlich. Aber wer so dem Herrn nachfolgt, der begibt sich auf seinen Weg, der zu allen hinführt. Nachfolge führt unausweichlich ins Kreuz, ins einsame, ungesicherte Dazwischenhängen zwischen Himmel und Erde. Aber nur jener folgt dem Herrn an sein Kreuz nach, der dort seine Hände so weit ausbreitet wie er: für alle. Die äußerste Entschiedenheit des Christlichen und der offene, verstehende Dialog mit allem Menschlichen gehören untrennbar in den großen geistlichen Aufbrüchen unserer Zeit zusammen.

Dann aber bestätigt sich noch einmal: Spiritualität und Gemeinschaft führen zueinander, durchdringen sich gegenseitig. Die Gemeinschaft, zu der uns Christsein heute herausfordert, ist Gemeinschaft im heiligen Geist, und die Spiritualität, nach der sich der Mensch heute sehnt, ist Spiritualität von Gemeinschaft. Es geht darum, im Mut des ersten Schrittes zueinander Gottes ersten Schritt auf uns zu und im Wagnis unseres ersten Schrittes auf Gott zu seinen Schritt auf uns zu wahrzunehmen und ernst zu nehmen. Es geht letztlich darum, uns in Gottes dreifaltiges Leben einzuschwingen, das Geben und Empfangen, gegenseitiges Sich-Verschenken ist. Was der Vater und der Sohn miteinander tun, was Gott mit dem Menschen tut, was wir miteinander tun und worin wir die Antwort tun auf Gottes Tun an uns: dies alles schlägt in eins. Wie im Himmel, so auf Erden.

[95] Schauen wir das Gesagte in einem Bild an, das mehr als ein Bild ist. Die Menschheit ist zusammengerückt, zusammengeschmolzen. Aber sie wird erdrückt von diesem Prozeß. So ruft sie nach dem Leben, das erfüllt und frei macht. Sie ruft nach jenem verbindenden Element, das aus den äußeren Zusammenhängen den inneren Zusammenhang, aus der Schicksalsgemeinschaft die Nähe, aus dem Aggregat den einen Leib macht. Die Menschheit ist wie eine unkonsekrierte Hostie. Was not tut, ist der Geist, jener Geist, der bei der Eucharistiefeier in der Epiklese auf das Brot niedergerufen wird, um es zu verwandeln in den Leib des auferstandenen Herrn. Dieser Geist, der creator und sanctificator spiritus, muß uns erfüllen, verwandeln, verbinden zum einen lebendigen Leib des Herrn für das Leben der Welt. So wird unser Menschsein und unsere Menschheit die eucharistischen Grunddimensionen zurückgewinnen können: in der Hingabe den Weg zum Vater, in der Gemeinschaft den Weg zueinander, in der Austeilung und Sendung den Weg in die Welt. Auf solche Spiritualität und solche Gemeinschaft stehen die Zeichen der Zeit und die Zeichen des Evangeliums zugleich.