Philosophisch-Theologische Reflexionen zum Thema: „Unsere Verantwortung für die Welt von morgen“
Grundzüge eines Modells verantwortlichen Verhaltens
Diese Antwort ist richtig, aber in sich allein ist sie matt. Wo zeigt sich, über den bloßen Kompromiß des „nicht so und auch nicht so“ hinaus, so etwas wie ein prophetisches Modell? Ich muß hier auf spezifisch christliche Prinzipien zurückkommen, glaube aber, daß sie nicht nur für Christen Konsequenzen haben.
Wir fragen zunächst einmal: Wie lebt grundsätzlich und elementar der Christ in dieser Welt? Paulus sagt uns: Jene, die diese Welt gebrauchen, sollen sein wie solche, die sie nicht gebrauchen (vgl. 1 Kor 7,29–31). Was ist damit gemeint? Wir können Paulus interpretieren: Die Herrschaft Gottes steht vor der Tür. Wir leben nicht nur für dieses Leben, wir leben für einen, der uns alles gegeben hat und der es uns, über alles Vergehen hinaus, neu geben wird. Er wird kommen. Deswegen dürft ihr zwar nicht aussteigen aus dieser Welt; arbeitet, gebraucht sie, ordnet sie, aber tut es mit jener Gelassenheit, die nicht so an ihr und euren Plänen hängt, daß ihr, wenn euch dies aus der Hand geschlagen wird, nicht dann auch die Freiheit und das Mehr und das Größere verliert. Genau aus dieser Haltung erwächst nicht nur Freiheit von der Welt, sondern ebenso Freiheit zur Welt: christliche Nüchternheit. Derselbe Paulus wehrt sich daher gegen die eschatologischen Schwärmer in Thessalonich. Er sagt: Ihr müßt arbeiten, ihr dürft nicht passiv auf den Tag des Herrn warten, sondern ihr müßt in dieser Welt leben, sie gebrauchen, aber ohne von ihr das letzte zu erhoffen (vgl. 1 Thess 5 und 2 Thess 2 und 3). Ist die Gelassenheit, die von den Wüstenvätern in Ägypten über die Brüder des Franziskus bis zu Charles de Foucauld oder Mutter Teresa lebt, ist diese Gelassenheit, die sozusagen mit dem Ende aller Dinge rechnet und aus dem Wissen um das Ende [34] das Jetzt wagt, nicht zugleich auch jenes Modell, das einer verantworteten Sorge für die Zukunft entspricht? Derjenige, der so lebt, als ob die Welt nicht alles wäre, als ob es dieses „Mehr“ gäbe oder, besser gesagt, der daraus lebt, daß er an dieses „Mehr“ glaubt, und der deswegen sich nicht darauf fixiert, alle welthaften Möglichkeiten für sich auszuschöpfen, stellt einen auch für die Gesellschaft wichtigen „Lebensstil“ vor. Wer Welt gebraucht, aber in einer – nicht bitterlichen und mägerlichen, sondern hoffenden – Askese, wer „eschatologisch“ im christlichen Sinne lebt, gerade der lebt verantwortlich für die Zukunft. Er gibt Zeit auf Zukunft frei, nimmt nicht fürs Heute vorweg, was fürs Morgen notwendig ist, aber er handelt so nicht aus einer panischen Angst, sondern aus einer inneren Freiheit. Diese Freiheit anerkennt die Endlichkeit, jetzt etwas zu brauchen, und verbindet den Mut, es zu gebrauchen, mit dem Mut, nicht alles zu brauchen und zu gebrauchen. Ein zweiter Grundzug dieses christlichen Modells sind die zwei Verantwortungen, die spezifisch christlich sind: die Verantwortung für das Ganze und für das Nächste. Beide sind auf je unterschiedliche Weise gleich wichtig und richtig. Jesus rügt den, der ihm nachfolgt, ohne das Ganze zu sehen. Er gleicht dem Mann, der einen Turm bauen will, aber die Kosten nicht vorher berechnet hat, und nun steht er vor einer Neubauruine (vgl. Lk 14,25–33). Er rügt aber ebenso den, der immer nur für übermorgen sorgt, und läßt uns nur bitten um Brot für den nächsten Tag. Er empfiehlt uns den Spatz auf dem Dach und die Lilie auf dem Feld im Leben und im gegenwärtigen Augenblick (vgl. Mt 6,25–34 und 6,11). Er sagt uns, daß diejenigen, die ins Reich Gottes kommen, auch jene von ganz ferne sein werden. Damit löst er jene Dynamik aus, die sich nicht nur auf das Volk Israel beschränkt als das auserwählte Volk, sondern alle, die die Auserwählung dieses Volkes wahren, und zugleich den ganzen Horizont der Welt mit einbezieht (vgl. z. B. Mt 8,11). Er löst durch seinen Geist diese universale Dynamik aus und verlangt zugleich, daß wir nie am Nächsten, dem neben uns, vorbeigehen (vgl. Lk 10,25–37). Hat das nicht Konsequenzen? Wir haben gleichzeitig ans Ganze zu denken, weil alle unsere Nächsten sind, und unsere Sorge um den nächsten Nächsten ganz ernst zu nehmen, weil er mit hineingehört in den Horizont der Verantwortung für das Ganze. Wir müssen hier und jetzt helfen und dienen, wir dürfen [35] nicht durch schwärmerische Begeisterung für die Dritte Welt den, der unmittelbar nebenan vor der Tür liegt, liegenlassen. Wir dürfen aber auch nicht denken, wir seien uns selbst die Nächsten und übersehen die Dritten. Vielmehr: Die Dritten, die in der Dritten Welt sind, sind unsere Nächsten. Verantwortung fürs Ganze und für die Nächsten verlangt, daß wir uns nicht hinwegschwärmen von der Not hier und daß wir uns nicht einigeln in die Not hier. Das Nächste und das Ganze sind die beiden Schalen, die in Balance zu halten sind.
Gilt dieses Modell nur synchron und nicht im Grunde doch auch diachron, zumal im Blick auf Zukunft? Wir müssen an die kommenden Generationen denken. Wer sagte: Ich bin mir allein der Nächste, und das Leben nicht mehr wagte und deswegen im Planen und Verplanen von Bevölkerung aufginge und dem Leben kein Lebensrecht mehr ließe, der wäre unmenschlich, auch wenn er scheinbar an das Ganze denkt, fürs Ganze sorgt. Aber jetzt leben Menschen und wollen Menschen leben und wollen Menschen kommen, will eine neue Generation kommen, die wir bejahen müssen, auch wenn wir ihnen Lasten für übermorgen aufbürden müssen. Wir dürfen nicht aus der Sorge fürs Ganze den Mut zur nächsten Generation verlieren.
Zukunft findet nur statt, wenn wir die Gegenwart leben, große Zukunft nur, wenn wir die nächste Zukunft wagen. Lösungen des Energie- und Umweltproblems, die es unmöglich machen, unsere entwicklungspolitische Verpflichtung, unsere sozialen Verpflichtungen heute wahrzunehmen, wären unmenschlich. Für jenes Übermorgen, das nicht ist, das noch nicht ist, das Heute zu opfern, wäre Unrecht auch gegenüber dem Übermorgen. Umgekehrt wären aber auch Lösungen unverantwortlich, bei denen wir nicht an morgen oder übermorgen denken und hier nur Löcher zu stopfen versuchen, ohne zu sehen, welche Hypothek für morgen darauf liegt. Ich meine, das christliche Modell „Leidenschaft fürs Ganze und Leidenschaft für das Nächste und den Nächsten“ könnte hier weiterhelfen zu jener Gelassenheit, die uns befähigt, ohne Panik unsere Aufgaben für die Zukunft zu bewältigen.
Ein drittes: Ich meine, daß auch heute Kultus und Kultur einen realen Faktor darstellen, um menschlich zu bleiben. Jene im Grunde funktionalistische Sorge, die um der Zukunft willen alles sicherzu-[36]stellen sucht oder um des Jetzt willen alles vergeudet, macht die Welt unmenschlich. Nur wo Kultus und Kultur Raum haben, wo ich verdanke, wo ich gestalte, wo auch bei aller Sparsamkeit das Schöne sein darf, nur dort ist Welt menschlich.
Vielleicht ist es nützlich, hier an einige Phänomene aus der Geschichte des Christentums zu erinnern. Es gibt da nicht nur eine „Habe-Kultur“, sondern auch so etwas wie eine „Armuts-Kultur“ gerade dort, wo man das christliche Modell des Gebrauchs der Welt, als gebrauchte man sie nicht, überzeugend lebt. Man denke an das Feld und Umfeld der zisterziensischen und franziskanischen Bewegung oder auch an Ausprägungen frühen reformatorischen Christentums. Wo Askese aus dem Ja, aus einer positiven Sinngebung, entwickelt wurde, da entstanden neue Formen von Kultur. Aus dem prophetischen Modell christlicher Verantwortung für das Ganze und für das Nächste, aus der Gelassenheit glaubender Sorglosigkeit, aus der Gemeinschaft, die in neuer Tiefe und Unmittelbarkeit aus der Liebe geboren wird, die stärker ist als Ängste und Ansprüche, kann Neues wachsen.
Konstruieren und erzwingen können wir dieses Neue nicht, aber sensibel werden und empfänglich für sein Geschenk, fähig, ihm tätig zu entsprechen.
Die Rückfrage liegt nahe: Schön wäre es – aber wir müssen eben planen. Ja, wir müssen planen, aber aufgrund eines unverstellten, ebenso nüchternen wie kreativen Blickes auf die Wirklichkeit. Und ich glaube, daß Ehrfurcht und Gelassenheit in unserem Leben und Lebensstil nicht nur private ethische Postulate sind, sondern der Hintergrund, um Fakten nüchtern zu sehen, Ideologien zu durchschauen und Konsequenzen unbequemer Einsichten anzuvisieren.
Planungen haben Haltungen zur Voraussetzung, etwa die Bereitschaft, einschneidende Verzichte wie nicht auskalkulierbare Risiken zugleich auf sich zu nehmen. Ohne Risiko und ohne mutiges Einsparen zugleich wird es keine Lösung geben, und die positiven Merkmale einer Lösung begegnen uns am ehesten in einem Modell wie dem angedeuteten.
Zweite Rückfrage: Ist das hier mehr angedeutete als entwickelte Modell nicht nur etwas für Christen? Ich meine, daß auch jener, der es mit dem Christentum schwer hat, an diesem Modell sein Verhältnis zur Zeit, zu seiner Weltzeit, neu lesen und neu gewinnen kann; denn er kann eines sehen: daß dieses Modell [37] plausibler und realer ist als die einseitigen Alternativen des bloßen Konsums, des totalen Planens, des planerischen Abstinenzübens.
Ich bin am Anfang von der Redensart ausgegangen: „Mir bricht eine Welt zusammen“. Ist das nur ein beiläufiges Sprichwort, oder liegt nicht genau hier die Frage? Bricht unsere Welt zusammen? Vielleicht die Welt, in der wir alles selber leisten können; vielleicht auch jene Welt, die uns planerisch die absolute Sicherheit zum Überleben verspricht. Aber vielleicht ist im Zusammenbruch der neuzeitlichen Behäbigkeit, die sich selber zu vermögen glaubt, und der nach-neuzeitlichen Angst, die bloß an das Übermorgen denkt, nicht die Welt zusammengebrochen, sondern sind nur verengte Welten zusammengebrochen. Und vielleicht können wir einen Weg miteinander wagen, eine Schneise miteinander schlagen auf dem Weg in eine wirkliche, kommende Welt.