Das unterscheidend Eine

Grundzüge johanneischen Denkens der Einheit

Eine detaillierte Bemühung um die Grundzüge der johanneischen Botschaft überhaupt kann dazu führen, diese insgesamt auf Einheit, Einssein hin zu lesen. In stenographischer Verkürzung: Es gibt eine Linie der Verbindung zwischen drei Knotenpunkten, die ihrerseits je mannigfache Linien in sich verknüpfen. Diese drei Punkte sind die Aussage: „Ich und der Vater sind eins“ (Joh 10,30), sodann: „An jenem Tag werdet ihr erkennen: Ich bin in meinem Vater, ihr seid in mir und ich bin in euch“ (Joh 14,20), schließlich: „Alle sollen eins sein: Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaubt, daß du mich gesandt hast. Und ich habe ihnen die Herrlichkeit gegeben, die du mir gegeben hast; denn sie sollen eins sein, wie wir eins sind, ich in ihnen und du in mir“ (Joh 17,21–23).

Einheit des Vaters mit dem Sohn: Immer wieder betont das Johannesevangelium die Untrennbarkeit von Vater und Sohn, das Innesein des Sohnes im Vater und des Vaters im Sohn. Es geht dabei nicht an erster Stelle um eine vom Heilsgeschehen abgehobene Gleichwesentlichkeit und somit Einheit zwischen Vater und Sohn, so sehr diese Einheit im Innersten und Anfänglichsten Gottes selbst verankert und ihm zugehörig ist. Der Ort, an dem dieses Einssein zwischen Vater und Sohn zur Helle drängt, ist vielmehr gerade das Heilshandeln Gottes selbst. Sich ganz auf Jesus verlassen heißt ganz sich auf den Vater verlassen. Es ist wirklich das Handeln und Wirken, das Dasein des Vaters, was jener erfährt, der ganz auf Jesus setzt. Es gibt kein anderes Heil und kein anderes Licht Gottes als jene, die uns in Jesus als dem Sohn offenbar sind. Dies gipfelt im Hirtenbild (Joh 10 insgesamt), darin also, daß Jesus die unverwechselbare und allein Gott vorbehaltene Würde des Menschenhirten wahrnimmt. In seiner innersten Einheit mit dem Vater und Beziehung zum Vater sind ihm die Menschen übergeben, damit er ihnen die ganze Liebe Gottes schenkt, ihnen Leben in Fülle vermittelt und sie aus der Zerstreuung eint. Die göttliche Würde seines Auftrags, aber [349] auch die unveräußerliche Würde derer, die sich im Glauben auf Jesus einlassen, wurzelt in der Einheit zwischen Jesus und dem Vater. Was im Vater lebt, das lebt in Jesus, und was Jesus tut, das tut in ihm der Vater.

Schon in diesem Hirtenbild und dann in jenem vom Weinstock (Joh 15,1–8) und in Jesu Rede vom Lebensbrot, das die Seinen aus Ihm leben läßt, wie und weil er aus dem Vater lebt (Joh 6, besonders 6,57), ist die Linie vom ersten zum zweiten Punkt ausgezogen: Jesu Innesein im Vater und des Vaters Innesein in Jesus spiegeln sich nicht nur, sondern zielen auf das Innesein Jesus in uns und unser Innesein in Jesus. Wir sind und leben als wir selbst, wenn Jesus in uns lebt und wir in ihm leben. So eben, wie Jesus er selbst in seiner Hoheit und Einmaligkeit ist, indem er „nichts anderes“ ist, als daß der Vater in ihm lebt und er im Vater lebt. Diese Einheit Jesu mit denen, die aus ihm leben, wird gleichzeitig individuell und kollektiv ausgedrückt (individuelle Form etwa in Joh 14,21. 23, kollektive Form etwa in Joh 14,20). Dieses Einssein der Einzelnen und der Glaubenden in Gemeinschaft mit Jesus gewinnt indessen seine Fülle und Vollendung in jenem Einssein der Glaubenden miteinander, auf welches das 17. Kapitel im ganzen zielt. Dieses Einssein ist gewiß ein Innesein in Jesus und durch ihn im Vater; in Jesus zu sein „imprägniert“ gewissermaßen die Vielen, die an ihn glauben, mit der Teilhabe an jener Einheit, die zwischen Vater und Sohn lebt und die das Leben des Sohnes selber ist. Doch dieses Einssein als Innesein in Jesus ist zugleich gegenseitiges Verhältnis der Glaubenden, wie das Neue Gebot der gegenseitigen Liebe (Joh 13,34f.), das zugleich „sein“ Gebot ist (Joh 15,12. 17), erweist.

Das isolierte, auf sich selbst gestellte, Gott und den anderen gegenüber verschlossene Dasein ist die Unheilssituation der „Welt“ und der ihr verfallenen Menschen in der johanneischen Sicht. Gott läßt den Menschen nicht in diesem Abgeschnittensein, er bricht zu ihm auf, um sich in Jesus mit ihm einszumachen und ihn teilhaben zu lassen an dem Leben, das eben Einheit ist, gegenseitiges Innesein, gegenseitiges Sich-Schenken von Vater und Sohn im Geist. Nur dieses Einssein von Vater und Sohn ist wahres Leben, und dieses wahre Leben kann nur durch Leben weitergegeben werden, indem eben Jesus im Menschen lebt und so ihn hineinnimmt in Gottes Leben, will sagen in Gottes innere Einheit. Weltgestalt, Präsenz als Leben, als Heilszeichen gewinnt dieses Leben des Menschen in Jesus und durch ihn im Vater auch gerade darin, daß die Liebe, die zwischen Vater und Sohn waltet und die der Sohn uns schenkt, uns eint, ins gegenseitige Einssein hineinführt.

Wir haben das entscheidende Moment dieses Einsseins entdeckt, die Liebe: Liebe, die sich losläßt und weggibt, als Hingabe bis zum Letzten, als Hingabe des Lebens (Joh 6,51; 13, 1; 15,13). Wir geraten in jenes Paradox, das die christliche Botschaft insgesamt kennzeichnet: Gottes Herrschaft als das eine Notwendige und alles Einende bricht an von seiten Gottes und wird angenommen von seiten des Menschen nur in der kenosis, in der Entäußerung, im „Zunichtewerden“. Dieses Zunichtewerden aber ist [350] nichts anderes als Liebe, die mit sich identisch ist, indem sie sich hingibt und „aufgibt“. Das uns – mit Gott und miteinander – Einende ist die Todeshingabe Jesu als das Äußerste seiner Liebe (Joh 10,11. 16; 11,51–52; 13,1).

In dieser Zusammenschau johanneischer Aussagen kehren substantiell die im „Querlesen“ der gesamten neutestamentlichen Botschaft aufgefundenen Momente wieder, die das Anderssein, das Unterscheidende christlich verstandener Einheit charakterisieren.