Gestalt als Zeugnis – zu Beethovens letztem Klavierstück*
Hauptthema und Gesamtthema: die hinhaltende Gebärde, die von oben kommt und zugleich unterfängt*
Doch nun zum eigentlich zentralen Punkt des formalen Grundgefüges: Hauptthema und Gesamtthema. Das Hauptthema besteht aus drei Motiven, wobei das dritte Motiv in seinem Anfang mit dem Ende des zweiten Motivs zusammenfällt. Das erste Motiv, von dem bereits im Blick auf kanonische Bezogenheiten die Rede war, umfaßt die Töne es" – d" – a' – c" (jeweils ein Achtel lang). Daran schließt sich das zweite Motiv an: b' – a' – b'. Es besteht aus einer punktierten Sechzehntel (b') mit einer Zweiunddreißigstel (a') und einer Achtel (b'). Der dritte Ton, das zweite b' dieses zweiten Motivs, ist zugleich der Anfang des drei Achtel umfassenden dritten und abschließenden Motivs des Hauptthemas, mit den Tönen b' – a' – g'.
Überblicken wir den Gesamtbestand der hier vorkommenden Noten, so erkennt man unschwer: Es sind zum einen die Noten [271] des Dreiklangs der Grundtonart g-moll, also g' – b' – d", sowie die Noten a' – c" – es", die der auf g-moll bezogene verminderte Septakkord (fis' – a' – c" – es") und der auf die Paralleltonart B-dur bezogene Dominantseptakkord (f' – a' – c" – es") enthalten. Wir können den g-moll-Dreiklang als das statische Grundgerüst, den verminderten Septakkord als das dynamische Beziehungsgerüst der Tonart bezeichnen. Von da aus erklären sich die „Aussagerichtungen“ der drei Motive und des gesamten Hauptthemas. Das erste Motiv setzt bei einem Ton des verminderten Septakkords, der sechsten Stufe der Grundtonart ein, wobei dieses es" durch den Halbtonabstand auf d" als die Dominante der Grundtonart bezogen ist. Der erste Schritt des Hauptthemas bezieht also das dynamische, abhebende Moment (es") auf das tragende Gerüst (Dominante, d"). Doch springt die Bewegung sogleich weiter auf die zwei Töne a' und c", die dem dynamischen Gerüst des verminderten Septakkords angehören, und zwar dergestalt, daß nicht die fallende Linie weitergeführt wird (also von d" über c" nach a'), sondern daß von d" im Quartsprung abwärts das a' erreicht und von dort die kleine Terz c" aufwärts genommen wird. Das so entstandene Motiv verlangt von da aus nach einer Stillung, nach einem Halt, der organischerweise im b', also in der Terz des Grundakkords von g-moll gefunden wird. Allerdings ist dieses b' von sich aus genauso offen nach g-moll wie nach B-dur hin. Eben diese Zwiespältigkeit, die das Thema weiter belebt und offenhält, wird im zweiten Motiv artikuliert: die punktierte Federung b' – a' – b', von der schon im Zusammenhang mit der kleinen Sekunde die Rede war. In der Grundform aber setzt sich aus dieser offenhaltenden Federung, diesem atemholenden Umblick des zweiten Motivs das Thema im dritten Motiv fort durch den konsequenten Abstieg b' – a' – g': Die eröffnende Fallbewegung findet ihr organisches Ende im Grundton. (2) Diese scheinbar so selbstverständliche Melodie, dieses Hauptthema, hat also drei Teile, drei Motive: das erste Motiv, das aus den Tönen des verminderten Septakkords mit der Dominante gefügt ist, ein zweites Motiv, das das Federn auf der Terz, das Federn der Terz ist, das sowohl definitiv in sich stehenbleiben kann, nach unten fallen wie auch nach oben sich erweitern kann, und dann das definierende Sinken im dritten Motiv, sich einfach in die Logik des Abstiegs zu begeben. (1)
[272] Überblicken wir die drei Motive, aus denen sich das Hauptthema zusammensetzt, so fällt auf: Alle Motive sind durch eine Kombination von Noten des Grundakkords (Grunddreiklangs) und aus Noten des verminderten Septakkords gebildet. Der Wechsel zwischen beiden ergibt die Lebendigkeit, wobei das erste Motiv mit vier unterschiedlichen Tönen drei Töne aus dem verminderten Septakkord enthält, das zweite Motiv hingegen mit drei Tönen, von denen aber zwei einander gleich sind, und das dritte Motiv ebenfalls mit drei Tönen, von denen aber der erste Ton mit dem dritten des zweiten Motivs zusammenfällt, einen Überhang des Dreiklangs – nur ein Ton jeweils stammt aus dem verminderten Septakkord – aufweist. Allerdings haben das zweite wie das dritte Motiv ihre Dynamik durch einen anderen Umstand: durch die Offenheit der dritten Stufe (b') von g-moll eben nach g-moll und nach B-dur, die sich auch im zweiten Ton des zweiten und dritten Motivs, im a', dadurch auswirkt, daß a' Durchgang (zweite Stufe) zum Grundton von g-moll und Leitton von B-dur ist. Das führt denn auch dazu, daß in der ersten kanonischen Antwort der Unterstimme auf die Oberstimme das dritte Motiv in Takt vier nicht nach g0, sondern nach b0 in Takt fünf geht, ohne allerdings im Gesamtklang eine B-dur-Assoziation auszulösen, da die entsprechende Note der Oberstimme ein g" ist. Zudem wird die Bewegung dort vom g" zum as" und in der Unterstimme von b0 zum h0 weitergeführt, was einen kurzen Moment lang in die Landschaft von c-moll und in der weiteren Fortsetzung der Oberstimme in Takt sechs (f" geht zu e") gar nach f-moll zu weisen scheint.
Will man die Bewegung des gesamten Hauptthemas sichtbar machen, so bietet sich am ehesten das Bild einer Hand an: Sie streckt sich aus und öffnet sich, die Fläche nach oben, aber die hinhaltende Gebärde nach unten weisend (2), eine Bewegung, eine Gebärde, die von oben kommt und auffängt, ein Hinhalten, das von oben kommt, aber dann wiederum zugleich auch unterfängt. Es gibt nicht einfach ein Stürzen in die Tiefe, sondern eben diese Bewegung, die von oben kommt, aber nicht ins Oben zurückkehrt, sondern hinhält. (1) Die Hand hält inne, federt: Soll sie sich sinken lassen, sozusagen in den Schoß legen oder sich in einer Erhebung der Handschale vollenden? Die geneigte Gebärde [273] bleibt führend, das Thema sinkt nach unten, stillt sich sozusagen im Schoß: Tendenz nach Ruhe, nach Stillung.
Dann aber ist die zweite Hälfte des Gesamtthemas zu betrachten. Sie ist in einem einzigen Bindebogen in der Urschrift mit dem Hauptthema zusammengeschmolzen. Man könnte sie eine Umkehrung des Hauptthemas nennen, doch sind da einige gewichtige Unterschiede. Die Umkehrung besteht eigentlich nicht aus drei Motiven, sondern aus zwei je vier Achtel umfassenden Motiven. Das erste Motiv beginnt in der Oberstimme im dritten Takt (zweites Achtel), endet im vierten Takt (erstes Achtel) und enthält die Töne fis' – a' – c" – es". Anstelle der Verwebung des Grundakkords mit dem verminderten Septakkord im ersten Motiv des Hauptthemas ist im ersten Motiv der Umkehrung also ganz einfach von unten nach oben, vom bislang nicht in Erscheinung getretenen fis' aus, der verminderte Septakkord zitiert: eben fis' – a' – c" – es".
Er bezieht sich allerdings in der nächsten Note, im d", wiederum auf das Gerüst der Tonart: Er erreicht die Dominante von g-moll. Sie ist aber nicht Ort der federnden Offenheit wie im zweiten Motiv des Hauptthemas, sondern wird, das zweite Motiv verschlingend, zur Basis für den definitiven stufenweisen Aufstieg zur achten Stufe, zum oberen Grundton von g-moll. Der in sich noch offene Aufstieg des dynamischen Grundgerüsts (verminderter Septakkord) wird, aufgefangen in der Dominante, zum endgültigen Aufstieg zur Stillung in der Steigerung. Die in den Schoß zurückgenommene Hand hebt sich nach oben. Die zweite Hälfte des Gesamtthemas kehrt als solche und ganze im Geschehen der dreizehn Takte nirgendwo mehr wieder. Trotzdem findet sich in der Oberstimme eine kühne Abbreviatur des ersten Motivs der Umkehrung zwischen dem letzten Achtel des neunten und dem ersten Achtel des zehnten Taktes. Hier erfolgt der Sprung unmittelbar von fis' zu es" und somit die jäh abgekürzte Gesamtbewegung des ersten Motivs der Umkehrung. Daran schließt sich das zweite Motiv der Umkehrung vollständig an (Takt zehn, zweites Achtel, bis Takt elf, erstes Achtel). Und es ist höchst bedeutsam, daß genau dieses zweite Motiv der Umkehrung in der Unterstimme vom zweiten Achtel des elften bis zum ersten Achtel des zwölften Taktes wiederholt wird, und zwar in einer überraschen- [274] den Ausweitung des gesamten Tonvolumens nach unten: dreieinhalb Oktaven tiefer als die Bezugspartie in der Oberstimme.