Der Begriff des Heils

Heil der Welt?

Wenn der Mensch heute seine Nöte hat mit einem „persönlichen“ und „ewigen“ Heil, dann scheint die andere und doch auch genuin christliche Rede vom Heil der Welt ihm eher auf den Leib geschnitten zu sein. Auch hier erfährt er aber spezifische Schwierigkeiten. Sie liegen in zweierlei Richtung.

Die eine Richtung: Was ihm das Christentum als Heil der Welt anbietet, ist ja gar kein Heil der Welt; denn – so sagt es wenigstens die Dogmatik, der in diesem Punkt aber alle Stimmen des Evangeliums beipflichten – Heil hat zum Kontext die reale Möglichkeit des Unheils, Heil kann verfehlt werden. Die Not daran ist eine alte Not; sie hat aber heute ihr besonderes Gewicht, wo einesteils die Verbundenheit aller mit allen in der Welt, die Schicksalsgemeinschaft der Menschheit uns so deutlich vor Augen steht und wo es andernteils dem Menschen immer fragwürdiger wird, Schuld, Eindeutigkeit der Entscheidung, ungeminderte Verantwortlichkeit des einzelnen aus dem Gewirr der Determinationen, Einflüsse, Verschattungen herauszuheben und anzuerkennen. Wenn es nur einen im Unheil gibt, dann scheint das Heil der Welt nicht ganz zu sein. Es kann hier nicht darum gehen, aufs neue die Grundzüge einer „Theodizee“ zu entwerfen, sondern nur darum zu fragen, ob nicht doch das gefährdete, das ungesicherte Heil gerade Heil der Welt sei. Denn – allgemein menschlich und nicht nur christlich-dogmatisch gesprochen – ist doch gerade dies das „Unheil“ unserer Zeit, daß die totale Sicherung, die totale Vorausberechnung, das totale Funktionieren die Freiheit aufsaugt und den Menschen isoliert, das Leben zur je schon gelaufenen Sache degradiert. Gerade wenn Heil aus bodenloser und grenzenloser Gunst gegönnt ist und doch nicht zum gesicherten Automatismus wird, in den man so oder so hineinpaßt oder der so oder so über einen kommt, bleibt der Mensch Mensch, kann es ihm um sich und um die Welt gehen, wird er ermutigt und befreit zu seiner Freiheit. In einer fixierten oder erspekulierten allgemeinen Apokatastasis wäre das Heil der Welt im Grunde schon „gewesen“. Nur im Zugleich der unbegrenzten Gunst und der unpräjudizierten Freiheit menschlicher Antwort sind beide ganz und ist – im Spielfeld ihres Dialogs – die Welt ganz, also heil.

Die zweite Richtung: Heil der Welt wird nicht nur „etwas“ genannt, das kommen soll, es ist auch der Name für einen, der kommen soll, kommen freilich als derselbe, der schon gekommen ist: Jesus Christus. Er ist, nach dem Selbstverständnis christlichen Glaubens, das Heil der Welt, und das heißt: das einzige Heil der Welt. Eine konkrete geschichtliche Gestalt und das konkrete geschichtliche Verhältnis des Glaubens zu dieser Gestalt erheben also im Christentum den Anspruch auf allgemeine Verbindlichkeit; sie behaupten, die einzige Heilsmöglichkeit für die Welt zu sein. Es ist Zeichen des fundamentalen Anstoßes an diesem Anspruch, daß gerade in unserer Zeit christliche [218] Theologie selbst nach den Möglichkeiten gegriffen und sie weiter entwickelt hat, die die „Enge“ dieses Anspruchs als insgeheim allumfassende Weite verstehen lassen. Diese Versuche, die verborgenen und unausdrücklichen Weisen der Verbundenheit mit Christus als heilsmächtig zu verstehen, sind gewiß christlich legitim; sie sind es aber nur, wenn dennoch das Ärgernis der Entscheidung zurückbleibt: in dem Einen entscheidet sich alles, und daher müssen sich alle für ihn entscheiden, der sich selbst für alle entschieden hat – denn nur so ergreifen sie diese seine Entscheidung, die gerade als die von ihnen mitgetane, zumindest angenommene, ihr Heil ist.

Dieses Ärgernis ist ärgerlicher denn je; denn die Entscheidung fällt schwerer denn je. Dies nicht nur deshalb, weil sie durch die Vielzahl der Alternativen, der Heilsangebote, der Aufrufe und Anlässe, kein Heil mehr zu suchen, der Mißverständlichkeiten und Mißverständnisse des Christentums selbst kompliziert und unselbstverständlich geworden ist. Sich-Entscheiden überhaupt ist nicht eben die Stärke des Menschen von heute; denn aus der Vielzahl dessen, was ihn umdrängt und mitbestimmt, vermag er kaum mehr jenen freien Raum in sich zu finden, der ihn zur Eindeutigkeit einer den Augenblick übergreifenden Entscheidung befähigt.

Es erscheint einfach als Zumutung, das Heil der Menschheit an eines der ungezählten Worte ihrer in immer wirrere Silben zerspaltenen Sprache zu binden, das Heil für die Flut der isolierten Punkte des Welt- und Menschheitsgeschehens auf einen dieser Punkte zu fixieren, der zudem durch diese Geschichte immer weiter entzogen wird. Ein Heil für alle? Heil der Welt?

Wir haben indessen zwei gegenläufige Tendenzen bereits beobachtet: Die eine läßt sich mit den Stichworten Mißtrauen gegen die Transzendenz oder Unfähigkeit zur Transzendenz, Leidenschaft für die Immanenz bezeichnen; Konkretion, Konzentration auf das, was in der Geschichte geschieht, scheint die einzige Möglichkeit des Menschen zu sein. Die andere Tendenz geht dennoch, wenn auch verborgen und verschattet, auf das hin, was Menschsein, menschliche Begegnung mit der Welt, menschliche Bewältigung der Geschichte gewährt, geht auf eine den Menschen in seiner Freiheit wahrende und ermächtigende Gunst. Immanenz und radikale Transzendenz, Transzendenz zu dem, was nicht mehr „irgendwo“ darüber und „irgendwann“ hernach ist, gehören zum Menschsein. Jesus Christus aber ist, nach dem Zeugnis des Glaubens, genau das Zugleich dieser beiden Tendenzen; er ist die „reziproke Transzendenz“, er ist das In-der-Welt-Sein, das In-der-Geschichte-Sein der den Menschen und die Welt sich gönnenden Gunst.