Der Begriff des Heils

Heil oder Herrlichkeit?

Nicht ohne Grund ist es manchen Theologen unheimlich, wenn man die Kontur christlichen Heiles herausschneidet aus den Analysen menschlichen Be- [219] wußtseins und menschlicher Erwartung. Geht es im Glauben nicht einfachhin um Gott? Ist das beständige Anvisieren der Verständnismöglichkeiten für diesen Gott und der Vermittlungsmöglichkeiten, wie er als das Heil der Menschen glaubhaft gemacht werden kann, nicht ein Abstrich an seiner Göttlichkeit? Liegt nicht bei ihm allein der Anfang, und muß daher nicht auch von ihm her das menschliche Herz und was es bewegt verstanden werden? Müssen wir die Sicht, die uns den Menschen und sein Heilsbedürfnis erschließt, uns nicht schenken lassen von dem, der den Menschen mitsamt seinem Heilsbedürfnis geschaffen hat und der ihm allein Heil sein kann? Muß also der erste Blick des Glaubens nicht viel eher auf die Herrlichkeit Gottes als auf das Heil des Menschen gerichtet sein?

Derlei Fragen scheinen recht innertheologisch zu sein, und aufs erste möchte man meinen, die in ihnen sich meldende Position sei extrem weit weg von dem, was in unserer Zeit lebt, in ihrer Konzentration auf Menschheit, Gesellschaft, Zukunft. Und doch sind vielleicht gerade der Anlaß dieser Fragen im Glauben und der Anlaß der kritischen Abwendung heutigen Bewußtseins vom Begriff Heil näher beieinander, als es zunächst scheint.

Kehren wir, den genannten christlichen Einwänden scheinbar zum Trotz, uns zuerst nochmals dem letzteren, dem Zeitbewußtsein zu. Die Vorbehalte Heideggers in seinem Humanismusbrief gegen den „Humanismus“ sind auch in einem Denken nicht tot, das es – aus welchen Gründen immer – nicht mehr allzu sehr mit Heidegger hat. Ist der Mensch nicht erst dann wahrhaft Mensch, wenn es ihm nicht mehr um sich und somit um ein vorgefertigtes Bild seiner selbst, ein unbefragtes Vorverständnis seiner selbst geht, sondern wenn er sich einfach öffnet über alles hinaus, was nur Kontext seiner sich selbst bestätigenden Menschlichkeit und somit Vollstreckung seines „gewußten“ Wesens ist? Nur im Ausstand über alle Selbstbefaßtheit hinaus, nur in der Freiheit auch von allen Humanismen, ja von der vielbemühten Sinnfrage und auch von der Frage nach etwas wie Heil, kommt er heraus aus dem Zirkel in sich verfangenen Sich-Suchens und Sich-Wollens. Heil könnte so als die sublimste Verzierung des Egoismus erscheinen, in dem der Mensch je nur zu sich unterwegs und so sich selbst schon je entlaufen ist. Die fraglose Zuwendung zum Begegnenden, das offene Mitspielen des Daseins, die sich selber nicht mehr deutende Dankbarkeit im Umgang mit der Welt, die Einfachheit eines neu zu sich ermächtigten, weil sich nicht mehr thematisierenden Menschseins brauchen nicht nur Flucht vor sich und dem, was es zu fragen gilt, zu bedeuten; in ihnen kann sich auch eine Offenheit über alles bloße Fragen hinaus anmelden – in solcher Offenheit scheint dann die Frage nach dem Heil, gar nach dem übernatürlichen, persönlichen und ewigen Heil allerdings weit weg gerückt zu sein.

Es soll keine kühne Vereinnahmung bedeuten, wenn genau an dieser Stelle an die Gloria Dei als Grundzug christlichen Glaubens erinnert wird. Am Anfang einer wichtigen Phase neuzeitlicher Subjektivität außerhalb und inner- [220] halb des Christentums steht auch jene Begebenheit, die aus dem Leben des heiligen Franz von Sales berichtet wird: sein jahrelanger Krampf, prädestiniert zu sein zur Verdammnis, löste sich in dem Augenblick, da er von der Frage nach seinem Heil absah und einfach Gott Gott sein ließ in der reinen Zuwendung des Anbetens. Diese Geschichte deckt – über ihre theologische Relevanz hinaus – einen phänomenologischen Grundzug von Heil auf: Es schenkt sich, es geht auf, indem nicht es, sondern der gesucht wird, der es schenkt. Freiheit ist im Heil, wenn sie von sich frei, der Mensch ist im Heil, wenn er von sich frei ist. Der Krampf der Anstrengung verfremdet die Wirklichkeit, die ich nur dann ganz „leiste“, wenn ich sie mir ganz schenken lasse − und das heißt: wenn ich nicht mehr aufs Geschenk spekuliere. Erst in der wirklichen Beziehung, die nicht mehr nur das Bedürfnis extrapoliert, schenkt sich jenes „und“, in dem die Wirklichkeit ganz wird, jene Gunst, die sie und sich und mich mir gönnt.

Eine Reflexion auf den Begriff Heil vermag so gerade ihm selbst nur dann gerecht zu werden, wenn sie sich und ihn nicht als das Letzte nimmt. Solche Unbefangenheit – letztlich die Unbefangenheit des „Zeugnisses“ – vermag mehr – auch mehr Analyse – als alle bloße Analyse.