Heiliges Leben in heutiger Zeit*

Heiligkeit als Ideal: Schwierigkeiten und neue Ansatzpunkte

Heiligwerdenwollen, dieses Ziel stößt zu jeder Zeit auf Verdacht. Nicht ohne Grund. Denn so deutlich die Wegweisung Jesu, der Kirche, der überzeugenden Gestalten des Christseins auch ist, so unausweichlich die Ganzhingabe des Sohnes Gottes für mich, für jeweils den Einzelnen, die je eigene und ganze Antwort einfordert, es bleiben doch zwei Fragen: Wer heilig werden will, schaut der nicht mehr auf sich selbst, auf das, was er erreicht, als einfach auf den Herrn? Dieselbe Frage anders gewendet: Kann Streben nach Heiligkeit nicht eine neue Leistungs-, also Gesetzesgerechtigkeit an der Stelle jener Gerechtigkeit fördern, die aus dem Glauben, aus der Gnade, aus dem schlichten Beschenktwerden wächst? Und dann: Wird Heiligkeit, wenn ich sie für mich anstrebe, nicht zum quantitativen System von Tugenden und Vollkommenheiten? Das aber bedeutete Perversion der „heiligen“ Heiligkeit Gottes, seines Je־Mehr und Je-Größer, das nie einholbar und nie auslotbar ist.

Solche immer fälligen Rückfragen erhalten in unserer Epoche eine neue Dringlichkeit. Das hat vier Reihen von Anlässen.

Die erste Reihe: Unser bloß „systematisches“ Denken ist, gerade in Sachen der Theologie, zerbrochen. Sowohl die Phänomenologie des Heiligen wie das Entnehmen des ursprünglichen biblischen Befundes verwehrt uns ein verfügendes Denken. Die „negative Theologie“ gemäß dem IV. Laterankonzil, welches uns ins Gedächtnis ruft, daß jede Aussage über Gott mehr sagt, wie er nicht ist, als wie er ist, wird aktueller denn je. Eine heute zu ziehende Konsequenz ließe sich mit dem Wort fassen: negative praktische Theologie. Will sagen: Auch in meiner, unserer Verwirklichung des biblischen Rufes zu Nachfolge, Heiligkeit, Vollkommenheit wird das Erreichte immer Unterbietung, qualitativ abgründige Unterbietung des Angezielten sein.

Eine zweite Reihe von Anlässen: Unsere Leistungsgesellschaft, die auf das Maximum tendiert, es zum Standard erklärt, wird brüchig. Es drohen verheerende Folgen für die Menschen. Eine neue Kultur des Maßes und der Mitte, der Beschränkung und Bescheidung wird fällig. Dem entspricht ein tiefes Mißtrauen gegen Totalforderungen und gegen die Möglichkeit, sie durchzuhalten, ihnen zu genügen. Berufung zur Heiligkeit – bedeutet das nicht im vorhinein bereits Entmutigung?

Eine dritte Ursachenkette: Es gibt eine neue Empfindsamkeit für Solidarität als christlichen Grundwert, und zwar für Solidarität gerade mit denen am Rande, mit den Schwächsten und Kleinsten. Wenn aber soundsoviele heute in Situationen leben, in welchen Heiligsein unverständlich, befremdlich und entmutigend wirkt, wenn dieses Ideal sich für viele überhaupt nicht verständlich machen läßt: darf ich dann ein solches Ideal leben? Setze ich mich dadurch nicht bereits ab von denen, mit denen ich doch um Jesu willen solidarisch sein möchte? Ist nicht schon Sicherheit des Glaubens, Geborgenheit im Glauben eine Nichtsolidarität mit jenen, die nicht glauben können? Es gibt ein Pathos des Christseins von unten, des kleinsten kommunizierbaren Maßes, um am Rande, um bei denen, die draußen sind, zu beginnen, sie abzuholen und in kleinen Schritten mitzugehen.

Eine vierte Reihe von Anlässen hängt mit dem Grundwert Selbstverwirklichung zusammen, der weithin fraglos gilt. Gott ist Mensch geworden, damit ich besser Mensch sein kann. Die Vermenschlichung der Gesellschaft, die Möglichkeit, mich selber zu finden und mein eigenes Maß mit meinen eigenen Kräften verwirklichen zu können: daraufhin wird alles und auch das Evangelium gelesen. Dann aber wirkt ein Begriff wie Heiligkeit, der eindeutig nicht vom Ich, nicht vom Menschen, nicht vom eigenen Maß, sondern vom Maß Gottes her genommen ist, befremdlich ja entfremdend.

Es kann uns nun nicht darum gehen, in allen diesen Motivationsketten sachlich Gültiges und ideologisch Mißverstandenes zu entwirren. Wohl aber zeigen sich genau an den vier Stellen, die das Ideal Heiligkeit vom Horizont des heutigen Fühlens, Denkens und Wollens hinwegrücken, Ansatzpunkte für ein neues Verständnis. Dabei müssen teils vorhandene Orientierungen aufgegriffen, teils sie ergänzende oder heilende Kontrapunkte gesetzt werden.

Das Fragwürdigwerden eines bloß systematischen, verfügenden Denkens bricht einer neuen Offenheit für das Geheimnis Bahn. Gerade was sich nicht im Machbaren und Verfügbaren erschöpft, läßt mich leben, gerade von dorther kann Menschsein nur gelingen und erfüllt werden. Sich dem Geheimnis aussetzen, sich hineinführen lassen in den aus Eigenem unbetretbaren Raum: diese Sehnsucht nimmt mitunter gar groteske und perverse Formen an. Sie sind indessen nur das Ausrufezeichen hinter einer menschlichen Grunderfahrung: Ohne das, was größer ist als du, ohne sein Geschenk kannst du nicht leben.

Das Streben nach Heiligkeit wird so freilich von innen her umgekehrt, allerdings in jene Richtung, die es im Evangelium und bei den großen Gestalten heiligen Lebens immer hat: Streben ist nicht die Kraft zum eigenen Erreichen, sondern das Suchen beständig neuen und beständig tieferen Kontaktes mit dem, was sich mir schenkt; nicht andauernd neu greifende Hand, sondern immer neu geöffnete Hand. Ich bin heilig heißt dann: ich bin, daß du heilig bist; du bist, daß ich heilig bin. Damit verwandelt sich von innen her die Ethik des Leitens in eine Ethik des Lassens und Empfangens. Sicher ist Leben aus Gnade und Erbarmen gleich weit entfernt von Selbstverherrlichung wie von Selbstbezichtigung und Selbstzerstörung. Die klassische Aszetik der Selbstüberwindung wird indessen neu aktuell, wenn sie als das gelesen wird was sie vom Nachfolgeruf des Evangeliums her ist: Ethik des Lassens, Kleinwerdens, Sich-beschenken-Lassens. Könnten nicht gerade so auch jene aktiven Kräfte wieder geheilt werden und ins Spiel kommen, die beim bloßen Nein zur Leistungsethik durch die Halbwahrheit der bloßen Antithese unterdrückt bleiben?

Solidarität nach unten: wo sie nicht genüßliche oder selbstquälerische Verschließung in den trotzigen Abstand von der Mitte, sondern liebendes Sich-eins-Machen bedeutet, da trifft sie die Mitte jener paradoxen Heiligungsbewegung, die das Leben Jesu selbst kennzeichnet. Er heiligt sich für uns, indem er sich hingibt, hinausgibt an den Rand und über den Rand in unser Nicht, in unser Dunkel. Doch gerade das ist bei Jesus und bei den Mystikern und Praktikern seiner Nachfolge (Mystik und Praxis liegen christlich ganz dicht beisammen, ja ineinander!) immer so: Der Weg zu den Armen und zum Tabernakel, der Weg zum Dienst und in die Beschauung, der Weg der schlichten Nähe zu den anderen, des Teilhabens an ihrer Not und des Eintauchens in Gottes blendendes und verbrennendes Licht sind ein und derselbe Weg, ob bei Charles de Foucauld, Therese von Lisieux oder Mutter Teresa von Kalkutta.

An dieser Stelle muß auf eines der wichtigsten Dokumente heiligen Lebens unserer Zeit verwiesen werden: auf die dogmatische Konstitution des IL Vatikanischen Konzils über die Kirche, „Lumen gentium“. Das wichtige V. Kapitel ist der Berufung aller zur Heiligkeit gewidmet. Das Pathos der Aussage ist ein zweifaches zugleich: Berufung zum Ganzen, zum Höchsten – Berufung aller, Berufung in jeder Lebens Situation und jedem Lebensstand. Das Allgemeine ist das Besondere, das Besondere ist das Allgemeine im Christentum. Heiligkeit und Weltlichkeit – auch das IV. Kapitel über die Laien und auf andere Weise das VI. Kapitel über den Ordensstand machen dies deutlich – hängen eng miteinander zusammen. Immer wieder wird unterstrichen, daß Heiligkeit nicht Leistung, sondern Gabe ist, Gabe freilich, die unsere ganze Freiheit in Anspruch nimmt.

Wie aber gehen Selbstverwirklichung und Streben nach Heiligkeit zusammen? Wie kann der Mensch, den die Erfahrung des Selbstverlustes und der Selbstentfremdung beängstigt, sich öffnen für das Ideal heiligen Lebens? Das Paradox der evangelischen Erkenntnis läßt sich auch heute nicht umgehen: Wer festhalten will, verliert, wer verliert, der gewinnt. Sein ist Liebe, Sein ist Bewegung über sich hinaus. Wir sollen uns selber wollen – wir können gar nicht anders. Aber dieses Sich-Wollen gelingt nur in jenem unteilbaren Ja, das über sich hinausreicht und so sich selber findet.

Selbstverwirklichung durch Hingabe, Selbstsein als Selbstüberschreitung, Beschenktwerden als Tat der Freiheit, Weg zum Menschen als Weg zu Gott und Weg zu Gott als Weg zum Menschen: diese paradoxe Verfassung christlichen Strebens, dieses Zugleich von Heiligkeit und Menschlichkeit zeichnet die Schwierigkeit, aber auch und noch mehr die Chance heiligen Lebens in unserer Zeit. Auch und noch mehr die Chance: dies ist im Blick besonders auf jene Gestalten, die heute Menschen, zumal junge Menschen, beunruhigen, nachdenklich machen, anziehen. Daß aus Faszination konkrete Schritte des Lebens werden, daß aus Schritten ein Weg wächst: das freilich bleibt die Aufgabe.

Versuchen wir, die stets gültige und doch neue Orientierung, die sich uns in der Betrachtung unserer Situation erschlossen hat, auf eine knappe Formel zu bringen. Streben nach Heiligkeit ist nicht ein System, sondern der Weg zum je größeren Geheimnis. Streben nach Heiligkeit ist nicht geübtes Können, sondern in Treue verschenkte Ohnmacht, nicht Selbstübersteigung aus eigener Kraft, sondern Fallen der eigenen Niedrigkeit in den Aufwärtswind des Geistes Gottes. Streben nach Heiligkeit ist Hinausgehen an den Rand – und so gerade Einkehr in die Mitte, Leben ganz draußen und so gerade Leben ganz drinnen. Streben nach Heiligkeit ist Selbstverwirklichung in der Gestalt der Selbstentäußerung, Selbstfindung in der Gestalt der Selbsthingabe.