Berufung

Heilsgeschichte ist Rufgeschichte

Wenn ich eine Geschichte höre oder lese, so frage ich mich oft nach der Gegengeschichte. Die biblische Gegengeschichte zur Berufung des Samuel steht, so scheint mir, ganz am Anfang der Menschheitsgeschichte: Adam hat gesündigt. Er verbirgt sich vor Gott, und Gott ruft ihn: „Adam, wo bist du?“ (Vgl. Gen 3.) Adam aber kommt nicht aus seinem Versteck, sondern er zieht sich zurück, er will dem ihn entdeckenden und fordernden Ruf entgehen.

Die Geschichte mit Adam ist also keine Berufungsgeschichte – und ist es doch. Sie ist Geschichte mit einer Berufung, die zerbrochen ist. Ja, die Erschaffung des Menschen schloss eine Berufung in sich. Nun aber, da der Mensch sich nach seinem eigenen Plan und Willen sein Leben gegen Gottes ursprünglichen Ruf zurechtmacht, kommt diese Berufung über ihn wie ein Gericht. Und dabei hatte diese Berufung dem Menschen den Weg eröffnen wollen, auf dem Gottes Ruf Weg auch für die anderen, Weg zu den anderen aus Gottes Ruf wäre.

[28] Der Mensch ist gerufen, indem er geschaffen ist. Dies ist das Eigentümliche, Besondere an ihm, an seiner Erschaffung: gerufen sein. Alles, was ist, hat Gott ins Dasein gerufen. Aber dieser Ruf Gottes wird im Dasein der Dinge, der Pflanzen und Tiere nicht offenbar, er kommt nicht als Ruf an. Er wird nur blind, stumm und taub durch das Dasein dessen ausgeführt, was nicht selber verlauten, nicht selber antworten kann. In Adam aber ruft Gott ein Wesen so, daß er selbst als der Rufende ihm offenbar wird und daß darin der Ruf offenbar wird als der Sinn und das Fundament des Daseins für den in dieses Dasein Gerufenen.

Der Gerufene hebt inmitten der Welt den rufenden Gott selber ins Bild, ins Licht, in die Offenbarkeit. Leben heißt: dasein im Angesicht dieses Gottes und von Gott her selber, als ein Selbst, dasein.

Hier verbirgt sich ein Paradox: Da entsteht ein Wesen, das seiner selbst mächtig ist, ein Wesen, das Gott ähnlich ist und entspricht, indem es selber sprechen, ich sagen, sich in die Hand nehmen kann – aber die Höhe und Würde dieses Selbstseins erfüllt der Mensch nur, indem er gerade nicht sich auf sich selber stellt, sondern der Hörende, der Antwortende, der Gehorsame wird.

Beides geht nur gleichzeitig auf: gerufen sein und in Freiheit selbst sein. Den Menschen, der nur sein Ich, nur sein Selbersein leben will, der von sich aus sein will wie Gott, zerbricht der Ruf. Er hält Gott nicht mehr aus, versteckt sich vor Gott und vor sich selbst.

Ruf und zerbrochener Ruf, das steht am Anfang der Menschheitsgeschichte. Aber die Heilsgeschichte ist mit dem Fall Adams nicht zu Ende. Und dann entspricht es der inneren Logik, daß sie insgesamt Berufungsgeschichte ist. Wir können im Alten Testament in allen Etappen dem Menschen nachgehen, der seine Geschichte mit Gott hat, und immer wieder werden wir ihn [29] entdecken als einen Gerufenen. Immer neu macht Gott Anläufe, um dieses Nein des Menschen zu seinem Ruf aufzubrechen, um seinem Rückzug auf sich selbst eine Wende zu geben, hin zur Begegnung, um ihn herauszuholen aus seinem Versteck hinter der Fassade der eigenen Selbstherrlichkeit oder in der Grube der Hoffnungslosigkeit. Es geht Gott darum, daß sein Ruf bleibe und so der Mensch bleibe, der Mensch als Gerufener und Antwortender. Gerufen sind Noach und Abraham, Mose und Samuel, Saul und David; Prophetengeschichte ist Berufungsgeschichte. In allen diesen Gestalten will Gott der Geschichte der Menschheit und der Geschichte Israels einen neuen Anfang, einen neuen Sinn geben: Mensch sein aus Gottes Ruf.