„Nächte, die Licht geben“
Hin zur Freiheit
Es war Hemmerles tiefe Überzeugung, dass die menschliche Existenz ein von der Fraglichkeit des Nichts durchzogenes Freiheitsgeschehen ist, das sich nur im Hindurchgehen durch die Nacht des Nichts und der Ausweglosigkeit verwirklicht. „Der Spielraum des Menschen entsteht nicht aus vorgeplanten und vorgefertigten Möglichkeiten, sondern aus ausgehaltenen Unmöglichkeiten.“1 Diese existentielle Nacht-Erfahrung der absoluten Ohnmacht lässt sich weder meiden hoch eliminieren. Vielmehr ist es nach Hemmerle gefordert, „sich dem anderen, dem Dunklen, nicht zu entziehen, sondern zuzuwenden und auszusetzen.“2 Im Aushalten der Erfahrung des Dunkels schenkt sich heuer Sinn – jedoch nicht mit planbarer oder vorhersagbarer Sicherheit. Auch handelt es sich hierbei nicht um die dialektische Verklärung des Negativen. Die Sinnhaftigkeit des Sinnlosen, das Licht im Dunkel lassen sich nicht herstellen, herbeireden oder bewerkstelligen; sie bleiben Ereignis, „über das ich nicht verfüge, das aber von Ihm her sich mir gewährt.“3 Erst im Nachhinein lässt sich sagen: „das Dunkel ist Licht.“4 Die Erfahrung [117] des Nichts, der Abgründigkeit und der Ausweglosigkeit offenhart sich als Ort sinnstiftender Gotteserfahrung: „In der Aporie ist der entscheidende Ort. In der Aporie hat er uns erlöst“.5
Die gedankliche Nähe zu der von Johannes vom Kreuz in seinen beiden zusammengehörenden Werken „Aufstieg auf den Berg Karmel“ („Subida del Monte Carmelo“) und „Dunkle Nacht“ („Noche oscura“) beschriebenen Erfahrung der Nacht ist offenkundig.6 In ihnen wird der Aufstieg der Seele zur Einheit mit Gott beschrieben. Es handelt sich um eine Erfahrung, in der nicht nur die Welt, sondern auch das gewohnte Gottesbild und damit verbunden das kohärente Selbst- und Wirklichkeitsverständnis zerbricht, um sich in einer neuen Weise zeigen zu können. Durch die schmerzhafte Erfahrung des Zerbrechens jeglichen Sinnhorizontes wird die Nacht zur grauenvollen Nacht (noche horrenda). Dieser Verlust wird begleitet von der Stiftung eines neuen, umfassenden Sinnes, dank dessen sich die Nacht auch als eine glückliche (noche dichosa) erweist. Der Mensch, der diese Nacht durchlebt, erfährt das Entschwinden aller Dinge und muss erleben, wie seine Seele entblößt wird, wie alles Sinnenhafte und Rationale mit einem Mal nicht mehr erkennbar ist. In dieser Situation bleibt nur noch, die gewohnten Vorstellungen loszulassen, sich von allen Projektionen freizumachen: so geht der Verstand aus sich selbst heraus, um frei zu werden, frei für Gott. „In Armut, ungeschützt und ungestützt durch irgendwelche Wahrnehmungen meinerseits – das heißt, mein Erkenntnisvermögen war im Dunkeln, mein Empfindungsvermögen in Trübsal und Angst –, überließ ich mich dem Dunkel in purem Glauben, der für die erwähnten natürlichen Seelenvermögen dunkle Nacht ist. [...] So ging ich aus mir selbst heraus, d. h. aus meiner unzulänglichen Weise zu verstehen“.7 Das Besondere dieses Geschehens ist, dass es sich bei diesem Hinausgehen nicht allein um ein aktives, intentionales Geschehen handelt, sondern vor allem um eine Erfahrung der Passivität. Erkenntnis geschieht im Nicht-Erkennen als ein Begreifen, ohne zu begreifen. Im Zuge dieser dunklen Nacht erfährt die Seele die Vereinigung mit Gott, ohne dieses Geschehen, die Einheit mit Gott und das mit ihr verbundene Licht mittels des Verstandes auf natürliche Weise erfassen zu können.
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K. Hemmerle, AS IV, 366. ↩︎
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Ebd. ↩︎
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Ebd. ↩︎
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Ebd. ↩︎
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Ders., AS V, 366. ↩︎
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Zur ausführlichen Darstellung vgl. A.M. Haas, Die dunkle Nacht der Sinne und des Geistes. Mystische Leiderfahrung nach Johannes vom Kreuz, in: G. Fuchs (Hg.), Die dunkle Nacht der Sinne, a.a.O., 108–125. ↩︎
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Johannes vom Kreuz, Die Dunkle Nacht. Vollständige Neuübersetzung (Sämtliche Werke Bd. 1, hrsg. u. übers, v. U. Dobhan u.a. mit einer Einleitung v. U. Dobhan u. R. Körner), Freihurg/Br. 31995, 101f. ↩︎