Die Frömmigkeit des „Winter in Wien“
Hoffnung: „Menschen, die chemisch reine Elemente sind“
Noch etwas bleibt: eine Hoffnung nicht nur über die Geschichte hinaus, sondern auch für die Geschichte, eine Hoffnung, die freilich ihrer Erfüllung nicht sicher zu sein vermag, die aber einen Weg weist, wie Geschichte weitergehen könnte.
Eigentümlich, diese Hoffnung ist zugleich Umkehrung und Konsequenz des Weges der Reduktion. Alles ist auf seinen Grenzwert zurückgesunken, auf sein „gerade noch“. Die alle Geschichte und alle Welt im Transzendieren einbegreifende Hoffnung ruht unter der Erde, im Karsamstag, der eine Auferstehung kennt, die über die Geschichte hinausführt – aber wird sie Ge- [122] schichte wandeln können? Kehren wir einen Augenblick vor die Pforten des Bergwerks zurück. Zum Grenzwert, der nur noch Sein, bloßes Sein heißt. Statt „bloßes“ Sein können wir auch sagen: „reines“ Sein. Die Reinheit, die Radikalität ist sozusagen die andere Gestalt des Sterbens. Wir können und müssen nicht nur die Krippe auf die Pietà hin lesen, das Kind auf den erstarrten Leichnam zu, sondern wir müssen den Tod und die Grenze auch lesen auf den reinen Aufbruch, den unberührten Anfang hin. Es gibt nicht nur den Nullpunkt des Sterbens, sondern auch den Nullpunkt des Anfangs. Die entscheidenden Worte: Reinheit und Radikalität.
Nullpunkt hat, als der Grenzwert der Reduktion und als der Grenzwert des Anfangs, seine Stelle auf zwei Bahnen zugleich, er ist Schnittpunkt zweier Dimensionen, einer qualitativen und einer quantitativen. Die Reduktion nimmt nicht nur die Vielzahl der Qualitäten und Prädikate zurück, sondern auch das Volumen, die Anzahl, sie tendiert hin auf die letzte karfreitägliche Einsamkeit. Und ebenso in der umgekehrten Dynamik: Anfang ist radikaler, reiner Aufbruch – und ist Unscheinbarkeit, Winzigkeit, quantité négligeable. Reinhold Schneider denkt hier sehr fundamental: „die Wirkstoffe, wie etwa ein Sekret des Nebennierenmarks, Adrenalin, oder die Hormone der Nebennierenrinde, all die in sensibelstem Widerspiel ,steuernden‘, regulierenden Kräfte, deren Bedeutung und Wirkweise wohl noch viele Fragen stellen, sind dem gesamten Organismus gegenüber eine kaum mehr feststellbare Geringfügigkeit. Aber ohne sie kann er nicht gesund bleiben, kann er nicht leben. Sollte es sich mit den Völkern anders verhalten? Kranken sie am Ausbleiben, am Versagen der Wirkstoffe, der Spurenelemente? Und was wäre zu tun? Zwei, drei Existenzen sind nichts in einem aus achtzig Millionen (oder dem Vielfachen) aufgebauten Volkskörper. Vielleicht aber können sie durch äußerste Intensivierung zu Wirkstoffen werden: zu jenen seltenen, kaum oder gar nicht bekannten personalen Leistungen, die in den Blutstrom eingehen, die inneren Prozesse ermöglichen, beschleunigen, hemmen, ohne sich selbst zu verändern. Existenzen also wie Metalle. Ein einziger, der die Wahrhaftigkeit bis zum äußersten intensiviert, oder das Tragische an sich, die Kunst, den Glauben, die Liebe, kurz, [123] extreme Existenzen tun not. Wer den Fehler macht, sie zu isolieren, sieht sie im Unrecht. Ein Wirkstoff, der ohne Gegenspieler bliebe, schädigt. Aber das Extrem findet immer seinen Gegner, wie der Ruhm seinen Feind, ein Werk die Jugend, die es verwirft und zerstört. Das Extrem kann in sich nicht vollkommen sein. Unsere wesentliche Armut ist die an Radikalität, an Menschen, die chemisch reine Elemente sind“ (137f.).
Immer wieder zieht es Reinhold Schneider hin zu Existenzen, die solche Radikalität und Reinheit ahnen lassen. Eine der heimlichen Hauptfiguren seines Buches ist Pater B., der junge Jesuit, der im Sterben liegt und dessen Glaubens- und Leidensbereitschaft ihm Zeugnis christlicher Hoffnung bedeutet (vgl. 141f., 210). Nicht minder wichtig die Jugend, die sich vom Idealen anzünden läßt. Es ist eine Jugend, der Reinhold Schneider gerade nicht ein unbefangenes Vorwärtsstürmen in neue Horizonte verheißen kann, eine Jugend, der er den Mut zum Anfang nur als Mut zum Opfer, als Mut zur Dunkelheit zuzusprechen vermag. Mut zum Anfang im Mut zum Nicht, vielleicht ist das die Bereitschaft zu jenem Wunder, das allein weiterführt. „Aber der Jugend, gerade dieser, die noch von Tugend weiß und sich des Wortes nicht schämt, wünsche ich einen helleren Himmel als den Himmel dieses Advents. Und doch: ist Advent nicht Dunkelheit? Aber ein adventlicher Glaube bricht den Himmel vielleicht auf: wäre der Retter gekommen, wenn ihm Glaube nicht vorausgeeilt wäre? Kommt einmal eine Jugend herauf, ist sie da, die mit dem Wissen von der Welt, der Wahrheit von Geschichte, den Glauben an das Wunder zu vereinen vermag? Das ist ja eigentlich der Gehalt, die heilige Paradoxie der Botschaft, Alten wie Neuen Testaments“ (50, vgl. insgesamt 49–52). „Wir müssen leidenschaftlich das erstreben, woran wir (wie Whitman) im geheimen verzweifelt sind. Darum ist es unsagbar schwer, vor die Jugend zu treten – obwohl sie, wie vielleicht noch keine Generation, dort beginnen könnte, wo bisher alle endeten: mit des großen Glaubens großer Enttäuschung. Und vielleicht, wenn hier unverbrauchte Existenz sich einsetzte, während bisher nur Verbrauchte ans Tor kamen, erschlösse sich ein Pfad“ (159).
Mit dieser Hoffnung schließt der Gang des „Winter in Wien“ vor dem kostbaren Nachtrag der „Confusionen“. Verhüllung [124] des Gottesbildes, äußerste Annäherung an den Nullpunkt – und hier zugleich die unpathetische Hoffnung, die um den ungeheuerlichen und nicht im Kalkulieren zu versichernden Einsatz weiß, den sie kostet. „Von Schritt zu Schritt, auf dem Weg durch diese Räume, verhüllt sich dichter und dichter Gottes Bild. Nun, am Ausgang, ist es verschwunden. Vielleicht, das ist die einzige Hoffnung dieser Jahre, würde es sich wieder erzeigen, wenn die Menschen sich in Ehrfurcht frei machen würden von allem, was bisher Geschichte war; wenn sie sich, unter den Fahnen vollendeten, verhallenden Ruhms ein Herz faßten zu einer geschichtlichen Existenz, die noch nie gelebt worden ist“ (249f.). Der Mut, den diese Existenz kostet, wäre allerdings zugleich Mut zur letzten Einsamkeit (vgl. ebd.).
Was bleibt? Die Konstellation, die auseinanderflieht und doch zusammengehalten ist: vom Menschen her im Gebet, von Gott her in der Menschwerdung bis zum Grab, aus dem Verheißung ergeht, und nochmals vom Menschen her im Mut zum reinen Anfang. Was bleibt? Es bleiben Gott und Welt und Kreatur und Mensch als die Pole, die sich voneinander entfernen und sich von sich selbst entfernen zur Grenze ihres Nicht – um an diesem Nicht eingeholt zu werden von dem, der ihr Nicht zu dem seinen macht und sie anruft, in diesem Nicht alles auf seine Wunder zu setzen. Rettung ist geschehen, aber sie ist nicht „gelaufen“. Sie steht auf dem offenen Spiel, das alles fordert und den Menschen rein menschlich so überfordert. Das Gleiten ist nicht am Ende, aber es steht unter einem letzten, nicht mehr vom Menschen, von seinem Mut und von seinem Gebet zu präsumierenden Geheimnis. Der allerletzte Satz des „Winter in Wien“: „Und es muß sein, es ist ganz unabdingbar, was sich verhüllt in mir, was sich mir unter dem Geheimnis der Barmherzigkeit sachte entzieht“ (284).