Was fängt die Jugend mit der Kirche an? Was fängt die Kirche mit der Jugend an?
„Ich bin“ – „Es gibt“– das Mehr*
In weittragende Entscheidungen und vielfache, sich kreuzende Spannungsverhältnisse hineingestellt, soll die junge Generation ihren Weg finden, ohne daß ihr der tragende Boden von langer Hand her gültiger und verläßlicher Erfahrungen und Weisungen geläufig wäre. Wir dürfen nicht übersehen, welch ungeheuren Anspruch dies bedeutet, welch hohe Anforderung bis zur Überforderung hin dies für den einzelnen bedeutet. Um so erstaunlicher ist es, daß gerade in dieser Situation drei positive Grunderfahrungen sich wieder Bahn [315] brechen, die den Ansatz bilden können für ein neues Buchstabieren auch des Christentums und der Kirche heute.
Die erste Erfahrung heißt: „Ich bin“. Sicher, dieses „Ich bin“ zeigte sich uns als gefährdet, gebrochen, entfremdet. Ich kann nicht sein, wie ich will, ich weiß gar nicht, wie ich sein will, ich bin bald so, bald so – wer bin ich überhaupt? Doch in diesen Fragen, Befremdungen, Nöten tritt gerade der Überschuß des „Ich bin“ zutage, der geschlossene Panzer, der das Ich als den Inhaber von Ansprüchen, Rechten und Pflichten umgibt, bricht auf. Sicherlich kann dies alles wieder nivelliert werden in ein pures Anspruchsdenken, das Selbstfindung und Selbstverwirklichung als machbares Programm und eben: organisierbaren Rechtsanspruch versteht. Doch beachtenswerte Anzeichen sprechen dafür, daß die positive Erfahrung, der Aufbruch zu einem neuen Verhältnis zum „Ich bin“ tiefer reichen.
Zweite Erfahrung: „Es gibt“. Daß die Welt mehr ist als das Reservoir von Rohstoffen des Produzierens und Konsumierens, daß die Welt der Wegwerfwaren zur Müllhalde wird, daß das, was nicht redet, doch seine Sprache hat, die man nicht im verfügenden Zugriff mundtot machen darf: dies ist die vielleicht auffälligste Neuentdeckung des letzten Jahrzehnts, auch wenn es da fatale und ideologische Überziehungen und Überzeichnungen, irrationalen Naturalismus und zum Umschlag in Gewalttätigkeit fähige Nostalgie gibt. Dennoch wäre es das folgenschwere Verpassen einer Chance des Menschlichen, wenn der neue Sinn für das Gegebene und Sich-Gebende, für das Andere und Eigene der Welt und der Dinge nicht beim Wort genommen würde. Schöpfung gehört zur Erlösung, Welt zum Menschen, Reduktionen und Nivellierungen sind materiell und ideell zerstörerisch.
Eine dritte Erfahrung: das Mehr. Sosehr aus der neuzeitlichen Kultur und Denkweise das Mißtrauen gegen das zurückbleibt und sich fortpflanzt, was sich nicht im Hier und Jetzt ausweisen, belegen und bewähren läßt, so unübersehbar ist doch auch ein neuer Sinn für das, was über das Machbare und Verfügbare hinausweist. Der Mensch ist mehr und braucht mehr, und ohne dieses Mehr geht Leben menschlich nicht. Sicher gibt es da zwei gefährliche gegenläufige Tendenzen: Die eine möchte dieses Mehr eben doch machen, organisieren, erreichen – ideologische Utopien von einem geschichtlich und gesellschaftlich herstellbaren Reich Gottes. Die andere Tendenz führt zur Spaltung der Welt, zum praktischen Dualismus, der diese Welt und diese Gesellschaft sich selbst überläßt und sich ins reine Innen flüchtet. Und doch ist die Ahnung vom Mehr, der Hunger nach dem Mehr ein Aufbruch des unsterblich Menschlichen im Menschen, dessen Zeichen gut zu hüten und zu lesen und dessen neue Sprache behutsam zu entziffern ist.