Unser Lebensraum – der dreifaltige Gott
Ich bin gerufen, habe Verantwortung
Mir wurde sogleich klar, daß durch diese persönliche Liebe Gottes mein Ich auch herausgefordert ist. Ich bin gerufen, habe Verantwortung. Auf die Spitze meines Ich ist alles gestellt. Ich bin gerufen, den Willen Gottes zu tun. Ich bin der Partner dieses Gottes. Gott liebt mich unendlich – ich bin bereit, ich bin da, ich sage Ja. Das Ja-Sagen zu diesem Ruf, dieses „Ecco mi – da bin ich“, das war der entscheidende, ganz persönliche Schritt Chiara Lubichs, der freilich sofort zu einer unausweichlichen Einladung für viele wurde, denselben Schritt zu tun. So kommt zu diesem ersten „Gott liebt mich“ das Zweite hinzu: „Ich bin bereit, da bin ich“.
Wenn ich seinen Willen tun will, braucht es keine Gedankenkonstruktion, bis etwas Drittes da ist: der Nächste. Er begegnet mir mit derselben fordernden Kraft wie Gott, der mich ruft. Deshalb kann ich unmöglich an ihm vorbeileben. Denn er ist von Gott geschaffen, in ihm begegnet mir Gott selbst. So entdecke ich plötzlich im anderen meine Züge – er ist ja wie ich –, sogar die Züge Gottes, die Züge Jesu. Das Hauptgebot „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ ist von daher mehr als eine moralische Forderung. Es ergibt sich unmittelbar aus dem Anschauen des anderen: „Auch dich liebt Gott unendlich“. So bleibt es nicht bei einem „Wie du mir, so ich dir“. Es geht einen entscheidenden Schritt weiter, und dieser Schritt heißt: „Du bist wie Jesus, du bist Jesus, denn er hat dich angenommen.“ Für viele Menschen seit den ersten Zeiten der Fokolar-Bewegung waren gerade die Begegnungen und Erfahrungen entscheidend, in denen jemand sagen konnte: „Ich habe im Bruder und in der Schwester Jesus entdeckt. Ich bin da für dich, damit du leben kannst. Du bist Jesus.“
Und es geht noch einen Schritt weiter. Gemeinsam stehen wir in diesem offenen Raum, den Gott uns als unser Zuhause schenkt. Wenn wir so leben, daß wir einander gegenseitig lieben, wie Er uns geliebt hat, wenn also dieses Einander wächst aus dieser Liebe, wenn wir einander vergeben, wenn wir wissen, wir müssen miteinander eins sein – dann entdecken wir, daß wir in diesem göttlichen Raum der Einheit aufgehoben und von ihm umfangen sind. Auf diesem Weg komme ich wieder genau dorthin, wo ich schon mit meinem Nachdenken über die Mariapoli von 1958 angelangt war: Es ist ein einziger Lebens- [22] raum, in dem wir miteinander stehen und dessen Mitte der Auferstandene selbst ist. Es ist der erklärte Wille, das ausdrückliche Testament Jesu, daß „alle eins seien, ... damit die Welt glaube“ (Joh 17,21). Und es ist seine Verheißung: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen“ (Mt 18,20).