Wegmarken der Einheit

„Ich habe nur einen Bräutigam …“

Knapp, allzu knapp sind im bisherigen Gang unserer Überlegungen einige Grundzüge dessen zur Sprache gekommen, was überhaupt „Jesus der Verlassene“ bedeutet. Anstelle einer systematischen Ausführung scheint es mir jedoch angebracht zu sein, einmal von einer anderen Seite her das Verständnis von Jesus dem Verlassenen und das Verhältnis zu ihm zu entfalten. Ich wähle einen Text von Chiara Lubich, der ihr in den Anfängen ihres geistlichen Weges zuwuchs und der besonders eindrücklich sowohl das unverwechselbar Eigene wie, davon untrennbar, das „Allgemeine“ dieses Verständnisses und Verhältnisses Gestalt werden läßt. – Zunächst soll dieser Text in sich selber vorgestellt werden, und zwar in seinem italienischen Urtext und in einer deutschen Übersetzung.

[39]

„Non conosco che Cristo e Cristo crocifisso“ Ho un solo Sposo sulla terra: Gesù crocifisso e abbandonato; non ho altro Dio fuori di Lui. In Lui è tutto il paradiso con la Trinità e tutta la terra con l'Umanità. Perciò il suo è mio e null'altro. E suo è il dolore universale e quindi mio. Andrò per il mondo cercandolo in ogni attimo della mia vita. Ciò che mi fa male è mio. Mio il dolore che mi sfiora nel presente. Mio il dolore delle anime accanto. Mio tutto ciò che non è pace, gaudio, bello, amabile, sereno … Così per gli anni che mi rimangono: assetata di dolori, di angosce, di disperazioni, di distacchi, di esilio, di abbandoni, di strazi, di … tutto ciò che è Lui, e Lui è il Dolore. Così prosciugherò l'acqua della tribolazione in molti cuori vicini e, per la comunione con lo Sposo mio onnipotente, lontani. Passerò come fuoco, che consuma ciò che ha da cadere e lascia in piedi solo la verità.

(Chiara Lubich, Scritti spirituali / 1, S. 45)

[40]

Ich habe nur einen Bräutigam Ich habe nur einen Bräutigam auf der Erde: den gekreuzigten und verlassenen Jesus; ich habe keinen anderen Gott außer ihm. In ihm ist der ganze Himmel mit der Dreifaltigkeit und die ganze Erde mit der Menschheit. Darum ist mein, was sein ist, und nichts anderes. Und sein ist aller Schmerz und so auch der meine. Ich will durch die Welt gehen und ihn suchen in jedem Augenblick meines Lebens. Was mir weh tut, ist mein. Mein der Schmerz, der mich im Augenblick streift. Mein der Schmerz der Menschen neben mir. Mein alles, was nicht Friede, Freude, was nicht schön, liebenswürdig, heiter ist … So werde ich durch die Jahre gehen, die mir bleiben: durstig nach Schmerzen, nach Ängsten, nach Verzweiflung, nach Schwermut, nach Trennungen, nach Verbannung, nach Verlassenheit, nach Mißhandlungen, nach allem, was Er ist, und Er ist der Schmerz. So werde ich das Wasser der Trübsal in vielen Herzen trocknen, die mir nahe sind, und durch die Einheit mit meinem allmächtigen Bräutigam auch in den fernen. Ich werde vorübergehen wie ein Feuer, das verzehrt, was vergehen muß, und das nur die Wahrheit bestehen läßt.

(Chiara Lubich, Bis wir alle eins sein werden, S. 108f)

[41]

Wenden wir uns nun dem vorgestellten Text im einzelnen zu:

Ho un solo Sposo sulla terra: Gesù crocifisso e abbandonato; non ho altro Dio fuori di Lui. – „Ich habe nur einen Bräutigam auf der Erde: den gekreuzigten und verlassenen Jesus; ich habe keinen anderen Gott außer ihm.“

Der Gott Israels ist Gott des Bundes. Nicht nur – wie der Gott der Neuzeit – erste Ursache, letztes Ziel, äußerster Horizont, innerstes Prinzip der Welt, sondern lebendiges Du, das liebt, ruft, fordert, vergibt. Es ist mehr als eine allegorische Ausschmückung, wenn dieses Gottesbild sich bei den Propheten und im Hohen Lied verdichtet zum Bild des Bräutigams, der seine Braut liebend umwirbt und ihr die Hochzeit bereitet. Daß der Gott, der Himmel und Erde geschaffen hat und der dessen, was er schuf, in keiner Weise bedarf, sich in freier Zuwendung durch sein Wort an seine Geschöpfe bindet und sich ihnen schenkt, kann lebendiger und bewegender nicht zum Ausdruck kommen. Der Gott des bloß gedachten Maximums wäre zu klein, um die äußerste Einsamkeit und Bedürftigkeit des menschlichen Herzens zu erfüllen, der Gott des liebenden Maximums, der Gott der bräutlichen Zuwendung ist hingegen jener, der die Sehnsucht des menschlichen Herzens nach dem magis stillt und dieses Herz von seiner Verlorenheit an sich selbst befreit.

Im Neuen Testament nun erfährt dieses Gottesbild eine Verdichtung und Steigerung ohnegleichen. Es bleibt nicht bei einer Anknüpfung Jesu an den alttestamentlichen Hochzeitsbildern – er als Ansager und Ausrufer der endzeitlichen Hochzeit Gottes mit seinem in die Dimensionen der Menschheit hineinwachsenden Volk; nein, Jesus selbst übernimmt die Rolle des göttlichen Bräutigams. Er ist der nahe, sein Volk umwerbende und freikaufende göttliche Bräutigam, und so sehr das Fest der Hochzeit an vielen Stellen mit der Wiederkunft Jesu und der endgültigen Verherrlichung der Schöpfung [42] bei Gott in Zusammenhang gebracht wird, so deutlich sprechen andere Stellen davon, daß schon jetzt diese Hochzeit anfängt (vgl. bes. Joh 3,29; Eph 5,22–33). Gerade der Epheserbrief spricht dort, wo er das Verhältnis von Mann und Frau auf das Verhältnis von Christus und der Kirche bezieht, vom innersten Geheimnis der bräutlichen Beziehung zwischen Christus und der Kirche: von der Hingabe Jesu, in welcher er seine Braut sich erkauft. Ähnliches treffen wir in der Offenbarung des Johannes an, wo von der „Hochzeit des Lammes“ die Rede ist (vgl. 19,7.9; 21,9).

Sicherlich wird mit Recht der Schoß der Jungfrau Maria als das Brautgemach Gottes bezeichnet, in welchem sich das Wort Gottes für immer und ewig mit unserem menschlichen Fleisch und so mit der Menschheit vermählt. Aber was Menschwerdung insgesamt bedeutet, erreicht sein äußerstes Maß im Äußersten der Hingabe des Göttlichen und der Annahme des Menschlichen durch Gott. Dort also, wo der Sohn Gottes für uns sein Blut vergießt, dort, wo er sich alles das zu eigen macht, was der Braut zu eigen ist: alle Last der Menschheit, alle Schuld der Menschheit, alle Einsamkeit, alle Ferne von Gott. In keinem Augenblick des Lebens und Sterbens Jesu wird dies tiefer offenbar und radikaler Ereignis als in jenem, da der Sterbende sich selbst in den Schrei menschlicher Gottverlassenheit hineingibt. Wenn nach dem Evangelium des Matthäus und des Markus (Mt 27,46; Mk 15,34) Jesus in seiner Todesstunde den 22. Psalm betet, dann drückt solches Gebet mehr aus als nur einen Akt der Frömmigkeit oder eine psychologische Erfahrung. In diesem Gebet und in dieser Erfahrung kommt zugleich die tiefste Bedeutung der Todeshingabe Jesu an den Vater für die Menschheit ans Licht: Bis hin zu unserer Ferne von Gott und Verlassenheit von Gott kommt Gott uns entgegen in der Hingabe seines Sohnes – in der Situation unserer Trennung von Gott und unserer Verlassenheit von Gott, die Jesus liebend auf sich nimmt, ruft er zum Vater, ruft [43] er sich und uns in den Vater hinein. Er sagt hier gerade sein äußerstes, betendes Ja zum Vater. Das Ja Gottes zum Menschen und das Ja des Menschen zu Gott ereignen sich im Ja des Vaters zum Sohn und im Ja des Sohnes zum Vater. Die innigste Verbindung Gottes und des Menschen über den Abgrund der Ferne, ja der Trennung hinweg geschieht im Innersten Gottes, im Ereignis der dreifaltigen Liebe zwischen Vater und Sohn im einen Geist. Es gibt einen Punkt der Weltgeschichte, in dem Gottes Verhältnis zu Gott, Gottes Verhältnis zum Menschen und des Menschen Verhältnis zu Gott sich aufs innigste durchdringen und sich für immer dem Menschen als der neue Raum seines Lebens eröffnen – dieser Punkt ist der gekreuzigte und verlassene Jesus.

Nun aber können wir verstehen: „… ich habe keinen anderen Gott außer ihm.“ – In der Tat, es gibt keinen anderen „Einstieg“ in Gott, in Gottes uns ganz und gar mitgeteiltes Leben als eben ihn, den für uns gekreuzigten und verlassenen Jesus. Er ist die unüberholbare Epiphanie Gottes. Der Gott, der uns durch Jesus Christus erschlossen ist, ist dieser und kein anderer Gott. Der gekreuzigte und verlassene Jesus ist der Emmanuel, der Gott für uns und mit uns. Auf ihn hinaus läuft konsequenterweise unser Glauben an die Liebe, unser Leben der Liebe, unser ganzes, die Bräutlichkeit der Kirche, die Bräutlichkeit erlösten Menschseins vollziehendes Dasein hinaus. In der Weihe an den verlassenen Jesus begegnen wir so einer „besonderen“ Berufung, in der jedoch nicht etwas beliebig Besonderes zur Darstellung kommt, sondern die allgemeine Berufung des Christseins an ihrer entscheidenden, an ihrer Schlüsselstelle. Wer einmal innerlich dem begegnet ist, daß der Mensch hier von Gott bis zum äußersten geliebt und angenommen ist, der kann von dieser Stelle nicht mehr hinweg, sondern er „muß“, im Sinn einer Logik der Liebe, an dieser Stelle verweilen. Sein Weg führt nicht mehr aus dieser Wunde heraus, sondern nur immer noch tiefer in sie hinein.

[44] Sicher ist auch der Gott in der Krippe, sicher ist auch der Gott, der in der Bergpredigt aufgeht, der Gott in der Eucharistie, der Gott, der sich an Pfingsten in unsere Herzen ergießt, unser Gott und derselbe Gott. Aber wo immer ich Gott begegne, ich kann seinen Namen nur lesen aus dieser Tiefe, aus dieser Wurzel: Jesus, der Gekreuzigte und Verlassene.

Es erschließt sich wie von selbst: In Lui è tutto il paradiso con la Trinità e tutta la terra con l'Umanità. – „In ihm ist der ganze Himmel mit der Dreifaltigkeit und die ganze Erde mit der Menschheit.“

Sicherlich, dies klingt paradox; denn Gott scheint gerade abwesend zu sein – der Vater weit weg und Jesus nicht in der Herrlichkeit des Sohnes, sondern in der äußersten Armseligkeit der von ihm angenommenen Knechtsgestalt. Und die Menschheit weit weg, denn Jesus ist ja verlassen von den Menschen, er hängt einsam zwischen Himmel und Erde.

Aber von innen her löst sich dieses Paradox. Weil Jesus alles Menschliche, alle Last und Schuld der Welt auf sich genommen hat, deshalb gibt es nichts in der Geschichte, was grundsätzlich außerhalb des Lebens Gottes läge: Alles ist hineinbezogen in dieses Leben Gottes, alles zur Sache des Gesprächs zwischen Vater und Sohn, der unbedingten Liebe zwischen Vater und Sohn gemacht. Der Vater spricht sich ewig aus, teilt sich ewig mit in seinem Wort als die rein sich verschenkende Liebe. Und dieses Wort ergeht nun in die Welt durch die Hingabe seines Sohnes in unsere Verlorenheit und Verlassenheit hinein. Der Sohn ist das ewige Wort des Vaters, das ihn ungeschmälert und rein aufgehen läßt in sich selbst, ihn verherrlicht als die ewige, gleichwesentliche Antwort auf den Vater. Und nun sagt dieses Wort sich aus der Situation unserer Trennung vom Vater und unserer Verlassenheit vom Vater. Die Laute, in denen dieses göttliche Wort sich buchstabiert, [45] sind der Schrei, das Warum, das Verstummen des von Gott getrennten Menschen. Sie werden verwandelt in lautere Hingabe an den Vater. Und so geht von Vater und Sohn der eine und selbe Geist aus, in dem sie sich einander schenken und der jetzt uns geschenkt wird als der Atem des göttlichen Lebens, das uns, den dem Tod Geweihten, neu eröffnet wird, damit wir mit Gott und in Gott leben können. Paradies, dreifaltiges Leben ist die Innenseite dessen, was sich zwischen Sohn und Vater, Vater und Sohn begibt in der Hingabe des am Kreuz verlassenen Christus, in des Vaters Hingeben seines Sohnes für uns, für das Leben der Welt.

Und dies geschieht, indem es im Leben und Sterben des menschgewordenen Sohnes Gottes geschieht, für jeden einzelnen Menschen und für die ganze Menschheit. Ihr Geschick und ihr Leben sind drinnen im Leben dessen, der für uns alle Mensch geworden ist. Jeder von uns hat ein einmaliges und dem anderen nicht mitteilbares Leben, eine einmalige, vom anderen nicht abzunehmende Verantwortung. Jeder ist in eine innerste Einsamkeit mit sich selbst gewiesen. Nur einer kann uns inwendiger sein als wir uns selbst: jener, der uns geschaffen hat und im Dasein hält. Er ist für uns Mensch geworden, und so kann er wahrhaft dort sein, wo ich in meinem Innersten bin, er kann wahrhaft für mich, an meiner Stelle da sein. Was er für mich tut, das gilt; freilich gilt es, indem ich es gelten lasse, es als für mich getan annehme, ihm mich glaubend und liebend anschließe. Doch indem ich selbst so in der Hingabe Jesu übernommen bin, von innen geheilt und getragen und begleitet bin, bin ich auch mit dir, bin ich auch mit jedem anderen grundsätzlich bereits in eine innere Einheit versetzt, die ich aus mir nie vermag und die keiner aus sich vermag. Jesus ruft meine Gottferne und Gottverlassenheit in seinem Schrei hinein in den Vater; er ruft mit demselben Schrei auch die deine, auch die eines jeden Menschen in den Vater hinein. Und so findet unser aller Schuld, unser aller Not, unser aller [46] Einsamkeit ein einziges Wort. In diesem einen Wort, im fleischgewordenen Wort Gottes, kommunizieren wir miteinander, in ihm finden wir das Wort füreinander, in ihm sind wir bereits geeint. Wenn wir aus dem Geist leben, den er uns erschloßen hat, dann sind wir im einen Geist ein Leib, Glieder an ihm und aneinander. Wahrhaft, in Jesus, dem am Kreuz für uns Verlassenen, sind wir alle eins, ist die ganze Erde drinnen mit der ganzen Menschheit. – Sofern wir dies erkennen und anerkennen, sofern wir dies glaubend und liebend annehmen, da kehrt sich das Ganze um.

Perciò il suo è mio e null'altro. E suo è il dolore universale e quindi mio. – „Darum ist mein, was sein ist, und nichts anderes. Und sein ist aller Schmerz und so auch der meine.“

Dieser Satz faßt eine Geste ganzer, ungeteilter Liebe – Jesus hat mich ohne Maß geliebt, hat sich zum Nichts, zur Leere gemacht für mich. Jetzt will ich das Seine zum Meinen machen, will in mir sein Nichts, seine Leere umarmen. Nicht mehr ich lebe, sondern er lebt in mir (vgl. Gal 2,19). Sein Leben ist das meine, seine Liebe ist die meine; das, was er liebt, ist das, was ich liebe. Diese „Transplantation“ meines Herzens in das seine, dieser Tausch der Herzen ist die notwendige Folge. Mein Leben leben heißt seine Beziehung zum Vater mitleben. Dies ist die Freude und Erlösung meines Erlöstseins durch ihn. Doch unteilbar gehört die andere Seite hinzu: Sein Leben mitleben heißt das Leben aller anderen mitleben, weil er eben das Leben und Sterben aller anderen in seines hineingenommen hat. Ich bin in eine nicht mehr zertrennbare Beziehung zu allen, die Jesus liebt, und das heißt zu jedem Nächsten, zur ganzen Menschheit hineingewiesen. Indem das ganze göttliche Leben mein ist, ist mein der ganze, menschheitliche, von Gott vergöttlichte Schmerz. Weil ihm nichts gleichgültig ist, weil ihn nichts unberührt läßt, kann mir nichts gleichgültig sein, kann mich nichts unberührt lassen.

[47] Verweilen wir noch einen Augenblick bei dem Ausdruck dolore universale, allgemeiner Schmerz. (Der Urtext läßt sich übrigens deutsch vielleicht noch exakter wie folgt wiedergeben: „Und sein ist der allgemeine Schmerz – und auch mein.“) Schmerz ist ansonsten doch das, was trennt. Im Schmerz empfinde ich mich selbst. Was mich schmerzt, das hemmt meine Kommunikation. Statt frei zu sein für das, was andere angeht, werde ich mir selbst empfindlich und schreie mich im Schmerz sozusagen selber hinaus. Schmerz ist das „Wort“ dessen, was mich allein betrifft, was mich isoliert, auf mich zurückwirft. Seit er aber meinen Schmerz in seinem Schmerz übernommen hat, ist jenes heilende Mitleiden geboren, das auch das Isolierende in Verbindung verwandelt. Das, was mich aus dem Lebenszusammenhang herauslöst, das, was den Lebenszusammenhang hemmt – das, was schmerzt, wird durch den Schmerz des für mich verlassenen Jesus zur Verbindung mit Gott und mit allen.

So löst es sich ein: Was sein ist, das ist mein, das wird Inhalt meines Lebens. Sein aber ist das, was aller ist – und so sind in ihm alle mein, ist die Last aller meine Last. Gottes- und Nächstenliebe bewähren sich einmal mehr als die unzerreißbar eine und selbe göttliche Tugend.

Mit ihm, mit dem Verlassenen allein leben heißt gerade, mit allen, mit der ganzen Welt leben. Dieses Leben mit ihm allein und darin für die Welt ist das Spezifische christlicher Kontemplation, wie sie sich eindrucksvoll etwa im Karmel bezeugt.

Nun aber hat Gott in seiner Kirche einen Weg vorbereitet, der Weg für alle sein will, Weg mitten in der Welt, und der doch in nicht geringerer Intensität genau dies verwirklichen möchte: leben mit dem Verlassenen allein und so leben nicht nur für alle, sondern auch mit allen. Ja mehr noch, leben für alle und mit allen dergestalt, daß darin jene Einheit wächst und Wirklichkeit wird, die Jesus im Abendmahlssaal für uns erfleht hat und die bereits in seiner Verlassenheit, seiner Hingabe, seinem [48] Tod am Kreuz grundgelegt ist. Dieser Weg sucht den verlassenen Jesus in den Umständen des alltäglichen Lebens, in all dem, was uns irgendwo und überall an Dunkelheit und Schuld, an Schmerz und Trennung begegnet.

Wir lesen die folgenden Zeilen unseres Textes: Andrò per il mondo cercandolo in ogni attimo della mia vita. Ciò che mi fa male è mio. Mio il dolore che mi sfiora nel presente. Mio il dolore delle anime accanto. Mio tutto ciò che non è pace, gaudio, bello, amabile, sereno … Così per gli anni che mi rimangono: assetata di dolori, di angosce, di disperazioni, di distacchi, di esilio, di abbandoni, di strazi, di … tutto ciò che è Lui, e Lui è il Dolore. – „Ich will durch die Welt gehen und ihn suchen in jedem Augenblick meines Lebens. Was mir weh tut, ist mein. Mein der Schmerz, der mich im Augenblick streift. Mein der Schmerz der Menschen neben mir. Mein alles, was nicht Friede, Freude, was nicht schön, liebenswürdig, heiter ist … So werde ich durch die Jahre gehen, die mir bleiben: durstig nach Schmerzen, nach Ängsten, nach Verzweiflung, nach Schwermut, nach Trennungen, nach Verbannung, nach Verlassenheit, nach Mißhandlungen, nach allem, was Er ist, und Er ist der Schmerz.“

Wenn er alles angenommen hat, so wird alles zum Berührungspunkt mit ihm. Nichts kann mir begegnen, kein Augenblick, der nicht drinnen wäre in seiner alles annehmenden und verwandelnden, dem Vater hingebenden Liebe. Ich selbst bin vor nichts mehr auf der Flucht, denn in allem schaut er mich an. Und gerade das, was nicht nach ihm und nicht nach dem schmeckt, was er bringt, nicht nach Freude und Frieden, ist er. Wenn sich Gott finden läßt in dem, der in der Verlassenheit schreit: „Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“, so ist es nur konsequent, daß ich diesem Gott gerade dort begegne, wo er mir abwesend zu sein scheint. Er hat sich zur [49] Abwesenheit seiner selbst gemacht, er hat seine Abwesenheit zu sich selbst gemacht. Überall ihn erkennen, überall ihn nennen, überall ihn lieben: das ist der neue Inhalt des Lebens, das so zu einer ständigen Kommunion mit ihm wird. Und in der Kommunion mit ihm zur Kommunion mit allem und allen. Die Beziehung, die er am Kreuz zu allem gestiftet hat, will von mir gelebt, will von mir verwirklicht werden. Wenn ich dem verlassenen Jesus entspreche, dann werde ich zum Resonanzboden, durch welchen die Einheit zum Klingen kommt, die er damals am Kreuz gestiftet hat.

Und so gilt: Così prosciugherò l'acqua della tribolazione in molti cuori vicini e, per la comunione con lo Sposo mio onnipotente, lontani. – „So werde ich das Wasser der Trübsal in vielen Herzen trocknen, die mir nahe sind, und durch die Einheit mit meinem allmächtigen Bräutigam auch in den fernen.“

Alles Seine ist mein, und so ist mein auch, das Werk zu tun, das er getan hat, getreu seiner Verheißung, daß jener, der an ihn glaubt, dieselben Werke und größere als er tun wird, aus der Verbindung mit ihm, dem Allmächtigen (vgl. Joh 14,12). Mit dem Verlassenen leben ist eben nicht bloß eine Devotion, sondern Freisetzung der göttlichen Energie, die überall Einheit stiftet. Diese Einheit können freilich nicht wir mit unseren eigenen Kräften allein erreichen, sie muß geschenkt werden. An uns ist es, das Leben mit ihm einfach vertrauend in seine Hände zu legen, und er wird daraus seine Frucht reifen lassen. An uns ist es, den zu lieben, der diese Einheit stiftet, den Verlassenen, und mit ihm im gegenwärtigen Augenblick zu leben. Er wird die Einheit wirken.

Leben mit ihm ist Mut zur unverstellten Wirklichkeit. Nichts braucht beschönigt, nichts braucht verdrängt zu werden; alles darf sein, wie es ist. Aber indem es ist, wie es ist, indem alle [50] Dunkelheit und Schrecklichkeit hervorkommt, tritt auch die noch größere Liebe dessen hervor, der alles dies angenommen und verwandelt hat. Indem der Vater den Sohn bis in die äußerste Gottverlassenheit und bis in den Tod hinein gesandt hat, wurde das Schreckliche und Widergöttliche in der Welt gerade nicht verharmlost und beschönigt, sondern es wurde gerichtet. Dieses Gericht freilich ist das Gericht der Gnade, indem Gott selber in seinem Sohn dies trug, annahm und verwandelte, was er zu richten hatte. Die alte Wirklichkeit ist gerichtet und durch die Gnade in neue Wirklichkeit verwandelt. Genau dies geschieht durch den, der mit dem Verlassenen mitten in der Welt lebt:

Passerò come fuoco, che consuma ciò che ha da cadere e lascia in piedi solo la verità. – „Ich werde vorübergehen wie ein Feuer, das verzehrt, was vergehen muß, und das nur die Wahrheit bestehen läßt.“

Von einem spricht dieser Text nicht mehr, von jenem, was als das Typischste für die Spiritualität des Fokolar erscheint und was am augenfälligsten durch das Charisma, das hier wirkt, ins Leben der Kirche heute eingebracht wird: von Jesus in unserer Mitte, von der gelebten Einheit. Wie sehr diese Einheit im Hintergrund des ganzen Textes steht, zeigt indessen die genauere Betrachtung. Und daß diese Einheit und daß zumal Jesus in unserer Mitte nicht ausdrücklich wird, liegt in der inneren Logik des Textes. An uns ist es, mit dem verlassenen Jesus zu leben – daß er sodann in unserer Mitte lebt, daß die Frucht dieses Lebens die österliche Erfahrung der Einheit ist, dies liegt allein – wir spielten schon darauf an – an dem, der Jesus von den Toten erweckt hat. Einheit gibt es nicht am gekreuzigten und verlassenen Jesus vorbei, Auferstehung nicht am Karfreitag vorbei; Leben mit Jesus in unserer Mitte wächst aus dem Leben in seiner Wunde, durch die allein der [51] Weg nach Ostern führt. Es bleibt dabei: Der Verlassene ist der einzige Bräutigam, er ist der einzige Gott, in ihm ist das Paradies mit der Dreifaltigkeit und die Erde mit der Menschheit.

Vielleicht ist uns deutlich geworden: Das Leben mit dem verlassenen Jesus ist gegenwärtiges, auf die Situation unserer Welt bezogenes Leben jenes magis, das zur menschlichen und christlichen Existenz gehört, und Entdeckung jenes göttlichen magis, das allein den Menschen von seiner Einsamkeit und Verfangenheit in sich selbst befreien kann. Leben mit dem Verlassenen ist Weg in jene umgreifende Einheit, nach der sich die Menschheit heute so dringend sehnt und nach der sich Jesus selber sehnt und für die Jesus seine Kirche als Zeichen und Sakrament vorbereitet hat.