Ideologiekritik und christlicher Glaube
Ideologiekritik und christlicher Glaube
[15] Innerhalb christlicher Theologie selbst geht heute die Rede um, die Theologie habe die Funktion der Ideologiekritik. Außerhalb des christlichen Glaubens geht die andere Rede um, der christliche Glaube sei nichts anderes als Ideologie. Diese Redewendungen sind so verbreitet, sie kehren auf so verschiedenen Ebenen und in so verschiedenen Zusammenhängen immer wieder, daß es um so notwendiger wird, sich mit dem auseinanderzusetzen, was in derlei Thesen angesprochen wird.
Es sind dabei vor allem drei Fragen zu nennen, die sich aus dem heutigen Zeitbewußtsein an den christlichen Glauben und an die Theologie erheben.
Die erste Frage tritt von außen an den Glauben. Sie läßt sich als den Verdacht formulieren, christlicher Glaube sei nur der Überbau und die Verfremdung von Phänomenen, die in einem unvoreingenommenen und sich selbst durchsichtigen Verhältnis des Menschen zu sich und seiner Welt ursprünglich anders zu erklären wären. Christlicher Glaube sei also die Verschleierung oder gar Verhinderung und Abdrängung eines spontanen Selbst- und Weltverhältnisses, kurz, er sei nichts weiter als Ideologie.
Die zweite Frage entsteht innerhalb des christlichen Glaubens. Mit Hilfe der modernen wissenschaftlichen Methoden wurde uns die weltbildhafte Verflochtenheit vieler Aussagen der Offenbarung und auch der kirchlichen Lehre deutlich. Wie läßt sich nun in einem kritisch wissenschaftlichen Bewußtsein das Gemeinte der Glaubenszeugnisse erkennen, wie unterscheidet sich die echte Bezeugung göttlichen Sprechens und Handelns von der unsachlichen Uminterpretation endlicher Sachverhalte? Die viel berufene hermeneutische Frage in der Theologie ist nicht zuletzt Frage nach dem Unterschied des Glaubens von der Ideologie und nach der Ebene, auf welcher dieser Unterschied reflex sichtbar gemacht werden kann.
Die dritte Frage ist die zwar am lautstärksten heute zu hörende; sie enthält jedoch am wenigsten theologische und philosophische Implikationen. Es ist die [16] Frage, ob sich nicht im Prozeß der geschichtlichen Formierung der Gemeinschaft christlichen Glaubens zeitgeschichtliche Aspekte und gesellschaftliche Interessen verfestigt, absolut gesetzt, mit dem Schein des Unabänderlichen, Heiligen umgeben hätten. Die Forderung nach dem Abbau ideologischer Verbrämungen und Strukturen in der Kirche wird von innerhalb und außerhalb, wird teilweise im Sinn einer notwendigen Selbstüberprüfung und Selbsterneuerung, teilweise im Sog einer ihrerseits ideologischen Übersteigerung gestellt.
Die drei genannten Fragen scheinen auf verschiedenen Ebenen zu liegen. Dennoch weisen sie zurück in einen gemeinsamen Grundzug heutigen Zeitbewußtseins. Eine formale Betrachtung zeigt uns ihre Parallelität. Das Stichwort, in welchem sie übereinstimmen, heißt „noch“: Ist Glaube heute noch möglich? Kann Glaube noch so verstanden werden wie zuvor? Kann diese oder jene Form oder Institution noch aufrecht erhalten bleiben? Die Fragen des heutigen Zeitbewußtseins an Glaube und Theologie leben also aus der Differenz, in welcher sich dieses Zeitbewußtsein gegenüber seiner eigenen Vorgeschichte findet. Der Verdacht, in den diese Vorgeschichte gerät, ist der Verdacht der Ideologie; heutiges Zeitbewußtsein selbst enthüllt als seinen Grundzug Ideologiekritik.
Die vielfältigen Weisen, heute von Ideologie und Ideologiekritik zu sprechen, sollen nun zunächst auf wenige Grundtypen reduziert und diese Grundtypen sollen auf gemeinsame Züge hin untersucht werden. Der sich so ergebende Ideologiebegriff schließt von sich selbst her die Grundzüge heutiger Ideologiekritik auf. Diese soll sodann auf ihre Gründe und ihre Tragweite, auf ihr Recht und ihre Grenze hin befragt werden.