Geistige Hintergründe des Terrorismus
II.
Treffende Analysen ohne eine Verständigung auf fällige Konsequenzen – dies wäre zu billig. Die grundlegende Konsequenz, die es zu ziehen gilt, heißt abstrakt formuliert wiederum: Mut zur Endlichkeit und Mut zur Unbedingtheit. Beides ist nicht selbstverständlich.
Mut zur Endlichkeit, Mut dazu, leisten zu müssen, Mut dazu, daß ich, was ich mir erträume, nicht unmittelbar erreichen kann, sondern es in den kleinen Schritten des Machbaren anstreben muß. Mut, ein endliches Schicksal übernehmen zu müssen, in dem ich nur eine endliche Rolle spielen kann. Mut dazu, daß ich vielleicht nicht im Anlauf meinen ersehnten Beruf ausüben, sondern ihm vielleicht nur schrittweise näherkommen kann. Mut auch, die Endlichkeit meines Partners anzunehmen, wenn ich mich an ihn gebunden habe, Mut, die Endlichkeit dieses Staates und dieser Kirche anzunehmen. Mut, mein eigenes Ich zu akzeptieren, auch meine Grenzen und Fehler, ohne in die Ausflüchte von Haß und Droge zu verfallen, um gleichsam mich selbst und meine Grenzen zu überspielen. Mut aber auch und gerade zum je Größeren, zum je Mehr, zum Ganzen. Mut, der eben das Ja wagt: Ja, ich wage eine lebenslange Bindung und endgültige Entscheidung und stehe zu ihr, ja, ich übernehme unbedingte Verpflichtungen mit- [75] samt den Opfern, die das Durchtragen erfordern mag. Mut, gesellschaftliche Grundwerte und menschliche Grundrechte als unabdingbar und durch keine vordergründige Rücksicht relativierbar zu vertreten. Mut zur Endlichkeit und Mut zur Unendlichkeit –: beides gehört zusammen. Ich glaube, hier liegt vor uns Christen eine Zukunftsaufgabe, die wir mit allen, die zum Dienst der Freiheit in unserer Gesellschaft bereit sind, gemeinsam wahrnehmen müssen. Gegen einen bloßen Pragmatismus und gegen eine bloße Utopie müssen wir diesen Realismus unserer Freiheit stellen, die endlich und unendlich zugleich ist.
Legen wir diese fundamentale Auskunft etwas weiter aus, dann steht wohl an erster Stelle – ich greife schon Gesagtes auf – die Verantwortung für unsere Worte und Ideen. Keiner kann die Fernwirkung eines jeden Wortes ganz abmessen. Wir sollen nicht Angst bekommen, unsere Meinung zu sagen, aber wir müssen wissen, daß unser Wort nie in ein Niemandsland hineinfällt, sondern immer ein Same ist, der Frucht bringt. Auch was man in der Hitze des Wahlkampfes, auch was man im Überschwang einer Predigt, auch was man in einer kleinen Gruppe irgendwo, auch was man auf einem Katheder sagt, was man in einer Zeitung schreibt, was man nur als These hingeworfen einmal in einer Diskussionssendung äußert, das bringt seine Folgen. Und deswegen müssen wir stets in der Verantwortung für die voraussehbaren Folgen formulieren. Dies immer vor Augen zu haben, ist ungemein wichtig. Etwas fromm gesagt, wir Christen müssen es uns wieder deutlich machen, daß Gott uns jeden Augenblick sieht und hört, daß ich vor ihm meine Worte und Taten verantworten muß. Wenn ich den sehe, der mich sieht, wenn ich auf die Stimme dessen höre, der mich hört, wenn ich den jetzigen Augenblick als [76] einen absolut zu verantwortenden im Blick auf den Willen Gottes lebe, dann vermag ich aus dem bloßen Gerede und seinen Fatalitäten auszubrechen. Ich wüßte keinen Weg, wie wir uns direkter in die Verantwortlichkeit für unser Wort einüben könnten.
Ein zweites – und hier kann ich an die Schlußfolgerung von Frau Dr. Baeyer-Katte anknüpfen: Wir müssen mit derselben Intensität Institutionen schützen und bergende Gemeinschaft fördern. Wir brauchen auf der einen Seite den Mut, Institutionen zu akzeptieren, zu wahren und zu stützen. Wir dürfen nicht alles Institutionelle madig machen, etwa das Recht und die moralische Ordnung, die sich notwendig in Normen und Gesetze verfaßt. Wir dürfen aber auf der anderen Seite auch nicht übersehen, daß es mit dem Hochhalten und Proklamieren von Normen nicht getan ist. Wir müssen Kommunikation stiften, lebendige Begegnung, bergende Gemeinschaft, Erfahrung menschlicher Nähe vermitteln. Wir müssen Stück um Stück erfahrbar machen, daß Institutionen für Kommunikation, für Freiheit, für Miteinander da sind. Hier hat vor allem Kirche, hier haben Pfarrgemeinden, Verbände, geistliche Gemeinschaften eine entscheidende Verantwortung. Überall gilt es, lebendige Zellen und Gruppen zu bilden, in denen wir die Freiheit miteinander einüben, füreinander da sind, in denen Institution sich als Heimat, als Ort der Bergung, der Solidarität und der Liebe bewährt. Allein auf solche Weise werden wir eine glaubwürdige Alternative anbieten gegen die totalitäre Gruppenbildung, gegen den absoluten Identitäts- und Konformitätszwang von Gruppen, die auf manche so faszinierend wirken und am Ende Revolution und Terror hervorbringen. Zellen christlicher Gemeinschaft aber wachsen nur, indem wir dasselbe Evangelium leben, es intensiv und ständig miteinander leben und den [77] Mut aufbringen, auch über unseren gelebten Glauben miteinander zu sprechen. In solcher Reflexion und Kommunikation vermögen wir uns gegenseitig zu tragen und zugleich zu öffnen für die anderen, für den Dienst an den Menschen, zum Aufbauen, zum Weitergeben. Nur wenn wir das tun in Gruppen, die nicht nur auf sich selber reflektieren, sondern auch auf den Herrn, der in ihrer Mitte sein will, können wir zugleich jenes Andere sichtbar und glaubhaft machen: daß Kirche, daß Gesellschaft nicht nur kleine, bergende Gruppe ist, sondern auch Institution sein muß. Institutionen und Normen erscheinen dann nicht mehr als Proklamationen und Fassaden, sondern sie sind lebendiges Leben.
Wir brauchen – dies eine dritte Konsequenz – eine positive, glaubwürdige Alternative gegen das totale Engagement im Dienste des Destruktiven, wie wir es in gewisser Weise anziehend und eindrucksvoll in fanatisierten Gruppen finden. Wir müssen dagegen setzen das absolute Engagement für wirkliche Ideale. Gehen nicht manche junge Menschen den anderen Weg, weil sie von uns nicht die radikale Einforderung des Christlichen erfahren? Sicher, diese Einforderung durchs Christliche darf und kann nie die Züge des Fanatischen an sich haben, das wäre Verengung. Aber sie kann und muß den Charakter der ganzen Hingabe zeigen. Machen wir das erfahrbar? Ich darf noch einmal daran erinnern, was dies heißt: Mut zur lebenslangen Bindung, Mut zum Kind, Mut auch zu den sog. evangelischen Räten. Ich bin davon überzeugt, daß dieser doppelte Mut, der Mut zu den evangelischen Räten – zur Ehelosigkeit um des Himmelsreiches willen, zu Armut und Gehorsam – und der Mut zur lebenslangen Bindung in der Ehe eine Achse des Lebens ist, ohne die unsere Gesellschaft auf Dauer ihren Halt ver- [78] liert. Nur wenn wir dieses unrelativierbare Ja positiv vorleben als ein Ja, das kein Nein in sich trägt, als ein Ja, das nicht gegen jemand oder etwas ist, nur wenn wir der totalen Selbstvergeudung, dem totalen Sichwegwerfen um eines scheinbaren Ideals willen die positive Selbstdarbringung und Selbsthingabe entgegenhalten für das, was sich lohnt und was weiterführt – nur dann werden wir die innere Konsistenz im Gefüge unserer Gesellschaft wieder festigen, werden wir den Erosionsprozeß aufhalten, der schließlich zum Auseinanderbersten der gesellschaftlichen Ordnung führen müßte.
Die letzte und entscheidende Konsequenz liegt in etwas scheinbar rein Übernatürlichem. Sie heißt Vertrauen auf die Gnade, Leben aus einem Geschenk. Und doch ist dieses spezifisch Christliche von eminent gesellschaftlicher Bedeutung. Wir brauchen den Mut zum Vertrauen auf eine Kraft, die es uns schenkt, nicht bloß aus uns selbst und aus unseren eigenen Möglichkeiten zu leben und darum auch nicht an Grenzen und Enttäuschungen zu verzweifeln. Normalerweise bleiben wir beim Mitleid stehen, beim Mitleid mit uns selbst und mit den anderen, beim Mitleid mit unserer schrecklichen und unvergleichlichen Situation. Jeder möchte sich verstanden wissen, und es erscheint als Unrecht, jemanden nicht zu verstehen. Aber ich kann einen auch zu Tode verstehen, indem ich ihn in seine eigene Misere so hineinverstehe, daß er sich nicht mehr aus ihr befreien kann. So aber verkehrt sich mein Helfenwollen in etwas, was ihm seine Freiheit nimmt und raubt. Wie oft spielt heute das Wort „unzumutbar“ eine Rolle: Wieviele Ansprüche, wieviele Anforderungen erscheinen uns unzumutbar! Sind wir vielleicht zu wehleidig geworden? Ein Appell zur Härte und zum Durchhalten wäre hier zu wenig. Aber haben wir nicht etwas, was wirklich weiterträgt? Ich meine den Glauben an die Wirklichkeit, die wir mit dem [79] altmodischen Wort „Gnade“ bezeichnen. In mir finde ich eine Kraft, die ich nicht aus mir habe, sondern die einer mir schenkt, der mich trägt. Der hl. Bonaventura hat einmal gesagt: Ein großer Berg, der mir die Kraft gäbe, ihn zu tragen, wäre leichter als ein kleiner, den ich aus eigener Kraft tragen müßte. Wenn wir die ganze, harte, unabdingbare Forderung des Christlichen hinstellen, dürfen wir auch die frohe Botschaft von der Gnade nicht verschweigen. Es ist wahr: jeden Nächsten lieben, die Kraft zum Glauben aufbringen, den Mut zur Hoffnung durchhalten, das geht nicht. Es ist wahr: das können wir nicht, es kann nur ein anderer in uns. Das reale Rechnen damit, daß Gott selbst uns zu dem befähigt, was wir von uns nicht vermögen, dies ist gerade die Basis, von der aus der Christ lebt, von der aus er jenen Mut und Optimismus verbreiten kann, die nicht bald wieder zusammenbrechen wie eine Utopie, die morgen schon falsifiziert werden wird. Hier wachsen der Mut, das unendliche Ziel mit aller Entschiedenheit anzustreben, und die Geduld, nur Schritt um Schritt diesem Ziel näher zu kommen, wie auch die Demut, unser Versagen auf diesem Weg einzugestehen und anzunehmen. Wir müssen wieder lernen, aus dem Mut zur Vergebung zu leben, anderen zu vergeben und auch selber Vergebung zu empfangen. Wir leben oft in einem Pseudo-Ich, in einem „Unschuldswahn“, um ein Wort der Gemeinsamen Synode aufzugreifen. Wir sagen: Weil mir das und jenes schwerfällt, kann Gott das doch nicht von mir wollen. Und wenn es mir nicht gelingt, trifft mich darum keine Schuld. Aber warum muß ich um jeden Preis der Unschuldige sein? Ist es denn so menschenunwürdig, schuldig zu werden, sich vergeben zu lassen und einen neuen Anfang zu versuchen? Ist Leben aus der Vergebung nicht menschlicher als jener Unschuldswahn? Ist nicht hier die ganze Unendlichkeit der Forderung ernstgenommen, ohne die schmerzhafte Endlichkeit unserer begrenzten Kraft zu überspielen?
[80] Der Mut zur Vergebung, zur Gnade, zum Geschenk, der Mut zum ganzen Einsatz, zum Ja auf Lebenszeit, der Mut zu einer lebendigen Gemeinschaft mit dem Herrn und mit den Brüdern und Schwestern in der Kirche mitsamt der Bereitschaft, wie ein Franz von Assisi auf unseren armen und schwachen Schultern die Kirche mitzutragen, der Mut schließlich zur Verantwortung für unser Wort und Tun in der Gegenwart Gottes, der uns sieht: diese einfältig probaten christlichen Hausmittelchen werden uns – dessen bin ich sicher – im Kampf gegen den Terrorismus weiter tragen als noch so großartige Ideen. Wenn wir nämlich so unseren Alltag leben und so unseren Dienst in Gesellschaft und Kirche gestalten, dann wird sich erstaunlich viel ändern. Es wird alles eher als eine träge Restauration werden. Kirche und Gesellschaft werden allmählich ein neues Antlitz erhalten, ein Antlitz, das von innen her Zug um Zug die Welt verwandelt und das Leben lebbar macht. Grandiose Hoffnungen werden da nicht eingelöst werden, aber wir werden leben können aus Hoffnung und auf Zukunft hin, die ein Geschenk Gottes sind, gemäß seiner Verheißung, die über dem Freiburger Katholikentag steht: Ich will euch Zukunft und Hoffnung geben.