Wert und Wirkungen der Religion

Immanente Gefahren der Religion

Diese mit Religion unausweichlich gegebene Doppelwirkung der Werterelativierung und Wertekonstitution kann zu für das Wertverhalten der Menschen höchst gefährlichen Konsequenzen führen, die freilich in einer Perversion des Wesens von Religion in ihr Unwesen begründet sind. Die kleine Schrift von Bernhard Welte „Über Wesen und Unwesen der Religion“ (Frankfurt/M. 1952) macht auf die Möglichkeiten und Gestalten solcher Perversion knapp und eindrucksvoll aufmerksam.

Zwei solcher Perversionen, die in unserer Weltgesellschaft gerade heute relevant sind, müssen eigens genannt und bedacht werden. Sie bringen Religion im Blick auf Wertsetzungen und Wertverhalten in der Gesellschaft in Mißkredit. Diese Fehlformen sind auf der einen Seite Fundamentalismus, auf der anderen Seite pragmatischer Funktionalismus der Wertsicherung.

Fundamentalismus: Aus der Erkenntnis, daß Gott absolut ist und eine ganze und nicht nur teilweise Entscheidung verlangt, wird der Schluß gezogen, daß mit einem bloßen Rekurs auf Gott, seine Worte, seinen Willen alles geordnet und geregelt werden kann, ja muß. Der Mensch wird durch sein Verhalten, die Gesellschaft wird durch ihre Gesetze zum Vollstrecker der Göttlichkeit Gottes, und indem scheinbar das Reich Gottes allein aufgerichtet wird, schiebt sich an die Stelle dieses Gottes der Mensch mit seinem Interesse und seiner Macht. Das Jesuswort an den aufgebrachten Simon Petrus: „Stecke dein Schwert in die Scheide!“ (Mt 26,52), ist ein Grundwort, das die Göttlichkeit Gottes, seinen Vorrang und seine Absolutheit gerade schützt. Dies bedeutet keineswegs, daß Gott nicht den Menschen für sich und seine Werte in Anspruch nehmen dürfte, aber der Anspruch, unter den Gott oder das Heilige den Menschen stellt, muß Gott Gott sein lassen und darf gerade nicht dazu pervertieren, Legitimation eines menschlichen Anspruches zu werden.

Dies gilt auch auf der theoretischen Ebene und schließt auf ihr Verbindlichkeit, ja Letztverbindlichkeit religiöser Aussagen keineswegs aus, wohl aber müssen diese verbindlichen Aussagen je in jenem Licht gesehen werden, in welches sie ein oft vergessenes Dogma der Kirche rückt: Dieses Dogma, welches das IV. Laterankonzil (1215) formuliert, schärft ein, daß jede Aussage über Gott – die Dogmen und die Schriftworte werden nicht ausgeklammert – mehr sagt, wie Gott nicht [46] ist, als wie Gott ist (vgl. DS 806). Das Je-mehr Gottes, der „Deus semper maior“, ist das notwendige Vorzeichen vor religiösem Sehen und Verhalten, damit es wahrhaft religiös bleibt.

Pragmatischer Funktionalismus: Dies ist die zweite Perversion der Religion als gesellschaftlicher Instrumentalisierung zur Wertsicherung. Diese Gefahr der Verfälschung hat zwei Grundpositionen. Sie kann die innere Verkehrung des religiösen Vollzuges, sie kann aber auch eine gesellschaftliche Postierung und Wertung der Religion ausmachen. Auf die innere Gefährdung sind wir bereits aufmerksam geworden: Ich bin religiös, damit es mir gut geht. Ich gebe Gott, was Gottes ist, damit ich von ihm möglichst viel erhalte. Dies führt dann dazu, daß man sicherheitshalber sich mit mindestens einem Gott, wenn nicht mit mehreren gut zu stellen sucht, damit man für den Fall des Falles nicht ganz aus dem Geleise geworfen wird. Was versteckt in fundamentalistischen Verfügungen über Gott enthalten ist, tritt hier, im scheinbar entgegengesetzten pragmatischen Verhalten, als gemeinsame Wurzel ans Licht: eine Relativierung des Absoluten auf das eigene Interesse. An dieser Stelle erscheint ein Nachtrag zur Problematik des Fundamentalismus angebracht: Gibt es nicht auch solche Formen, die ganz einfach in selbstvergessenem Fanatismus zur Selbstzerstörung sich treiben lassen, also gerade nicht sich selbst in den Mittelpunkt stellen? Gegenfrage: Ist jener Rausch, der sich bis zur Selbstvernichtung eingibt in ein Absolutes, nicht von jener selben Monomanie, von jenem selben Selbstbezug geprägt, der scheinbar gerade ausgeschlossen wird?

Die Perversion der Religion als gesellschaftlicher Instrumentalisierung zur Wertsicherung hat viele Gestalten: Damit die Kinder sich gut verhalten, werden sie einer religiösen Erziehung überantwortet. Damit Ruhe und Ordnung herrschen, wird eine – dem natürlich entsprechende – Religion gefördert. Sobald nur solche Wirkungen von Religion im öffentlichen Blick sind, werden gerade die erwünschten Wirkungen ausgehöhlt. Auch in einer weltanschaulich pluralen Gesellschaft – in späterem Zusammenhang ist davon zu handeln – kann Religion ihre Wirkung nur haben, wenn sie mehr gilt und ist als ihre bloß erwünschten Wirkungen.

Die „Gefährlichkeit“ von Religion (Johann Baptist Metz) im Blick auf die in einer Gesellschaft wirkenden Werte braucht nicht durch ein breites Band von Beispielen belebt zu werden – sie kommen unmittelbar in den Sinn. Diese Gefährlichkeit durch eine Relativierung des Anspruches mindern zu wollen, höhlt jedoch ebenso Religion in ihrem Wesen [47] wie auch ihre positive Bedeutung für Wertsetzung und Wertverhalten innerhalb der Gesellschaft aus. Wie kann die notwendige Balance zwischen der Religion eigener Wertrelativierung und Wertgewähr nicht von außen, sondern vom Wesen der Religion her gewonnen werden?