Gott und das Denken nach Schellings Spätphilosophie

Implikate des Ansatz beim "Seienden"

Drei Implikate, die in solchem Ansatz enthalten sind, sollen namhaft gemacht werden – Schelling selbst faltet sie der Sache nach aus:

  1. Indem das reine Denken „das Seiende“ denkt, denkt es also in seinen vielen sich aus der Potenz aktualisierenden Denkbarkeiten Eines. Das heißt zunächst: ein Wesen; dieses eine Wesen weist aber auf das Eine, dessen Wesen es ist. Wesen an sich wäre herrenlos, stellt als bloßes Wesen die Frage nach jenem, dem es gehört, das darin bestimmt ist. Schelling sagt, das Seiende impliziere das „das Seiende-seiende“, „αὐτὸ τὸ ὄν“, das „Seiende selbst“1. Von hier aus, von der Ambivalenz dieser Implikation aus hebt, wie noch zu zeigen sein wird, für Schelling der Gang aus dem reinen Denken in die negative und in deren Folge in die positive Philosophie an.

  2. Indem das reine Denken das Seiende denkt, denkt es seinen ihm an- und eingeborenen lnhalt2 aus sich hervor, in die Gegenständlichkeit. Es denkt ihn aus sich hervor, weil es ihn als bloßen Inhalt nicht hat, weil ihm der bloße Inhalt entgeht, es sucht ihn als einen unentreißbaren, bleibenden. Das Wesen, welches Schelling als das „Seiende“ bezeichnet, kann nicht in einer zufälligen Iuxtaposition vielfältiger Was-Bestimmungen bestehen, diese müssen vielmehr so zusammenkommen, daß sie sich ergänzen, ergänzen zum schlecht hin Ganzen, zu einem Unumstößlichen, nicht mehr Weitertreibenden, Sich-Genügen den3.

    Das Denken sucht also, das Seiende suchend, das totale, „alleinige“ Wesen4 das, was wahrhaft sein kann, in welchem es also als Denken Ruhe findet, sich selbst findet und einholt Das Seiende ist, mit Schelling gesagt, das vollendete „Subjekt-Objekt“5 sich selbst besitzende Geistigkeit. Sie zu denken ist das Denken unterwegs, was immer es denkt, alle Denkbestimmungen ergänzen sich zum auf sie zuführenden Weg.

  3. Indem das Denken das Seiende denkt, kommt es vom Undenklichen her. Es kann nur denken, weil es das unbedingte Daß zu seinem Prius hat, es ist schon je gegründet im Sein, mag ihm die Richtung aufs „Seiende“ als auf seinen eigenen Inhalt die Rück-kehr auf das ihm voranfängliche Sein auch de facto zunächst verstellen.

Ist sein ursprünglicher Akt nun aber das Setzen und nicht die einfachhin dem Sein geöffnete Frage, wird das Denken also wesenhaft als Potentialität gedeutet, ist damit das Denken nicht nur im Sinne der gemeinsam gedenkenden und verdankenden Verantwortung aller Denkenden „das Denken“, sondern „das Denken“ im Sinne des einsinnigen Konstituierens des Denkbaren als des Seienden: so erbildet sich im Denken allererst die Lichtung des in ihm bezeugten unvordenklichen Prius, das unbedingte Daß wird zum factum brutum, das in „dem“ Denken erst zu seiner eigenen Helle befreit wird. Das unbedingte Daß hat sich nicht eigentlich dem Denken zugedacht, sondern im Denken erst als solches konstituiert, zu sich selbst vermittelt. Dann mag zwar das Denken im Menschen und als menschliches nur ein Andenken an diese dem Menschen vorgängige Selbstvermittlung des absoluten Daß in seine Helle sein, aber was im Menschen, sofern er denkt, geschieht, ist doch das Strömen des einen Stromes des Denkens überhaupt; der in seiner menschlichen Gestalt noch so unvollkommene und endliche Nachvollzug des Denkens ist doch das Sich-Wissen der Möglichkeiten dessen, was sein kann, der aus sich allein zwar ohnmächtige, aber als vermittelt doch bemächtigende Begriff Gottes und der Schöpfung in sich selbst. Der Weg des Denkens durch seine Ebenen wird, von solchem Ansatz aus, sich begreifen als Weg des Denkens aus seiner Ohnmacht in diese seine vermittelte Mächtigkeit, in seine Abschließbarkeit und Vollendbarkeit hinein.

Die letzte, die positive Philosophie ist für Schelling allerdings nicht abschließbar, ihr Erweis Gottes ist nicht zu Ende, solange die Welt selbst eine Geschichte hat, sie bleibt Philo-sophie, Weisheitssuche6. In dieser positiven Philosophie triumphiert indessen7 die ihre Möglichkeiten ausdenkende, sich in ihre Möglichkeiten hinausden- [87] kende und diese Möglichkeiten als die Möglichkeiten des actus purus diesem unterbreitende Vernunft. Diese Möglichkeiten haben weder die Macht, sich aus sich in die Wirklichkeit des in ihnen Ermöglichten auszuführen, noch sich aus sich in ihre eigene Subsistenz zu bringen. Sie sind jedoch als das schlechthin allgemeine Wesen das, was der actus purus, was also Gott ist, ohne das er „bloßer“ actus purus wäre8.


  1. S. z. B. XI 314 das Seiende selbst, αὐτὸ τὸ ὄν, 313 das das-Seiende-seiende. ↩︎

  2. XIII 63. ↩︎

  3. Vgl. z. B. XIII 238/39, XI 287–292. ↩︎

  4. Z. B. XIII 260. ↩︎

  5. Allenthalben, z. B. XIII 235, 77. ↩︎

  6. Z.B. XI 367, XIII 131. ↩︎

  7. XIII 153. ↩︎

  8. XI 585. ↩︎