An die Teilnehmer der Romfahrt [...] 1986, Januar 1987

Impulse für die eigene Arbeit und fürs Bistum

Nochmals: Es geht hier nicht um Maßnahmen, es geht hier nicht um Übertragungen des dort Gesehenen auf unsere Verhältnisse, sondern um Nachdenklichkeit.

  1. Mit Sant’Egidio lernte ich kennen, wie das geht, was mich immer beschäftigt, wenn ich Pastoralvisitation halte. Kennen wir die Stadt, in der wir leben? Wird sie von uns, wird sie von denen, die hier Gemeinde sind, im Herzen getragen, ist überhaupt eine missionarische Pastoral in dem Sinne im Gange, wie wir sie dort erlebt haben? Wissen, wo jene leben, die in Not sind, in materieller oder in geistiger und geistlicher Not; Ansatzpunkte finden, wie bei ihnen und unter ihnen Gespräch und Gemeinschaft wachsen kann; Sensibilisierung und Motivierung der Kräfte der „Kerngemeinde“ für die anderen und damit für den Glauben selbst – ich meine, wir haben ein Modell gesehen, über das wir weiter nachdenken müßten. Was ich selber öfters sage, verlor für mich beim dort Gesehenen ein Stück von seiner theoretischen Hilflosigkeit; ich meine die beiden Fragen, die ich als konstitutiv für lebendige Gemeinde betrachte: Ist Er da? Sind jene da, die nicht da sind? Präsenz der Stadt in unserer Pastoral, Präsenz des Ganzen in den Herzen der einzelnen, Präsenz des Randes in dem, was wir als „Kern“ bezeichnen.

  2. [7] Wir wurden berührt von Zeugnissen, von authentischen, eindrucksvollen und doch zugleich schlichten Gestalten christlichen Lebens, christliche Gemeinschaft, missionarischer Präsenz. Gibt es das bei uns weniger – oder sehen wir es nur nicht? Oder vermögen wir so viel zu planen und zu bezahlen, daß darin das unmittelbare Leben erstickt? Ich träume nicht von „anderen Verhältnissen“, ich weiß auch, was uns in ihnen versagt wäre und abhanden käme. Aber wir sollten aufmerksam sein, Zeugnisse zu sehen, zuzulassen, sie behutsam ans Licht zu heben, ohne sie in den Griff bekommen und verplanen zu wollen. Natürlich muß es „stimmen“, aber es soll auch „leben“.

  3. Neues Leben stellt immer auch hergebrachte Strukturen in Frage; den Konflikt zwischen einer ganz ausgeprägten Ortskirchlichkeit und allem dem, was nicht nur dem Aufbau von Ortskirche dient, sondern Kirche in andere Schichten und Dimensionen hineinträgt, haben wir ebenfalls bei unserem Rombesuch wahrgenommen. Ist diese Gefahr des Nebeneinander oder aber der systematischen Vereinnahmung nicht auch bei uns gegeben? Haben nicht Amt und Charisma je einen gegenseitigen Überschuß?

  4. Wir sind einem neuen Typ von Frömmigkeit begegnet, der weder in der konstitutiven Mißstimmung kritischen Unbehagens noch in der Militanz seiner eigenen Rechtgläubigkeit erstarrt. Einer Frömmigkeit, die unbefangen ist gegen den Ursprung und gegen die Tradition, nicht fundamentalistisch und nicht selbstquälerisch differenziert. Weist das nicht in eine ähnliche Spur wie jene „Theologie der Berührung“, der Berührung mit dem Ursprung und mit dem Nächsten, die sich in Phänomenen unserer Heiligtumsfahrten und auch des Katholikentags abzeichnete? Müssen wir nicht hier wach und aufmerksam bleiben?

  5. Der Dialog: Beschränkt er sich nicht allzuoft auf binnenkirchliche Probleme oder momentan aktuelle Felder, ohne daß wir hineinhören in das, was die innerste Seele der Fremde zwischen moderner Kultur und modernem Bewußtsein einerseits und kirchlicher Botschaft und Tradition andererseits ist? Überhören wir mit unseren Antithesen und Anpassungen nicht allzuoft die ernsten Anfragen und Klopfzeichen von „draußen“?

[8] Liebe Mitpilger, so lang der Brief geworden ist, so sehr enthält er doch nur Notizen. Ich wäre froh, wenn sich Gelegenheit ergäbe oder Sie Gelegenheit nähmen, beim einen oder anderen Anlaß auf sie und auf das in Rom begonnene Gespräch zurückzukommen.

Mit herzlichen Grüßen und Wünschen für Sie und Ihre Arbeit im Jahr 1987

Ihr
+ Klaus Hemmerle