Vorspiel zur Theologie

Interpretationsspiele

Jede Praxis hat ihre Theorie, jedes Gestalten seine Interpretation in sich. Diese Interpretation hat sogar, näher betrachtet, zwei Schichten: eine funktionale und eine fundamentale.

Wenn ich Holz hacke, dann läuft in der Bewegung meiner Arme, in der Wirkweise meines Beils, in der Spaltung der Holzklötze eine Fülle physikalischer und physiologischer Zusammenhänge ab. Ein Teil von ihnen ist mir bewußt, ein größerer Teil nicht. Physik und Physiologie sind indessen hier nicht alles. Eine Geschichte der Produktion und der Technik ist präsent in diesem Beil, ein Kontext der Kultur in dieser Weise, Holz zu bearbeiten, eine Fülle botanischer Voraussetzungen darin, daß dieses Holz wachsen konnte – abgesehen von der Welt des Handels, durch die ich mir ein Beil erwerben kann, von der Welt der Forstwirtschaft, durch die ich dieses Holz zur Verfügung habe.

Man könnte die Aufzählung der in diesem einen Vorgang sich treffenden Schichten ins schier Ungemessene hinein fortsetzen. Und in jeder Schicht spielen Zusammenhänge, Gesetzmäßigkeiten, die grundsätzlich wißbar sind. Es ist zwar unmöglich, sie in diesem Augenblick alle präsent zu haben. Und doch greife ich mit meinem Tun sie alle auf, interpretiere ich sie in meinem Tun und interpretieren sie es. Wir dürfen uns hier an unsere Ableitung der transzendentalen Bestimmung res, Was, erinnern. Sie erschien uns als das Mitspiel des Ganzen im Einzelnen; dieses Mitspiel des Ganzen und des Einzelnen im Ganzen gibt dem Einzelnen seinen Gehalt, sein Was.

Es läßt sich kein Gestalten, kein Vorgang denken, der [110] nicht einen solchen funktionalen Hintergrund von Theorie, von Interpretation hätte. Und immer sind es viele, ja unendlich viele Schichten, die sich im einen Vorgang thematisieren, die in ihm als seine Ermöglichung und als seine Verstehbarkeit aufgegriffen sind. Das Interesse, den funktionalen Zusammenhängen nachzugehen, die sich in jedem Vorgang und jedem Ding treffen, ist die Triebfeder der Wissenschaften.

Wer alle funktionalen Kontexte eines Vorgangs verstanden hätte, der hätte ihn indessen noch nicht ganz verstanden. Beim Holzhacken laufen nicht nur Vorgänge mit ihren Gesetzmäßigkeiten ab, sondern ich selbst verhalte mich zu diesen Vorgängen. Gestalten schließt mein Verhalten zu meinem gestaltenden Tun mit ein. Gerade so sagt der Vorgang etwas – etwas über mich, etwas über das Dasein, etwas über die Welt. Und das ist die fundamentale Interpretation, die gemeinsam mit der funktionalen jedes Gestalten prägt.

Wenn ich Holz hacke, dann sage ich damit, daß ich das Recht die Vollmacht habe, solches zu tun. Ich verfüge über etwas, stelle mich gestaltend über etwas. Ich vertrete also nicht die Theorie einer absoluten Unberührbarkeit der Natur. Ich erkenne an, daß die Welt der Dinge etwas für mich ist, etwas, das ich verändern und gebrauchen darf. Und ich sage, daß ich mir nicht zu gut bin, so etwas zu tun, daß mit der Hoheit des Verfügenkönnens auch die Niedrigkeit der Mühe, der Anstrengung zu mir, zu meinem Leben gehört. Im konkreten Einzelfall sage ich freilich noch mehr. Mein Holzhacken kann verschieden motiviert, mein Verhältnis zu meinem Tun von einer verschiedenen Einstellung zum Dasein getragen werden. Wie ich etwas tue, darin sage ich etwas: mit meiner mürrischen Miene, mit meiner Gelassenheit, [111] mit meinem Engagement, mit meiner Zerfahrenheit, mit meiner Konzentration auf mich allein, mit meiner Bereitschaft, das eigene Tun ins Mittun anderer einzufügen. Gewiß mag es sich im einzelnen nur um eine augenblickliche Stimmung handeln. Aber auch die augenblickliche Stimmung sagt, aus der Zufallsperspektive des Jetzt: Es ist mit allem nichts, oder: Es ist mit allem gut. Und meine Stimmungen insgesamt sagen, was ich bin und was für mich der Sinn von allem ist.

Die fundamentale Interpretation der Dinge, der Vorgänge und der Zusammenhänge wird mannigfach thematisiert etwa in Weltanschauung, Dichtung, Philosophie. In dieser wird sie ausdrücklich reflektiert.

a) Die Wissenschaften

Aus der heutigen Gesellschaft läßt sich die Wissenschaft nicht wegdenken. Der Mensch versucht, immer vollkommener seine Welt in die Hand zu bekommen, alle ihre Zusammenhänge zu durchschauen, um sie zu steuern. Die Voraussetzung hierfür, die Voraussetzung für Technik und Planung ist das, was wir funktionale Theorie nennen können, die sich eben in der Wissenschaft verfaßt.

Wie kommt es zur Wissenschaft? Diese Frage ist nicht geschichtlich gemeint, und unsere Antwort ist zu grob und elementar, um die erheblichen Unterschiede zwischen einem antiken, mittelalterlichen und neuzeitlichen Wissenschaftsverständnis abzudecken. Doch so groß die Differenzen zwischen dem Wissenschaftsverständnis der Epochen – und auch den mannigfachen Theorien über die Wissenschaft heute – sind, es gibt et-[112]was wie einen Ursprung der Wissenschaft aus dem Zusammenhang von Gestalten und Interpretieren.

In jedem Vorgang überschneidet sich – am Holzhacken ist es uns schon aufgefallen – eine Vielzahl von Zusammenhängen. Sie signalisieren eine verschiedene Betrachtungsweise. Aber nicht nur das. Was der jeweiligen Betrachtung aufgeht, das steckt im Vorgang selbst. Auch wenn ein Holzhacker kein Lehrbuch der Botanik oder der Physik gelesen hat, so entspricht sein Holzhacken doch dem, was in solchen Lehrbüchern steht, er wendet es an.

Die verschiedenen Betrachtungsweisen sind notwendig, nicht nur um einen Vorgang exakter zu verstehen, sondern auch um die Zusammenhänge des Lebens und der Natur, in die er hineingehört, tiefer zu durchschauen und besser gestalten zu können. Damit aber geschieht eine Verschiebung. Es geht nicht nur, nicht einmal erst um eine Theorie des Holzhackens, sondern es geht um Theorien eben der Waldwirtschaft, der Botanik, der Physik, der Physiologie. Der eine Vorgang Holzhacken löst sich gewissermaßen auf. Er rückt von sich selber weg auf vielerlei Ebenen, die sich in ihm überschneiden.

Welcher Art sind diese Ebenen? Sie sind Felder, die dadurch konstituiert sind, daß Faktoren aufeinander wirken und ihre Wirkweise sich beobachten, sich formalisieren, nach ihren Gesetzmäßigkeiten, besser: Bedingungen klären, auf einen Nenner bringen läßt. Solche Felder bilden sich dadurch, daß ein Wirkzusammenhang, den ich bei einem bestimmten Vorgang entdecke, mit diesem einen Vorgang nicht am Ende ist, sondern über ihn hinausführt. Diese Weise von Wirkzusammenhang legt einen Schnitt – man kann sagen – grundsätzlich durch alles, durch die Welt. Indem ich nun die Weise, wie dieser Wirkzusammenhang „funktioniert“, auf ich-[113]ren Nenner bringe, erschließe ich mir den Zugang zu ungezählten vergleichbaren Vorgängen, die auf demselben Weg verstehbar werden.

Die Formalisierung eines bestimmten Wirkzusammenhangs bedeutet zugleich Verengung und doppelte Ausweitung. Verengung, denn die anderen Wirkzusammenhänge, in denen dasselbe ebenfalls innesteht, sind abgeblendet, kommen in dieser Sichtweise gar nicht vor. Gleichzeitig reicht aber diese verengte Sichtweise ins Grenzenlose, sie geht immer weiter, erfaßt immer mehr, sie hat die Tendenz zur Universalität. Die Weise, wie der jeweilige Wirkzusammenhang thematisiert ist, schaltet zudem alle bloß zufälligen Bedingungen dieser Beobachtungssituation und dieses Beobachters aus und strebt so nach einer objektiven, allgemeinen Aussage, d. h. zu einer Aussage, die für jeden möglichen Beobachter gilt und auf alle möglichen Fälle desselben anwendbar ist.

Am Beispiel angeschaut: Ich esse mit Genuß einen Apfel. Von all dem, was hier zusammenwirkt – mein Appetit, meine Freude, meine Gesundheit, die Botanik – interessiert den Chemiker nur eines: die Wirkweise bestimmter chemischer Substanzen im Apfel auf jene im menschlichen Körper: Verengung. Dabei interessieren nicht dieser eine Apfel und dieser eine Mensch. Mensch und Apfel werden zum „Fall“, der im Zusammenhang mit anderen vergleichbaren Fällen steht. Und diese bestimmten chemischen Substanzen interessieren nochmals nur, weil die Wirkweise chemischer Substanzen überhaupt interessiert. Wirkweise von chemischen Substanzen auf andere, das legt aber einen Schnitt durch die ganze Welt: Universalisierung. Natürlich ist es für den Chemiker unmöglich, alle vergleichbaren Fälle, die ihn [114] an sich interessieren, durchzuexperimentieren. Das Wissenschaftliche der Wissenschaft besteht gerade darin, daß sie das auch gar nicht braucht. Sie untersucht an einer begrenzten Zahl von Fällen die Bedingungen, wie Stoffe aufeinander wirken, und entwickelt daraus eine Formel, die für alle möglichen Fälle und Beobachter gilt: Allgemeinheit. Eine solche Formel ist nicht die Schilderung einer konkreten, einzelnen Erfahrung oder auch vieler konkreter Erfahrungen, sondern sie ist als Formel Vorgriff auf Erfahrung, die noch nicht gemacht ist, von der aber behauptet wird, daß sie so zu machen ist.

Gilt das Ausgeführte indessen für alle Wissenschaften? Der Tendenz nach ja, der Bedeutung und konkreten Durchführung dieser Tendenz nach aber gibt es Unterschiede. Das historische Ereignis, aber auch der zu interpretierende Text sind nicht Fälle, die interessieren, sofern sie beliebig oft wiederholbar sind, sondern sie interessieren, sofern sie gerade diese sind, ihre Einmaligkeit interessiert. Aber diese Einmaligkeit wird bezogen auf einen – in sie hinein- oder über sie hinauswirkenden oder einen aus dieser Einmaligkeit selber erhebbaren – Zusammenhang, gelesen aus ihm, verstanden auf ihn hin. Daher hat auch die historische oder literaturwissenschaftliche Auslegung zur Voraussetzung die Verengung, will sagen die Abblendung anderer möglicher und sinnvoller Betrachtungsweisen desselben. Die Universalität eines historischen Faktums oder eines Textes ist ebenfalls anderer, aber vergleichbarer Art. Daß die Welt des Menschen – und erst im Menschen wird die Welt ganz Welt – bedingend und prägend hineinwirkt ins einzelne Ereignis, ins einzelne Kunstwerk und daß Ereignisse und Kunstwerke diese Welt wiederum prägen und bedingen, dies ist die universale Dimension der entsprechenden [115] Wissenschaften. Allgemeinheit heißt in ihnen nicht Allgemeingültigkeit eines Gesetzes, einer Formel, unter die alle Ereignisse und Kunstwerke zu subsumieren wären, sondern die Durchsichtigkeit und Nachprüfbarkeit der Methode, mit der das je Einmalige und Besondere in seinem historischen Kontext oder in seiner ästhetischen Bedeutung festgestellt und dargestellt werden kann.

Mit zwei Begriffen läßt sich demnach die Eigenart von Wissenschaft charakterisieren: mit dem scholastischen Begriff Formalobjekt und mit dem neuzeitlich gefärbten Begriff Methode. Wir machten bereits darauf aufmerksam, daß nicht die unmittelbar erfahrenden Vorgänge und Sachen der eigentliche Gegenstand der funktionalen Theorien, der Wissenschaften sind. Die Vorgänge und Sachen werden vielmehr unter einem bestimmten Blickwinkel thematisiert; „interessant“ ist an ihnen jeweils ein bestimmter Wirkzusammenhang, der in ihnen vorkommt, durch sie hindurchreicht, so aber über sie hinausreicht. Die unterscheidende Hinsicht der Beobachtung und damit auch des Sich-Zeigens nun heißt scholastisch Formalobjekt. Dieses Formalobjekt, in dem die einzelne Wissenschaft ihren Gegenstand erst gewinnt, bedingt ein je eigenes Vorgehen bei der Interpretation, eine je eigene Methode.

Es könnte nun scheinen, daß der Gang der Wissenschaften in sich ein spannungsloser Fortschritt, ein spannungsloses Weiterarbeiten im selben wäre. Äußerlich vermehren sich die zu untersuchenden Gegenstände, innerlich werden die Methoden verfeinert, die Ergebnisse erweitert und präzisiert. Der konkrete Gang der Wissenschaften zeigt ein anderes Bild. Ihre Dynamik lebt daraus, daß jedes Ergebnis nicht nur gesicherter Besitz, sondern auch Vorgriff ist. Eine naturwissenschaft-[116]liche Formel muß sich in jedem neuen Experiment, an jedem neu in Sicht tretenden Phänomen bewähren. Die Deutung eines geschichtlichen Ereignisses muß sich an neu erschlossenen Quellen, an neu entdeckten Kontexten bewähren. Eine wirtschaftswissenschaftliche Theorie muß sich in den Wechselfällen der ökonomischen Entwicklung bewähren. Wissenschaftliche Ergebnisse sind so dem Anspruch ausgesetzt, sich zur Disposition zu stellen angesichts der unabgeschlossenen, nie abschließbaren Erfahrung. Sie müssen alles in sich einholen oder sich durch das, was sie nicht einholen, selbst überholen lassen. Gerade der Drang zur Stringenz, zur Allgemeinheit, zur Objektivität hat, als seine Gegenseite, bei sich den Zwang, sich falsifizieren zu lassen. Der Korrekturvorgang ist für die Wissenschaften entscheidend. Korrektur geht aber in zweifacher Richtung: einmal im Rückgang auf die Voraussetzungen und Methoden, ihre Prüfung und je schärfere Reflexion, zum anderen im Vorgang einer produktiven Fantasie, die neue, umfassendere, treffendere Modelle entwirft und Hypothesen wagt, die sich an der Wirklichkeit zu Thesen erhärten können. Solche Korrektur ist die Antwort auf die Anfrage, die durch neue faktische Befunde und Daten aufgegeben ist. Produktive Fantasie ist auch dort, wo Altes nicht in Frage gestellt wird, die Triebfeder zu Neuem, der Vorschuß, der in Experiment und Reflexion sodann einzulösen ist.

b) Philosophie

Wir haben über Wissenschaft gehandelt, aber wir haben nicht eigentlich Wissenschaft betrieben. Wir haben ge-[117]fragt, was die einzelnen Wissenschaften zu Wissenschaften macht, und haben unterschiedliche Weisen von Wissenschaft in ihrem Zusammenhang zu sehen versucht. Ohne eine solche Überlegung fielen die Wissenschaften auseinander in eine Reihe, deren Verbindendes nicht sichtbar würde. Das, was die Wissenschaften miteinander verbindet, kann nicht wie eine Schnur sein, auf der sie gleich einzelnen Perlen aufgereiht würden; das Verbindende reicht in die Wissenschaften selber hinein, es macht sie unterscheidbar von Nicht-Wissenschaft. In den einzelnen Wissenschaften wirksam, kann dieses sie Verbindende und Konstituierende indessen nicht unmittelbar in ihnen reflektiert werden. Denn in der einzelnen Wissenschaft darf nichts vorkommen, was nicht geprägt ist durch das jeweilige Formalobjekt, durch die jeweilige Methode. Wissenschaftler handeln nur verantwortlich, wenn sie sich über ihr wissenschaftliches Tun Gedanken machen, über den Grund, den Sinn, die Einheit und den Unterschied der Wissenschaften. Solche Reflexion reicht aber über den Innenraum der einzelnen Wissenschaft hinaus. Wissenschaftslehre als Reflexion dessen, was Wissenschaft zu Wissenschaft macht, was alle Wissenschaften miteinander verbindet, was ihre Formalobjekte und Methoden voneinander unterscheidet und zugleich ihr gegenseitiges Verhältnis bestimmt, als Besinnung auf Möglichkeiten und Grenzen der Wissenschaft und der Wissenschaften, ist eine erste Funktion von Philosophie als fundamentaler Interpretation.

Philosophie kann so als Wissenschaft von den Wissenschaften und von der Wissenschaft gelten. Allerdings unterscheidet sie sich von den anderen Wissenschaften dadurch, daß sie ihren eigenen Grund, das Prinzip ihrer [118] Einheit nicht mehr an eine andere Instanz abgeben kann, sondern in sich selbst bedenken und verantworten muß.

Das leistet Philosophie aber nur, sofern sie mehr ist als bloße Wissenschaftslehre, als bloße Wissenschaftstheorie. Wollte sie nur Hilfswissenschaft der anderen Wissenschaften sein, die deren je eigenen Gang thematisiert, formalisiert, verallgemeinert, so wäre sie nicht grundsätzlich anderer Art als diese. Sie bliebe funktionale Interpretation in zweiter Potenz.

Philosophie lebt aber auch als Wissenschaftslehre von einer tiefer liegenden Frage, der Frage: Was ist das, Wissenschaft? Doch was ist so neu, was so anders an dieser Fragestellung?

Rücken wir einen Augenblick scheinbar von dieser Frage ab. Eine Brücke hat es zu tun mit der Statik, dem Verkehr, dem Handel und Städtebau, der Geschichte und Kunstgeschichte, mit Chemie und Physik. Aber sie ist nicht die Addition all dieser Hinsichten, nicht einmal die Addition aller nur möglichen Hinsichten auf sie. Die Brücke ist Brücke. Diese naive Feststellung geht aller Aufarbeitung der in ihr verflochtenen Wirkzusammenhänge durch funktionale Theorien, durch Wissenschaften voraus, aber sie behauptet auch am Ende noch ihren Überschuß. Solcher Überschuß ist das Element unserer unbefangenen Alltäglichkeit, das Element künstlerischen Gestaltens, aber auch das Element der Philosophie. Sie fragt nicht nur von der Unmittelbarkeit hinweg in die Wissenschaften hinein, sondern auch hinter die Wissenschaften in diese Unmittelbarkeit zurück. Die doppelte Frage des Kindes: Was ist das? und: Was ist eine Brücke? ist auch die Frage des Philosophen. Er achtet darauf, daß jene Fragen gefragt bleiben, die in der wissenschaftlichen Formalisierung keine Rolle mehr [119] spielen. Und das heißt zumal, er fragt danach, was etwas ist.

Um den Unterschied von den Wissenschaften deutlich zu machen: die Wissenschaften fragen danach, was etwas als Faktor oder Produkt eines bestimmten Wirkzusammenhanges sei. Sie verstehen die Dinge und Vorgänge von sie übergreifenden Fragerichtungen her. Die Philosophie fragt hingegen: Was ist etwas als es selbst? Was macht eine Brücke zur Brücke, was einen Menschen zum Menschen, was das Denken zum Denken? Auch philosophische Positionen, die solche Fragen als unsinnig abtun, befassen sich im Versuch des Nachweises der Unsinnigkeit mit ihnen, sie bestimmen sich durch ihre Antwort auf solche Fragen.

Was Wissenschaft zur Wissenschaft mache: diese Frage hat sich so als eine elementar andere gegenüber der Frage nach dem Funktionieren von Wissenschaft erwiesen. Umgekehrt stellen freilich die Wissenschaften, welche die Daten der menschlichen Welt und der Kultur als solche interpretieren, an unsere Unterscheidung zwischen funktionaler und fundamentaler Theorie die Frage, ob sie sich streng durchhalten lasse. Sofern der Mensch als Mensch und die Welt als Welt diesen Wissenschaften als Konstituentien ihrer Gegenstände gelten und in der Interpretation mitreflektiert werden, reicht in der Tat Philosophie in ihren Innenraum hinein. Wenn Literaturwissenschaft Hölderlin interpretiert, kann es legitim sein, daß etwa seine Rede vom Fehl der Götter nicht auf nur biographische und kulturhistorische Zusammenhänge und auf ihre poetische Funktion, sondern daß diese Aussage auch nach ihrem Sinn, nach ihrem Recht, nach ihrer Tiefe befragt wird. Im ersten Fall handelte es sich um eine rein funktionale, im zweiten Fall [120] auch um eine fundamentale Weise der Interpretation. Diese führt notwendig zum Gespräch mit philosophischen Interpretationen Hölderlins, wie z. B. durch Heidegger.

Etwas als es selbst interpretieren reißt für die Philosophie einen ganzen Horizont auf. Die unmittelbare, naive Frage nach der Sache selbst hat als ihren Hintergrund die Frage nach dem Sein, nach dem, was alles zu ihm selbst und zu nichts anderem macht. Die nächstliegende Frage schlägt so mit der scheinbar entlegensten in eins. Und diese schlägt zurück in die allernächste, in die des Denkens nach sich selbst, in die des Denkenden nach sich selbst: Was ist Denken als Denken, was bin ich als ich, was ist der Mensch? Diese Fragen lassen sich nicht trennen, sie enthalten einander, sie enthalten das Ganze.

Der Philosophie ist so das Ganze zu denken aufgegeben, und das verlangt von ihr: Einheit zu denken, jene Einheit, die alles umgreift. Einheit denken verlangt Einheit des Denkens, Konsistenz, Durchsichtigkeit. Das Denken muß sich auf jedem seiner Schritte vor sich selbst verantworten. Das Ganze denken verlangt aber nicht minder unabgeschlossene Offenheit – die Philosophie darf sich keinem Phänomen gegenüber zurückziehen, als ginge es sie nichts an. Sie darf sich keinem Anspruch verweigern, den sie nicht prüfte, einholte. Sie kann keine Denkweise sich selbst überlassen ohne den Versuch, sie mitzuvollziehen, sie von innen her zu erhellen.

Für die Methode der Philosophie hat dies die Konsequenz, daß sie einerseits am radikalsten Methode ist. Denn sie läßt ihren eigenen Anfang nicht außer sich, läßt keine Voraussetzung außer sich, die sie nicht ausdrücklich zu bedenken hätte. Andererseits ist sie am wenig-[121]sten Methode. Denn zu jedem neuen Gegenstand, zu jeder neuen Frage hat sie je neu den Zugang zu finden, nur so kann etwas als es selbst aufgehen.

Die Frage nach dem Sein ist die Bedingung für die Wahrheit der Philosophie. Diese Frage ist die allgemeinste, generellste, jene, die von allem Seienden, allem einzelnen hinwegführt. Und sie ist in einem die Frage, die zur Jeweiligkeit eines jeden, was ist, hinführt. Denn darum, was es selber, was es von sich her sei, geht es, wenn es darum geht, was etwas vom Sein her sei.

Man könnte Philosophie das transzendentale, will sagen grenzenlose, allumgreifende Mitspiel mit allen Spielen, mit den Grundspielen und ihrem Spiel, mit den Spielen des Interpretierens und Gestaltens nennen. Auch und gerade in diesem Spiel gilt: unbedingtes Interesse, unbedingter Einsatz, grenzenlose Übereinkunft und doch reine Gewärtigkeit dessen, daß sich zeigt, was ist und wie es ist, dessen, daß das Spiel gelingt, sind die Charaktere der Philosophie.

Wenn die Philosophie das Ganze zu bedenken hat, dann hat sie gerade die Grenze zwischen sich und ihrem anderen zu bedenken. Philosophie ist zwar total – oder sie ist nicht. Sie lebt davon, daß sie das Ganze zum Horizont hat und darum nie am Ende anlangt. Aber sie ist nicht dann total, wenn sie alles in sich auflöst, sondern wenn sie alles es selber sein läßt. Daher ist ihre vornehmste Aufgabe, ihr anderes als anderes zu bedenken.

Machen wir auf eine sechsfache Grenze der Philosophie aufmerksam. Indem sie diese Grenzen wahrt, ist indessen das Jenseits dieser Grenzen im Denken, in der Philosophie gewahrt und ist so der universale Anspruch der Philosophie gewahrt.

Das naive, unmittelbare Denken ist zwar der Raum, [122] in welchem Philosophie als Philosophie ansetzt. Aber indem Philosophie ihr zu Denkendes thematisiert und durchreflektiert, vermittelt sie die Unmittelbarkeit und hebt sie somit auf. Sähe Philosophie dies nicht, hielte sie sich selbst fürs naive und unmittelbare Denken, dann beraubte sie sich jenes Überschusses, jenes Mehr, das ihr immer neu zu denken gibt. Die Phänomene würden verfremdet zum Gemächt des Denkens.

Eine zweite Grenze markieren die Wissenschaften, markieren die funktionalen Theorien. Zwar werden sie begründet, reflektiert und geeint durch die Philosophie – aber Philosophie ist nicht nur das Mehr gegenüber den Wissenschaften, sondern die Wissenschaften sind auch ein Mehr gegenüber der Philosophie. Wer fundamental das Ganze verstanden hat, kann sich nicht davon dispensieren, auch funktional, in seinen faktischen Zusammenhängen, das Einzelne zu verstehen. Die Philosophie muß Daten auch von der Wissenschaft entgegennehmen, darf sie nicht durch Spekulationen ersetzen.

Als fundamentales Interpretieren muß Philosophie auch die Andersheit des Gestaltens anerkennen. Sowenig es Praxis ohne Theorie gibt, sosehr Theorien, gerade fundamentale, die Sicht des Ganzen und somit das Ganze verändern, so wenig ist doch fundamentale Theorie schon Praxis. Einsehen, was zu tun ist, und Tun sind zweierlei. Und Tun ist immer mehr als bloße Konsequenz der Erkenntnis. Ja, Tun stellt als Tun der Erkenntnis je neue Aufgaben und eröffnet ihr je neue Perspektiven. Wenn die Philosophie sich fürs Gestalten hielte, könnte sie das Gestalten gerade nicht verstehen.

Das Eigenste der Philosophie ist das Sein. Das Sein ist ihr aber nur zu eigen, indem sie es als ihr anderes sein läßt, als ihre Grenze anerkennt. Die Grundfrage heißt: [123] Was ist? Doch sie meint: Was ist etwas von sich selber her? Wie kommt es ins Denken als nicht nur Ausgedachtes, vielmehr als eines, das sich zu denken gibt? Nur indem Denken sich vom Sein empfängt und indem Denken Sein aus sich vollbringt, nur in der Unterscheidung also gelingt die Einung von Sein und Denken.

Noch mehr der Unterscheidung, noch mehr des Gehorsams bedarf das Denken angesichts des Heiligen. Das Denken vermag nicht aus sich selbst das Sein, aber es ist angelegt aufs Sein. Der Bezug zum Sein gehört so sehr in seine Konstitution, daß sie als solche bereits Zeugnis vom Sein gibt. Denken ist in seiner Frage nach dem Sein unmittelbar bereits Zeugnis von Sein. Anders mit dem Heiligen. Wenn Denken Sein nicht denkt, so denkt es nicht. Wenn Denken Heiliges nicht denkt, so kann es gleichwohl Denken sein. Nicht daß das Heilige „schwächer“ wäre als das Sein. Aber es ist so sehr Ereignis, daß es im Aufgang sich sein Organ erst schafft. Wenn das Heilige aufgeht, kann Denken erkennen, daß es ihm schon immer ums Heilige ging. Daß Heiliges ihm aufgeht, kann es von sich her nicht ausmachen. Das Heilige wird so zum Ärgernis des Denkens und zu seiner Herausforderung. Daß es etwas geben kann, was seine Spuren nicht im Denken vorzeichnet, demütigt das Denken. Daß Denken auch jenem begegnen kann, das es nicht von sich aus zu entwerfen vermag, dies hebt Denken über sich hinaus und setzt es so gerade in sein grenzenloses Maß ein.

Eine letzte Grenze des Denkens tritt hiermit schon in Sicht: die Offenbarung. Worte, zeichenhafte Ereignisse, zuhöchst die Geschichte eines Menschenlebens, die im Horizont des Denkens, unter den Bedingungen der Erfahrung, in den Möglichkeiten der Philosophie also in-[124]nestehen, erheben einen ungeheuerlichen Anspruch. Den Anspruch, ihren Ursprung nicht im Innenraum des Ganzen zu haben, nicht nur Verweis über diesen Innenraum hinaus zu sein, sondern ihren Ursprung im Innenraum des unbedingt entzogenen Anderen, des heiligen Gottes zu haben, seine Selbstmitteilung, ja seine unmittelbare Gegenwart zu sein. Etwas, was zu ihr gehört, etwas, was sie nicht zur Disposition stellen kann, ist hier beschlagnahmt von einem anderen, einem unbedingten Anspruch, der so ihr eigenstes Recht einschränkt. Philosophie wird hier als die letzte Instanz entmachtet. Ihr Rang, sich selbst vor sich selbst letzte Rechenschaft zu geben, wird ihr strittig gemacht. Doch zugleich geschieht das genaue Gegenteil. Wenn das Denken bereit ist zu fragen, was Offenbarung von sich selber her sagt, dann erfährt es: Der unbedingte, entzogene Ursprung gibt sich selbst hinein in den Raum menschlichen Denkens und Daseins. Er liefert sich aus, stellt sich unter die Bedingungen, über denen er steht, um sich ganz zu geben und so den Menschen und sein Denken neu zu sich einzusetzen.

Das Denken wird dazu eingesetzt, von diesem Ereignis der Offenbarung aus alles und sich selbst neu zu verstehen, in neuem Licht zu sehen. Es erkennt, daß es selbst, von Anfang an, dazu offen ist, den Anspruch zu verstehen, der es schlechterdings übersteigt. Und im Ruf, sich der Souveränität des sich offenbarenden Gottes bedingungslos zu überlassen, kommt ihm der Auftrag zu, aus seinen Möglichkeiten und in seinem Medium je neu und unabschließbar das einmal geoffenbarte Wort auszulegen, zu übersetzen.

Man könnte also sagen: Offenbarung und in der Folge Theologie haben keine philosophischen Voraussetzun-[125]gen; sie fangen mit dem Wort Gottes und mit dem Licht an, das dieses Wort gibt. Aber gerade dies ist ein philosophisch bedeutsamer Sachverhalt. Er sagt nämlich aus, daß Denken offen ist über seine letzte Grenze hinaus, offen zu dem, was es gerade nicht vermag. Umgekehrt gilt auch: Offenbarung und Theologie haben philosophische Voraussetzungen. Sie können sich nur im Medium des Denkens und der Sprache verständlich machen und beim Menschen ankommen. Aber gerade dies ist ein theologisch bedeutsamer Sachverhalt. Er sagt nämlich aus, bis wohin sich in seiner Offenbarung Gott gegeben, sich Gott entäußert, sich Gott dem Menschen und dem Denken anvertraut hat.